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Irak und Syrien: Architekturführer und Wiederaufbauhilfe

Architekturbegeisterte finden die wichtigsten Sehenswürdigkeiten, NGOs und Politik wertvolles Wissen für den Wiederaufbau: über historische Bauweisen, Städtebautraditionen sowie Verwaltungs- und Planungsprozesse

Von Fabian Thiel

Im Vorwort zu ihrem jüngst bei DOM publishers erschienenen Architekturführer Irak/Syrien fragen die Herausgeberinnen Lore Mühlbauer und Yasser Shretah (beides Architekten) etwas resigniert, ob zerstörte Bauten und Orte einen Besuch nun überflüssig machen und wem eigentlich diese in dem Buch gelieferten Berichte nützen sollen, unabhängig davon, ob von der Zerstörung unzensiert berichtet werden kann (S.8).

Vom Mosaik zum Gesamtbild

Aus Sicht des Rezensenten, der sich derzeit theoretisch und auch praktisch an grundstücksbezogenen Recovery-Projekten im Bereich Recht, Architektur und Digitalisierung/Geodatenmanagement in Syrien beteiligt, kann gleich zu Anfang festgestellt werden: Das „tastend und vorsichtig auf unterschiedlichen Quellen vertrauende“ Mosaik, das hier vor uns liegt, hat nicht nur einen hohen architekturtheoretischen Wert, sondern kann als reichhaltig sprudelnde Informationsquelle für identitätsstiftende Projekte in diesen Ländern verwendet werden.

Dies gilt umso mehr, als sich die Herausgeber aus siedlungshistorischen und ethnologischen Gründen entschieden haben, beide Länder im Zweistromland zusammen zu betrachten. Dies ist auch vollumfänglich sinnvoll und gelungen.

Innenhof einer Moschee
Umayyaden-Moschee in Aleppo vor der Zerstörung, 2008. © Issam Hajjar

Städte, Materialien, verbindende Themen

In neun Hauptkapiteln wird ein anspruchsvolles und äußerst interessant bebildertes Mosaik gelegt. Zunächst wird der Irak in den Kapiteln 1 bis 4 behandelt: Basra, Bagdad, Erbil und Mossul. Kapitel 5 und 6 widmen sich speziell Aleppo und Damaskus. Abschnitt 7 geht auf „historische Orte“ ein, am Beispiel von Babylon und Palmyra (Beitrag Daniel Lohmann). Kapitel 8 stellt (historische, gegenwärtig wiederentdeckte?) Baumaterialien wie Ziegel oder Lehm, etwa als Material für Kuppeln,  vor. Abschnitt 9 schließlich dreht sich um räumliche und thematische Verbindungen: die Bagdadbahn, Wasserläufe, Bäder und der Themenkomplex Städtebau und Flüchtlinge.

Innensichten: Verwaltung und Investoren

Hier können und sollen nur wenige Abschnitte besonders hervorgehoben werden. Interessant sind stets die „Innensichten“ auf Stadtverwaltung und Investorenverhalten etwa in Erbil, Mossul und Aleppo. In Erbil ist die Stadtverwaltung schwach; die durch Flächensanierung und Flächenzusammenlegung (Arrondierung) freiwerdenden Grundstücke werden perspektivisch möglicherweise Einkaufsmalls weichen (S. 129). Die Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) betreut ein interessantes Projekt in Mossul, in dem es u.a. um die Klärung von Eigentumsrechten und um innovative Bauprojekte wie etwa mobile Krankenhäuser aus umgenutzten Schiffscontainern geht (S. 143).

Altstadt von Mossul

Sehr lesenswert ist der Beitrag „Zerstörung der Altstadt Mossuls (2014-2017)“ von Giovanni Antonelli. Er beschreibt kritisch und informativ die Techniken der Eintragung des Grades der Kriegszerstörung und die Probleme eines internationalen Wettbewerbs (Beispiel: Vergabedurchführung, städtebaulicher Wettbewerb und Planung des Al-Nouri-Komplexes), der ein fehlendes Verständnis der Beitragseinreicher für Mossuls Bautypologien offenbarte; zudem weist der Autor auf die Zusammenarbeit von lokalen Akteuren, UN-Habitat und UNESCO hin (S. 145-157). Am Ende des Beitrags präsentiert Antonelli zehn wichtige Thesen, die durchaus programmleitend auch für Projekte in Syrien (v.a. für die Altstadt von Aleppo) wichtig werden können.

Revitalisierung planen

Auf einige Aspekte – informelle Siedlungsbildung in den 1970er Jahren, Grundstücksparzellierung und heutige Legalisierung in Form der privaten Grundstückseigentumsbildung (sinnvoll?) der informellen Siedlungen – geht Fatina Kurdi in ihrem Beitrag „Aleppo – eine Stadt mit vielen Gesichtern“ ein (S. 186-189).

