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[ Schwerpunkt: Neu ]

Dogmenwechsel: gut statt neu!

Das Dogma der „Zeitgenossenschaft“ führt zu einem ständigen Neuheitenzwang. Aber Häuser sollen 100 Jahre lang gefallen, statt zehn Tage lang modisch aktuell und danach ein Ärgernis zu sein

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Kontext sehen: Im Widerspruch zu Rem ­Koolhaas‘ Ignoranz-Parole „Fuck Context“ soll sich Nöfers Kreuzberger Gesundheitszentrum selbstverständlich in seine von Altbauten geprägte Umgebung einfügen.

Text: Tobias Nöfer

Der Aufbruch „in eine neue Zeit“ durch die architektonische Moderne ist nun bald hundert Jahre alt. Doch bis in unsere Zeit hinein hat sich ein seitdem entwickeltes Dogma gehalten: Neuer Architektur muss man ansehen, dass sie neu ist. Auf diese Weise soll sie uns und vor allem den künftigen Generationen ein gebautes Zeugnis unserer Zeit überliefern. Wer das als Entwerfer unterlässt, vertut angeblich die Chance, der Gegenwart und Zukunft ein Dokument unserer Zeit zu schenken. Schlimmer noch: Er suggeriert womöglich eine andere Entstehungszeit und täuscht damit das Publikum.

Nach dem Dogma zu handeln, erzwingt jedoch einen Spagat: Wer die Entstehungszeit eines Baus an ihm kenntlich machen will, muss einerseits bestehende und bekannte Gestaltungsprinzipien jener Zeit aufgreifen – sonst können spätere Generationen den Bau nur noch schwer zuordnen. Andererseits entwickelt sich das Leben ständig weiter. Wer das Neue aufnehmen will, muss gegen die konventionelle Zeitgenossenschaft verstoßen und eine neue Form kreieren. Es besteht also ein Widerspruch zwischen dem Wunsch nach konventioneller Zeitgenossenschaft und dem Wunsch nach ästhetischer Innovation. Diesen Widerspruch sieht man vielen Gebäuden schmerzhaft an.

Etwas anderes bereitet noch mehr Schmerz: Solche Gebäude verzichten bemüht auf alles, was den Verdacht der Gestrigkeit erwecken könnte – und seien es so praktische Dinge wie hohe Fensterbrüstungen als Sichtschutz für die Menschen im Haus oder Schrägdächer und Traufüberstände im feuchten mitteleuropäischen Klima. Stattdessen setzen die Gestalter bemüht und beflissen das ein, was sie für die Zeichen der Zeit halten. Asymmetrisch platzierte, mehr oder minder frei über die Fassade verteilte Fenster – jeder sieht: Hier ist ein Künstler am Werk –, alternativ der existenzialistische Schuhkarton mit weniger als ­keinem Detail.

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Auch das Ärztehaus in Berlin-Mitte soll der Ecke dienen, nicht die Ecke dem Bau.

Oder es wird unter dem Motto „Anmut und Askese“ dem Material die gesamte gestalterische Last übergeholfen. Wenn das Material es dann nach einiger Zeit nicht mehr hergibt, ist der Künstler längst weitergezogen. Auch willkürlich vorspringende Erker sind Zeichen des N­euen. Weil das aber auch viele andere ­machen, braucht es immer willkürlichere Erkerbilder, wildere Materialkombinationen oder einen spektakulär geformten Baukörper. „Dekonstruiert“ nannte man das, „Raw“ nennt man das und „Dizzy-Style“ wird man das vielleicht nennen.

Wer dem erwähnten Dogma folgt, ist also drei Zwängen unterworfen: Das Haus darf nicht alt wirken, es soll neu-vertraut daherkommen, also der gerade etablierten Mode gehorchen, und es sollte auch noch ein bisschen unorthodox und innovativ sein. Es ist zwar nicht ausgeschlossen, dass selbst unter solchen Maximen gute Architektur herauskommt. Es ist aber ziemlich unwahrscheinlich. Wahrscheinlichstes und in unseren Städten vielfach sichtbares Ergebnis ist eine vorprogrammierte Widersprüchlichkeit und Disharmonie. Oft trägt ein einzelnes Gebäude solche Störungen in sich; noch öfter treten sie zwischen benachbarten Gebäuden auf.

