Dieser Beitrag ist unter dem Titel „Das Wasserstoff-Quartier“ im Deutschen Architektenblatt 10.2022 erschienen.
Grüner Wasserstoff gilt auch für Gebäude als Hoffnungsträger für mehr Unabhängigkeit von fossiler Energie. Aufmerksamkeit zieht vor diesem Hintergrund derzeit ein Projekt in Esslingen am Neckar auf sich, wo auf dem Gelände eines ehemaligen Güterbahnhofs ein 120.000 Quadratmeter großes Neubauquartier mit 450 Wohnungen (zusätzlich Büro- und Gewerbeflächen sowie ein Neubau der Hochschule Esslingen) als „klimaneutrales“ Viertel entsteht.
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Energiekonzept auf Quartiersebene
Grundlage hierfür ist ein Energiekonzept mit vernetzten Energieanlagen sowie ein Forschungsprojekt zur Erzeugung und Nutzung von grünem Wasserstoff. Als eines von sechs Pilotprojekten wurde das Quartier im Rahmen des Förderschwerpunktes „Solares Bauen/Energieeffiziente Stadt“ des Bundesministeriums für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK) mit rund zwölf Millionen Euro unterstützt. Geplant, finanziert und realisiert wird das Energiekonzept von einer Dreiergemeinschaft – der 2019 gegründeten Polarstern Erzeugungs GmbH, der Stadt Esslingen und der von Professor (em.) Norbert Fisch gegründeten Green Hydrogen Esslingen GmbH.
Norbert Fisch hat als CEO des Ingenieurbüros EGS-plan das ganzheitliche Energiekonzept mitentwickelt und koordiniert die Gebäudetechnik inklusive der Wasserstoff-Erzeugung. Das Quartier versteht sich als Modell und Vorzeigeprojekt für den zukünftigen Umgang mit Energie in der Stadt. Die CO2-Emissionen pro Bewohner für Wohnen und Mobilität liegen im Esslinger Quartier unter einer Tonne pro Jahr. Seit Ende 2021 ist die Energiezentrale im Testbetrieb.
Im Interview mit Frank Maier-Solgk erklärt Professor Norbert Fisch, wie das Projekt entstanden ist, wie die Technik funktioniert und welche energetischen Leistungen zu erwarten sind.
Herr Professor Fisch, Sie befassen sich seit vielen Jahren mit klimaneutraler Energieversorgung im Gebäudesektor, sowohl theoretisch – unter anderem als ehemaliger Professor an der TU Braunschweig – als auch praktisch. Welche Erfahrungen haben zu dem Projekt in Esslingen geführt und wo liegen entscheidende neue Schritte?
Zwischen 2010 und 2015 gab es in Deutschland mehrere Projekte, die im Hinblick auf Klimaneutralität und Dekarbonisierung, also den Verzicht auf die Nutzung fossiler Energie bei Gebäuden, Zeichen gesetzt haben: das achtstöckige Aktivstadthaus in Frankfurt und – im Bereich der Bestandssanierung – eine Siedlung mit 100 Wohneinheiten aus den 1950er-Jahren in Frankfurt-Riederwald (Bauherr jeweils städtische Wohnbaugesellschaft ABG; Hegger Hegger Schleiff Architekten, Kassel). Der Fokus lag bei beiden Projekten auf dem Einsatz von Photovoltaik, auf Wärmepumpen und oberflächennaher Geothermie sowie energetisch optimierten Gebäudehüllen. Diese Elemente für den Effizienzhaus-Plus-Standard waren in dieser Phase State of the Art. Hinzu kamen zuvor schon während meiner Zeit in den USA (2008, CMU, Pittsburgh) neben den Überlegungen zum „Building as Power Plant“ erste Ideen zur Rolle des grünen Wasserstoffs im Kontext der Energiewende.
Und dann konnten Sie alles im Projekt Weststadt Esslingen zusammenführen und um den Einsatz von Wasserstoff ergänzen. Worin genau besteht die entscheidende Idee?