Weitgehend unbekannt ist, dass im Krieg zwar die Hauptstadt Damaskus relativ stabil blieb, dass aber die Vororte teilweise komplett zerstört wurden. Von wichtiger Bedeutung für grundstücksbezogene Revitalisierungsprojekte und planerische Ansätze sind zudem die Khans in Damaskus (Beitrag Yasser Shretah, S. 217-219) und die Ghouta ebenfalls in Damaskus (Beitrag Lulu Dombois/Azadeh Rahnama, S. 220-223), die beide wichtige sozial-ökonomische und ökologische Freiraumfunktionen übernehmen. Der Khan ist ein Ort für Handel und Warenaustausch aber auch Treffpunkt und Gemeinschaftsraum. Die Ghouta ist eine durch besondere hydrologische Verhältnisse begünstigte fruchtbare Ebene und Bewässerungsoase mit Zitronen- und Olivenbäumen, die nicht selten aufgrund ihrer reizvollen landschaftlichen Lage Wohnungsbauten weichen müssen.

Ziegeltradition im Irak

Abschließend soll auf den wunderbaren Beitrag „Baustoff Ziegel im Irak“ von Wolfgang Leistritz und Lore Mühlbauer hingewiesen werden (S. 295-303). Die Autoren beschreiben Historie, Bedeutung und Gegenwart des Baustoffs Ziegel. Leistritz steuert zudem beeindruckendes historisches Fotomaterial aus den 1970er Jahren aus der Zeit seines Aufenthalts und Montage einer kompletten Ziegelei „30. Juli“ in Bagdad bei.

Mehr als ein touristischer Architekturführer

Durch die Kombination von baugeschichtlichen, bautechnischen, architektonischen, planerischen, sozialen und landmanagement-bezogenen Themen ist die vorliegende Publikation weit mehr als ein „bloßer“ Architekturführer. Literaturhinweise runden die Einzelkapitel ab. Natürlich kann das Buch auch als Reiseführer und Grundlage bei akademischen oder „nur“ touristischen Exkursionen in den Irak und nach Syrien benutzt werden, die hoffentlich dereinst unkomplizierter und ungefährlicher realisiert werden können.

Pflichtlektüre für Fachwelt, NGOs und Politik

Die Publikation gehört aber vor allem auf den Schreibtisch nationaler und internationaler Hilfsorganisationen, NGOs und von Architekturbüros und Bauunternehmen, die sich in Wettbewerben um (Wiederaufbau-)Projekte in Syrien und im Irak bemühen. Denn nur für die nichteingeweihte Fachwelt schien – und scheint – es nach wie vor so, als habe die Diskussion um sinnvolle und kulturell angepasste Wiederaufbaustrategien für Syrien – dies gilt erst recht für den Irak – angesichts der Berichterstattung des Krieges in der Ukraine derzeit an Aufmerksamkeit verloren.

Pläne für den Wiederaufbau

Tatsächlich aber initiierte das Auswärtige Amt bereits im Jahr 2017 die Plattform „Urbanes Kulturerbe in Konfliktregionen“ für den fachlichen Austausch mit verschiedenen deutschen und internationalen Institutionen und Akteurinnen aus Zivilgesellschaft und Privatwirtschaft, um Strategien für den Wiederaufbau etwa von Aleppo zu entwickeln.

Darüber hinaus arbeitete eine von der GIZ eingerichtete Arbeitsgruppe „Rechtlicher Rahmen“ an den folgenden Hauptthemen, um eine Art Werkzeugkasten für den Wiederaufbau in Konfliktregionen zu entwerfen (darauf geht indessen kein Beitrag explizit ein). Auch Vertreter der Bundesregierung sollten das graphisch sorgfältig gestaltete Buch aufmerksam studieren. Denn im Koalitionsvertrag von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP werden den Wiederaufbauplänen für Syrien prominenter Raum eingeräumt. Im Vertrag heißt es unter anderem: „Wir werden die geordneten Verfahren des Resettlement anhand der vom UNHCR gemeldeten Bedarfe verstärken.“

UN-HABITAT schließlich hat einen umfassenden „Urban Recovery Framework“ (URF) erarbeitet, der auf sieben thematischen Säulen („Pillars“) beruht und gegenwärtig in verschiedenen syrischen Städten zur Begleitung der baulichen und infrastrukturellen Wiederherstellung eingesetzt werden soll. All diese Organisationen können und sollten von der Expertise des Buches intensiv Gebrauch machen!

Gesamtfazit: von internationalem Format

Die vorliegende handliche Publikation von Mühlbauer/Shretah verschafft den Leitlinien der „Recovery“-Maßnahmen, in Syrien und im Irak die dringend gebotene Aufmerksamkeit. Eine englischsprachige Fassung der Veröffentlichung ist perspektivisch unbedingt anzuraten – wie auch ein gründliche(re)s Lektorat (in einer 2., durchgesehenen und somit verbesserten Auflage?), das möglicherweise einige grammatikalische Fehler verhindert hätte. Aber das ist natürlich nicht vorrangig den Autorinnen und Herausgebern anzulasten und schmälert Informationsgehalt und Aussagekraft des Buches nicht wesentlich.

Prof. Dr. habil. Fabian Thiel ist Professor für Immobilienbewertung an der Frankfurt University of Applied Sciences

Cover Architekturführer irak Syrien

 

 

Lore Mühlbauer, Yasser Shretah (Hg.)
Architekturführer Irak/Syrien
DOM publishers, 2022
368 Seiten, 38 EUR

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