Natürlich ist es eine sehr alte und sehr ehrenwerte Aufgabe, mit der Gestaltung von Gebäuden Botschaften über ihre Entstehungszeit und ihren Geist zu vermitteln. Aber diese Aufgabe blieb lange Zeit den besonderen Gebäuden vorbehalten – Kirchen, Palästen, Bahnhöfen, Monumenten, den Dominanten der wichtigsten Plätze und Straßen. Deren Ausdrucksstärke lag ihn ihnen selbst, aber auch im Kontrast zu den Alltagsbauten der Umgebung. Jeder Kirche will den weltlichen Gebäudekontext brechen, nicht aufnehmen.

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Kontext schaffen: Viel Brache prägt das Areal, für das Nöfer die Wohntürme „Max und Moritz“ entworfen hat. Sockel bilden Stadträume, Querbänder leiten Wind ab und die Loggienform optimiert Wohnungsgrundrisse.

Seit diese Aufgabe auch den Alltagsbauten übertragen wurde, begeben diese sich in einen Wettbewerb, der alle anstrengt und den meist keiner gewinnt: Jedes Haus will seinen Zeitgeist treffender, oft auch elitär-verrätselter und gestalterisch origineller ausdrücken als das andere. Das führt zu Überbietungswettbewerben der Unkonventionalität, die systematisch jede Konvention zerstört. Zugleich schwächt sie die Wirkung der Ausnahmebauten ab, die heute oft aus der Kultur, ab und zu auch der Wirtschaft, Wissenschaft oder des Verkehrs kommen. Damit verlieren die Botschaften vom Zeitgenössischen an Eindeutigkeit und Eindringlichkeit. Das sklavische Befolgen des Dogmas führt nicht zum Ziel, sondern gerade davon weg.

Krampf per Kristallkugel

Noch etwas schlimmer wird alles, wenn das Gebäude nicht nur vom jeweiligen Heute erzählen, sondern gleich noch vom Morgen künden soll – „Avantgarde“ heißt das dann. Dann soll das Haus außer Hülle auch noch Kristallkugel sein. Das gestalterische Bemühen wird noch krampfhafter. Und je lauter ein Bau betonen will, dass er schon heute ein bisschen von morgen sei, desto sicherer ist: Morgen wird er hoffnungslos von gestern sein.

So fragwürdig dogmatischer Fortschrittszwang ist, so falsch wäre aber auch eine konservative Haltung als Selbstzweck. Fragwürdig ist das Neue nicht, weil es neu ist – sondern wenn es Selbstzweck ist. Technische Neuerungen sind oft nützlich (wenn auch längst nicht immer). Gestalterische Neuerungen haben für Alltagsbauten dann Sinn, wenn sie sich aus neuen Funktionen ergeben, aus geeigneten Materialien oder aus technischen Verbesserungen. Aber in der Ästhetik gibt es keinen Fortschritt im Sinne einer Linie vom Schlechteren zum Besseren. Dass es sie gebe, behaupten ja nicht einmal die leidenschaftlichsten Verfechter des immer Neuen.

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Gestaltung für alle: Tobias Nöfer warnt vor dem „Verkommen der Architektur zu ei­ner Kunst, die nur noch der Au­tor ver­steht“.

Bauwerke für Alltagsaufgaben sind in erster Linie Gebrauchsgüter. Die gestalterische Herausforderung für ihren Entwurf ist scheinbar unambitioniert, tatsächlich aber anspruchsvoller als Zeitgenossenschaft und Neuheitsdrang: Das Gebäude soll für lange Zeit und auf eine selbstverständlich wirkende Art gefallen. Wir sollten uns und den Zeitgenossen der nächsten 50 oder besser 100 Jahre etwas geben, was ihnen diesen Alltag auf unspektakuläre Weise angenehmer macht.