Das Quartier in Esslingen ist ein vom Bundeswirtschafts- und Bundesforschungsministerium gefördertes Pilotprojekt für den Bereich solares Bauen, bei dem viele Player zusammen agiert haben, nicht zuletzt auch der von dem Projekt überzeugte Oberbürgermeister Dr. Jürgen Zieger. Der Unterschied zu früheren Ansätzen liegt im Schritt vom Einzelgebäude zur Quartierslösung, das heißt zu einer systemischen Lösung, bei der die Kopplung der Sektoren Strom, Wärme, Kälte und Mobilität eine Zielsetzung war. Neu gegenüber den bisherigen Komponenten (Photovoltaik, Wärmepumpe, wärme- und luftdichte Gebäudehülle, Wärmeverteilnetz) ist die Produktion und Vermarktung von grünem Wasserstoff, der in das Erdgasnetz eingespeist und zukünftig über eine H2-Leitung direkt der Industrie und der Mobilität zugeführt wird. Herzstück des Energiesystems ist eine unterirdisch innerhalb des Quartiers installierte Elektrolyseanlage, die maximal 400 Kilogramm Wasserstoff pro Tag beziehungsweise 80 Tonnen pro Jahr erzeugt. Das Einzigartige des Projekts ist, dass die beim Elektrolyseprozess anfallende Wärme mit rund 65 Grad Celsius, das sind rund 30 Prozent des eingesetzten grünen Stroms, zur Wärmeversorgung des Quartiers genutzt wird. Der Nutzungsgrad der Wasserstoff-Elektrolyse, der normalerweise bei 60 bis 65 Prozent liegt, wird dadurch auf circa 80 bis 85 Prozent gesteigert; das ist der Kern der Geschichte.
Für die Elektrolyse benötigt man viel Strom. Woher kommt der in diesem Fall?
Ein Teil des grünen Stroms stammt aus den installierten Photovoltaikanlagen auf den einzelnen Gebäuden (im Endausbau circa 1,5 Megawatt), die maximal solarisiert wurden. Der Solarstrom wird vorrangig für die Versorgung der Bewohner (Mieterstrom) und die E-Mobilität genutzt. Der überschüssige Strom (circa 20 bis 30 Prozent) wird in der Elektrolyse zur Erzeugung von grünem Wasserstoff eingesetzt. Etwa 70 Prozent des Stroms für die Wasserstoff-Produktion kommen von Windanlagen auf der Schwäbischen Alb. Nach den im Frühjahr verkündeten Zielen des BMWK soll die Photovoltaik von heute 60 Gigawatt auf 215 Gigawatt im Jahr 2030 ausgebaut werden. Selbst bei einem steigenden Stromverbrauch in Deutschland von heute etwa 550 TWh/a auf 1.000 TWh/a im Jahr 2050 werden in den nächsten Dekaden riesige Überschuss-Mengen an grünem Strom anfallen. Wir haben im November 2021 in einem Thesenpapier für die deutsche Immobilienwirtschaft festgehalten und durch Zahlen belegt, dass, um die Klimaziele zu erreichen, das heißt, eine PV-Zubaurate von 20 bis 22 Gigawatt pro Jahr zu erreichen, zukünftig mindestens zwei Drittel der PV-Anlagen auf Freilandflächen errichtet werden müssen. Die Potenziale auf Dächern (Neubau und Bestand zusammengenommen) reichen dazu bei Weitem nicht aus. Ich fühle mich durch diese Entwicklung auf politischer Ebene in meinen schon vor einigen Jahren erstellten Prognosen und der Aussage „Wir werden zur Stromgesellschaft“ bestätigt.
Musste für die unterirdische Energiezentrale in Esslingen eine neue Anlagentechnik entwickelt werden?
Nein, die Anlagentechnik war bei der Industrie grundsätzlich vorhanden; nur die Anwendung und die Systemlösung sind neu. Das Genehmigungsverfahren für eine Wasserstoffanlage im städtischen Umfeld war absolutes Neuland und hat uns sehr viel Erfahrung eingebracht. Eine Elektrolyseanlage für den netzdienlichen dynamischen Betrieb ist ebenfalls Neuland und erforderte die Entwicklung eines innovativen Energie-Management-Systems (EMS).
Es heißt gelegentlich, Wasserstoff zum Heizen sei zu teuer, um wirtschaftlich zu sein. Wie teuer war diese Anlage und kommen auf die Mieter in Esslingen Mehrkosten zu?