Dafür hat die Architektur über die Jahrhunderte unendlich viele Mittel entwickelt; dafür gibt es vertraute Formen verschiedenster Art, die wir aufgreifen können. Es sollte uns dabei egal sein, wann diese Formen zum ersten Mal in die Welt kamen: Wenn sie gut sind, können wir auch mit einer gestern entwickelten Form heute gute Architektur für morgen machen.

Das angeblich Unzeitgemäße ist daher zulässig, und das sogenannte Zeitgenössische ist kein Muss. Es ist wichtiger, dass ein Haus ansehnlich, in den Kontext eingepasst und „gut gekleidet“ daherkommt, als dass dieses Haus in künftigen Jahren ruft: „Ich bin von 2015 und war damals Avantgarde!“ Vor einem Neubau, den ich entworfen hatte, stritten sich einmal zwei Damen: Ist dieses Haus neu oder stand es „schon immer“ da? Es hat mich sehr gefreut, dass sie beides für möglich hielten. Und dass sie genauer hinschauten, um die Frage zu klären. Sie hätten wohl kaum debattiert und genau hingesehen, wenn das Haus seinen Neuheiten-Charakter plump und direkt auf die Straße geschrien hätte.

Es ist scheinbar einfach, nichts Neues zu erfinden. Man greift den Kontext auf und fertig. Aber wer das glaubt, hat es nie versucht. Denn gerade das bedeutet eine lange und zähe Arbeit. Jedes gestalterische Mittel will seinem Zweck entsprechend eingesetzt sein, alle miteinander brauchen sie Stimmigkeit und Harmonie. Das verlangt eine gründliche Durchdringung und ein vielfaches Ausprobieren.

Es ist aufwendiger und anspruchsvoller, auf der Basis von Bekanntem etwas Gutes zu machen, als nur um der Neuheit willen dem Gebäude irgendetwas neu Wirkendes zu applizieren. Wie in vielen Künsten und Handwerken gilt auch hier: Gerade was wie selbstverständlich wirken soll und wie natürlich aus der Bauaufgabe abgeleitet aussieht, muss besonders hart erarbeitet werden. Das erfordert Kraft und Konzentration. Diese sollen und müssen wir nicht darauf verschwenden, ein im Moment des Entstehens zwanghaft neu wirkendes Objekt zu liefern.

Tobias Nöfer ist Architekt in Berlin.

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8 Gedanken zu „Dogmenwechsel: gut statt neu!

  1. Vielen Dank, den Kollegen, für dieses ausgezeichnete Themenheft und Herrn Nöfer für den sehr positiven Beitrag zur aktuellen städtebaulichen Diskussion.

    Es ist hier ganz deutlich ein Paradigmenwechsel festzustellen, nach bitteren Jahren der Gestaltsvergessenheit. Das nichtkontextuelle Bauen, so mancher Kollegen, gefährdete zunehmend die Reputation der Architekten in der Öffentlichkeit. Ein phantasievoller Umgang mit der Fassade und Sensibilität zur Nachbarschaft wie in den gezeigten Projekten, hilft uns dabei unsere Mitbürger wieder mit Neubauvorhaben zu versöhnen.

    Die Gesellschaft braucht heute wieder mehr Gemeinschaftssinn und wir Architekten sollten uns hier als Vorbild verstehen. Wir sollten uns mit unseren Häusern in das Gesamtbild einer gewachsenen Stadt oder eines Viertels harmonisch einfügen und so das gedeihliche Zusammenleben fördern.

    Dabei steht uns das gestalterische Repertoir der gesamten Baugeschichte zur Verfügung und nicht nur der wenigen Nachkriegsjahrzehnte. Erinnern wir uns welch hohes Ansehen die Architekten in der Gesellschaft genossen, als sie noch dem Konsens eine bauliche Gestalt gaben. Und wie lange deren Werke geschätzt und geschützt werden.

    Helm Andreas Heigl, Studio Di Monaco – Architekten & Berater

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  2. … und schon wieder einer dieser Beiträge, die unverhohlen sich dem Altern verpflichtet fühlen. Ein vom Manufaktum-Dogma („Es gibt sie noch, die guten Dinge“) geprägtes Denken und ein offen zur Schau getragenes tiefes Misstrauen gegenüber dem Neuen. Pauschal wird eine moderne Architektur als dilettantisch desavouiert – gut ist offensichtlich eine Architektur, die ihr Baujahr nicht erkennen lässt. Ein groteskes Missverständnis, wenn behauptet wird, es gäbe eine auf Unendlichkeit angelegte Ästhetik, eine Architektur, die ohne jede diskursive Irritation Jahrhunderte überdauern kann. Jede Bauepoche hatte ihre Innovation und schuf sich neue Grundlagen, die sich vorsätzlich vom Alten löste, provozieren wollte und in den meisten Fällen Neues, Gutes schuf. So löste das Neue Bauen zu Beginn des 20 Jahrhunderts mit völlig neuen Regeln die wirr überzogene Ästhetik von Gründerzeit und Jugendstil ab. Etwas Neues entstand und prägte über Jahrzehnte hinweg die Architektur.

    In Bausch und Bogen wird ein Engagement abgeurteilt, wenn ein „im Moment des Entstehens zwanghaft neu wirkendes Objekt“ geliefert werden muss. Ohne Zweifel ist eine sorgfältige Entwurfsarbeit unumgänglich. Diese muss aber nicht zwangsläufig – und das ist der fatale Tenor dieses Beitrages – sich an „bewährten“ und „gestern entwickelten Formen“ orientieren – offensichtlich kann das, was gestern gut war, heute nicht schlecht sein. Eine strunz-biedere Attitüde, die den so gebauten Städte eine Aura von Unvergänglichkeit verleihen soll. Sie übersieht dabei, dass bisher jede Epoche den Ehrgeiz hatte, kontinuierlich auf über Jahrhunderte entwickelten Grundlagen aufzubauen. So entsteht ein zivilisatorischer Gewinn. Mit dem unkreativen und auch hilflos wirkenden Verweis auf „das, was mal gut war“ wird sich keine Kultur – und auch keine Baukultur – weiterentwickeln können. Warten wir auf neue Provokateure…

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  3. Ich gebe Tobias Nöfer zutiefst recht in seiner Ablehnung des Neuen als Attitude, als Aushängeschild eines vor allem auf das Urteil der Kollegenschaft schielenden Fortschritts-Gehabes. Das soll ja nicht heißen, dass Architektur auf der Stelle treten und sich auf dem Bewährten ausruhen soll. Es gibt immer auf dem Feld des Bauens unendlich viel zu verbessern; entscheidend ist, dass Fortschrittsimpulse das Funktionale mit dem Ästhetischen innig verbinden. Ein innovatives Element im Fassadenaufbau kann die Ausdruckskraft des Gebäudes steigern, noch besser ist es, wenn das innovative Element zugleich als Resultat einer tiefer durchdrungenen und verfeinerten Zweckmäßigkeit zu erahnen ist. Oberflächlich wirkende bloße Abweichungen vom Gewohnten, provozierendes Anders-Machen erfüllen diesen Anspruch natürlich nicht.

    Indessen frage ich mich, wo diese Zukunftshaltigkeit nur vorspiegelnden Machenschaften überhaupt in Masse zu besichtigen sind; im Architektur-Alltag, in der deutschlandweit sich erstreckenden Architektur-Provinz ganz bestimmt nicht. Hier herrscht doch seit Jahrzehnten deprimierendes Bauhaus-Epigonentum, und die Frage, ob Innovationen erwünscht sind oder nicht, geht hier völlig am Problem vorbei. Wir wünschen weder Bauhaus-Historismus noch grob-funktionale Nachkriegs-Stangenware noch oberflächlichen Avantgardismus – entscheidend ist, dass deutsche Architektur endlich wieder in ihrem Breitenschaffen zu Qualitätsanspruch und Ausdruckskraft zurückfindet; wie „neu“ oder „bewährt“ die dabei eingesetzten Gestaltelemente sind, ist eine zweitrangige Frage.