Wir verbrennen den Wasserstoff nicht zum Heizen, sondern, wie gesagt, wird die Abwärme aus dem Prozess zur Wärmeversorgung eingesetzt. Auf die Wohnungseigentümer oder Mieter im Quartier kommen keine Mehrkosten zu, die Wärmepreise entsprechen den ortsüblichen Fernwärmepreisen. Ich bin in diesem Projekt nicht nur der wissenschaftliche Spiritus Rector und Planer, sondern auch einer von drei Investoren. Den Wasserstoff können wir aufgrund der Förderung durch das BMWK zu einem Preis von circa acht bis neun Euro pro Kilogramm vermarkten. Generell wird Wasserstoff als Schlüsseltechnologie für die Energiewende eine entscheidende Rolle spielen; das heißt aber nicht, was oft falsch dargestellt wird, dass die Wasserstoffproduktion nur oder vor allem der Beheizung von Gebäuden dient. Richtiger ist es, zu sagen, dass der Wasserstoff im ganzheitlichen Kontext der Energiewende vor allem in den Sektoren Industrie und Mobilität (vor allem Schwerlastverkehr) zum Einsatz kommt. Auf jeden Fall sollte die entstehende Abwärme bei der Elektrolyse genutzt werden. Das Potenzial ist riesengroß und wird 2045 dem heutigen Fernwärmeaufkommen von rund 120 TWh/a entsprechen.
In Esslingen wurde durch die unterirdische Platzierung der Energiezentrale ein nutzbarer Quartiersplatz geschaffen. Welche Anforderungen und Möglichkeiten bieten solche Lösungen für die Architektur?
Wenn ich mir etwas von der Architektur wünschen dürfte, dann wäre dies an erster Stelle: Bitte keine Flachdächer, sondern flach geneigte Dächer nach Süden, Osten oder Westen. Damit wäre eine Verdoppelung der Solarfläche und damit eine entsprechend höhere Solarstromproduktion möglich. Dies wäre wirtschaftlich – PV-Anlagen an Fassaden sind hingegen wirtschaftlich erheblich ungünstiger.
Ich glaube im Übrigen nicht, dass die unterirdische Lösung für das Energiezentrum und die Elektrolyse, die man hier in Esslingen gefunden hat, in vielen anderen Fällen umgesetzt werden wird; sie hat immerhin zu Mehrkosten von einer Million Euro geführt. Der Fokus wird in Zukunft auf der energetischen Sanierung des Altbaubestands liegen und in diesen Fällen wird man aufgrund der räumlichen Situationen nicht unterirdisch bauen können, sondern mit den Energiezentralen an den Stadtrand gehen.
Wie geht es weiter? Wo liegen die Herausforderungen auf dem Weg zu einer klimaneutralen Zukunft im Gebäudebereich?
Die Reduzierung der CO2-Emissionen im Gebäudebestand ist die Herausforderung, der Neubau spielt eine untergeordnete Rolle. Deshalb sind die heißen Diskussionen um die Verschärfung des Gebäudeenergiegesetzes (GEG) und die Solarpflicht − beides nur für Neubau − völlig überzogen. Der Neubau von Gebäuden induziert bei der Errichtung eine große Menge an grauen Emissionen, die in der Betriebsphase − selbst durch Energieplus-Gebäude − nicht bis 2045 zu kompensieren sind.
Allgemein liegt die Hauptaufgabe nicht im Neubau, sondern im Gebäudebestand, für den dringend energetische Lösungen gefunden werden müssen. Durch die Sanierung der Gebäudebestände und die Sicherung einer weiteren Nutzung lassen sich − so unsere Berechnungen − gegenüber dem Neubau etwa 80 Prozent der Treibhausgas-Emissionen vermeiden. Ein Problem, auf das ich an dieser Stelle auch hinweisen will: Wir haben einen erheblichen Mangel an qualifizierten Fachkräften; dies gilt für weitere Projekte wie das in Esslingen wie auch allgemein für Sanierungen. Für eine Steigerung der Sanierungsrate, die derzeit unter zwei Prozent liegt, auf bis zu vier Prozent, wie das erhofft wird, reicht das bei Weitem nicht aus. Umso wichtiger ist eine stärkere Ausbildungsförderung für qualifizierte Fachkräfte in diesem Bereich.
Dr. Frank Maier-Solgk ist freier Journalist und Buchautor in Düsseldorf
Planungsbüros Neue Weststadt Esslingen
- Städtebauliche Planung: LEHENdrei, Stuttgart
- Energietechnik für alle Bereiche: EGS-plan, Stuttgart
- Block A: 2BA, Stuttgart
- Block B: Graf + Graf, Montabaur
- Block C: ASTOC, Köln mit Lorber Paul, Köln
- Block D: EMT, Stuttgart
- Block E: MVRDV, Rotterdam
- Hochschule: Bär Stadelmann Stöcker, Nürnberg
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