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  4. Ganz Berlin ist besetzt. Heerscharen dogmatisch modernistischer Architekten verschandeln die Stadt durch Gebäude mit asymmetrischen Fassaden, willkürlich vorspringenden Erkern, wilden Materialkombinationen und spektakulär geformten Baukörpern oder existentialistische Schuhkartons und zerstören damit systematisch jede Konvention. Ganz Berlin ist besetzt? Nein, ein kleines unbeugsames Architekturbüro in Berlin-Wilmersdorf unter der Führung von Tobias Nöfer leistet Widerstand.

    Seine Architektur ist geprägt von traditionellen Stilelementen: Schneeweiße Fassaden mit Rundbögen, Gesimsen, Säulen und Pilastern und den obligatorischen hochglanzpolierten und witterungsbeständig beschichteten Klingeltableaus aus Messing. Eine gewöhnliche Straßenkreuzung im sozial bodenständigen Berlin-Wedding garniert er mit einer massiven Granitsäule, im Prenzlauer Berg baut er in unmittelbarer Nachbarschaft einer DDR-Plattenbausiedlung und eines als Krankenhaus genutzten Backsteinbaus aus wilhelminischer Zeit eine Mischung aus Townhouses und britischem Crescent. Dieser „Prenzlauer Bogen“ wendet seiner Umgebung jedoch fast demonstrativ den Rücken zu und lässt kein Missverständnis aufkommen, dass seine wohlhabenden Bewohner mit ihrer Umgebung so wenig wie möglich zu tun haben wollen – vorsichtshalber wird dies zusätzlich durch einen Zaun abgesichert. Wie sich das mit Nöfers Anspruch auf eine kontextbezogene Architektur verträgt, erschließt sich jedoch nicht.

    Nöfers Architektur wirkt wie eine Stein gewordene Sehnsucht nach einer imaginierten idealen Vergangenheit, in der die Welt noch in Ordnung und die Verhältnisse noch klar und übersichtlich waren. Er bedient sich Stilelementen aus dem Musterkoffer des Historismus und baut in einem Retro-Style, der gerade gefragt und marktgängig ist, oft genug aber nur wie die Kulisse für eine Rosamunde Pilcher-Verfilmung aussieht. Offenbar gibt es eine Klientel der Besserverdienenden, die sich ihres sozialen Status‘ bewusst ist und diesen auch gerne an ihren Behausungen zeigt. Dagegen ist nichts zu sagen. Warum man dafür eine Ästhetik heranziehen muss, die aus einer Zeit stammt, in der die gesellschaftlichen Verhältnisse noch ganz andere waren, und warum man sich dabei der Insignien der damals tatsächlichen oder selbstgefühlten Elite bedient, lässt sich nur erahnen.

    All das macht aber eigentlich nichts, denn in unseren pluralistischen Gesellschaft darf sich jeder selbst darstellen, wie er will. Ein paar gefühlte Großbürger und Aristokraten fallen da kaum auf. Was Tobias Nöfers Traktat aber ärgerlich macht, ist, dass er Frontverläufe aufzeichnet, die es wohl nur in seiner Wahrnehmung gibt. Er beschwört eine Polarisierung herauf zwischen Alt und Neu, zwischen Tradition und Moderne, zwischen Kontextbezug und Beliebigkeit. Postmoderne, Kritische Rekonstruktion, behutsame Sanierung, Planwerk Innenstadt und das sehr disziplinierte und kontextbezogene Bauen im Berlin seit den 1990er Jahren – das alles scheint es für ihn nicht zu geben. Stattdessen fühlt er sich umzingelt von Barbaren, die mutwillig die Baukultur zerstören, und dazu berufen, sich selbst als Gralshüter des Schönes, Wahren und Guten und damit als Retter der Baukunst darzustellen und ersetzt ein vermeintliches Dogma durch ein anderes.

    Damit schafft er klare Verhältnisse: Historisierende Architektur à la Tobias Nöfer ist gut, alle andere Architektur hingegen ist Teufelswerk. Man hatte sich fast schon daran gewöhnt, dass nach Mauerfall, Sturz der sozialistischen Diktaturen, Verschwinden der Ideologien und der damit einhergehenden Entwicklung in Richtung einer pluralistischen, liberalen und offenen Gesellschaft die alten Frontverläufe aufweichten, was sich auch in einer entsprechend vielfältigen Architektur zeigt. Mancher mag das begrüßen, manch anderen eher verwirren. Und manche Menschen brauchen offenbar einfach nur ein klares Feindbild.

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  5. Vielen Dank für die beiden kritischen Artikel zur zeitgenössischen Architektur. Endlich wird im Architektenblatt auch einmal eine andere Sicht auf gute Architektur thematisiert. Der Grund für diese Entwicklung der einseitigen Ausrichtung auf die Stilrichtung der Moderne liegt meiner Ansicht nach schon in der Ausbildung. Im Studium werden fast ausschließlich moderne, zeitgenössische Entwürfe gut beurteilt. Für andere Ansätze erhält man keine Unterstützung, manchmal sogar Häme vor versammelter Studentenschaft. Und das geht weiter über das Wettbewerbswesen, das eng mit den Hochschulen verflochten ist. In den Fachzeitschriften werden wieder bis auf wenige Ausnahmen die sog. fortschrittlichen Gebäude veröffentlicht. Wenn man als Architektin oder Architekt also die Anerkennung der Fachkritik erhalten möchte – und wer will das schon nicht, kommt man in der Regel an zeitgenössischen, dem jeweiligen Zeitgeist angepassten Bauten nicht vorbei. Der schärfste Kritiker jedoch ist die Zeit. Nur wirklich gute Architektur kann auch noch bestehen, wenn die Mode der Entstehungszeit schon längst anderen gewichen ist.

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  6. naja- die Architektur ist anpassungsfähig und nichtstörend unaufgeregt, die zurückhaltende sorgfältige Detailbearbeitung erschliesst sich auf den zweiten Blick und vermittelt Nachhaltigkeit, ein beruhigendes Gefühl bei der Wahrnehmung seiner Umwelt, was will der Bürger und sein soziologischer Interpret, der Urbanistiker, mehr? Was bringt da noch der Ideologenstreit über Farben und Formen? Es gibt zu viele mittelmäßige Kopien einzelner, alle vier bis fünf Jahre gebauter richtungsweisender Gebäude, die Zeitgeist bestimmen. Da wundert es nicht, wenn die von den wechselnden Moden enttäuschte stille Sehnsucht nach Werthaltigkeit und Beständigkeit zum Sicherheit versprechenden Licht am Horizont wird.

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  7. Auch ich,… freunde mich eher mit dem gestalterisch immer „Guten“, …..anstatt des immer „Neuen“ an, …aber in Verbindung von technischen Neuerungen, falls diese vernünftig sind ( Stichwort: teilweise technokratischer Irrsinn im Bereich des energieeffizienten Bauens).
    Als Architekt habe ich eine Hochachtung vor dieser Architektursprache, da ich und meine Generation mit Abschluss 2003 diese (sogar an einer renommierten Hochschule) nicht gelernt noch praktizieren durfte….es war verpönt?!
    Zudem kommt,…das gemäß Herrn Nöfer „die gestalterische Herausforderung für deren Entwurf scheinbar unambitioniert, …tatsächlich aber anspruchsvoller als Zeitgenossenschaft und Neuheitsdrang“ sei.

    Genau dieses Verständnis sollte aber an Hochschulen vermittelt werden, ….dass nicht immer der Entwurf des Neuen, der „Wow-Effekt“ die bessere Note erhält …. sondern der städtebaulich und funktional verträgliche Entwurf mit angemessenen Proportionen, Materialwahl und Farbgebung, etc. Damit sollte neben der Lehre des Bauhaus, der 2. Moderne, etc. auch wieder ein Verständnis zur klassischen Architektur entwickelt werden. Gerade wir in Deutschland tun uns schwer damit, da wir darauf nicht mehr zurückgreifen können.

    Nach der Beseitigung dieser ansehnlichen Architektur, hatten die Architekten nun 50 Jahre lang Zeit sich auszutoben, ….um schliesslich zur Erkenntnis zu kommen, dass wir in Deutschland mit Fertigungs- und Industriehallen entlang unseren Bundesstraßen, und mit teilweise nichtssagenden Verwaltungs- und Bürogebäuden, als auch mit monoton wirkender Siedlungsarchitektur im strengen Raster unsere Landschaft bereits verschandelt haben.

    So bleibt mir nur noch, …den zukünftigen Baumeistern Deutschlands einen längeren Aufenthalt in einem anderen Land zu wünschen,….um diese Architektur, als auch das städtische Raumgefüge wie z.B. In England, Frankreich oder Italien und Spanien zu entdecken. Dazu muss nicht unbedingt Gleichnamiges studiert werden,…es reicht einfach vorort zu sein, und die Augen auf zu machen.

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  8. In Heft 1/2015 wird eine Lanze gebrochen für Bauten, die Elemente des historischen Klassizismus applizieren. Daran schliesst sich eine Auseinandersetzung über „erlaubt oder nicht“ an. (Heft 2/15) Mir fallen noch zwei Aspekte dazu ein, die bisher nicht erwähnt wurden:

    1. Die Frage wird unter rein ästhetischen Kriterien abgehandelt, als sei es Aufgabe von Architekten stets neue Stile zu erfinden wie Modeschöpfer. Es wird nicht beachtet, welchen Einfluss die Fortentwicklung von Technik, Material und Digitalisierung dabei haben. Das führt bei schöpferisch tätigen Architekten zu neuen Formen, weil sie imstande sind, die neuen Möglichkeiten anzuwenden. Bei weniger fähigen Architekten fehlt dieses Potential. Oder wollen wir über kürzere oder längere Röcke oder ausgestellte Hosenbeine reden?

    2. Mir fällt auf, dass der „Klassizismus der Moderne“ fast nur bei Wohnhäusern in Gegenden auftritt, in denen Eigentumswohnungen für fünf-bis sechstausend €/qm angeboten werden. Zufall? Nein, denn es handelt sich um Architektur für ein zwar begütertes aber nicht unbedingt gebildetes und aus diesem Grund meist eher konservatives Publikum. Dabei entstehen dann auch Stilblüten von Architektur, die erkennen lassen, dass deren Architekten keine Ahnung von den historischen Zusammenhängen haben, die sie angeblich zitieren, so grotesk werden manche Architektur-Elemente vergangener Zeiten ganz ernsthaft zusammen-erfunden. Ein „verstandenes“ Zitat wäre doch das Mindeste, was zu fordern wäre. Oder passten die Styropor-Applikationen nicht ? (Auf einem Bauschild sah ich, dass auf dreimühsam auf „klassizistisch“ getrimmte Geschosse ein Staffelgeschoss mit Mansard- Dach aufgesetzt war. Nicht nur grotesk, sondern einfach hässlich.)
    Die Postmoderne (in USA, nicht bei uns) hatte wenigstens noch ironischen Witz; und deren Architekten kannten die Vorbilder, die sie zitierten.

    Ich glaube, über solche “Maklerarchitektur“ lohnt es sich nicht, weiter zu diskutieren.

    Peter Erler

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