Zur lauten Straße liegen im Bau von Fink+Jocher nur die Küchen (Klicken für mehr Bilder)
Dieser Beitrag ist unter dem Titel „Minimalismus und Experiment“ im Deutschen Architektenblatt 08.2021 erschienen.
Von Christoph Gunßer
Man könnte es fast für das Fragment einer monumentalen Prachtstraße halten, was da an der wichtigsten südlichen Einfallstraße Neu-Ulms entstanden ist: ein schroffer Betonriegel, von sichtlich überdimensionierten Säulen rhythmisiert. „Ein Gestell“ nennt es sein Schöpfer Dietrich Fink vom Münchner Büro Fink+Jocher, das dem Wohnungsbau der letzten Jahrzehnte schon wichtige Impulse gegeben hat. Nun also ein „hartes, ungeschöntes Regal“ (Fink), das dem brausenden Verkehr trotzt.
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Experimente oft an benachteiligten Orten
Experimentalbauten entstehen oft an benachteiligten Orten, wo sonst niemand bauen mag. In diesem Fall war das kleinteilige Wohnquartier auf dem Gelände der alten Stadtgärtnerei seit Jahren fertig. Es fehlte nur noch ein „Wellenbrecher“ an der lauten Reuttier Straße. Als die Oberste Baubehörde 2015 das Förderprogramm „effizient bauen, leistbar wohnen“ ausschrieb, bewarb sich die städtische Neu-Ulmer Wohnungsbaugesellschaft Nuwog erfolgreich und lobte für das schwierige Eckgrundstück ihrerseits einen kleinen Realisierungswettbewerb für die Leistungsphasen 1 und 2 aus. Sieben Büros arbeiteten sich an der Situation ab. „Wir haben als einziges Team versucht, keine Aufenthaltsräume zur Straße zu platzieren“, berichtet Dietrich Fink – und bekamen deshalb seinerzeit den Auftrag. Das Büro baut bereits seit den Neunziger-Jahren für die Nuwog. Dieses Projekt sollte indes eine längere Genese durchlaufen.
Fink und Jocher entschieden sich für Beton
In der beengten Situation erschien es sinnvoll, einen Elementbau zu errichten. Einst bekannt geworden mit kostengünstigen Holzsystembauten, wählten die Architekten für diesen Lärmschutzbau den robusteren Beton. Doch es erwies sich als schwierig, Betonfertigteile in der gewünschten Sandwich-Bauweise zu bekommen. Im Interesse der Langlebigkeit schließt die Nuwog WDVS-Systeme bei ihren Bauten nämlich aus. Die Kleinserie musste zweimal ausgeschrieben werden. „Da sind seit den Siebziger-Jahren viele Kenntnisse verloren gegangen“, beklagt Dietrich Fink. So fiel die geplante Pigmentierung des Betons (in Beige oder sogar dunkler) dem Rotstift zum Opfer, was immerhin einen fünfstelligen Betrag einsparte. Die jetzige Härte des Baus ist Resultat harter Kürzungen.
Struktur auch bei den Grundrissen
Doch schließlich konnte der Fünfgeschosser (samt Aufbau und einer Dachterrasse mit Alpenblick für die Mieter) rasch wie ein Kartenhaus montiert werden, ohne „wüstes Herummauern“ (Fink) – der Kran war das wichtigste Werkzeug auf der Baustelle. Die tiefen Grundrisse folgen der rigiden Schottenstruktur auf einem Raster von 3,80 Metern. Wenn hier zwei Räume nebeneinanderliegen, wird es schon eng. Doch Schiebetüren vermeiden Kollisionen und sorgen für ein flexibles, offenes Wohnen. Es gibt sinnvollerweise in dieser belasteten Lage eine zentrale Lüftungsanlage, und das kompakte, fernwärmebeheizte Haus erfüllt den KfW-55-Standard.
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Ein Wohnungsbau wie ein Bollwerk
Während die (immerhin weiß verputzten) Wohnräume nach Südwesten blicken, erschließt der roh belassene, aber geräumige Laubengang die 21 Zwei- und zehn Drei- bis Vierzimmerwohnungen auf der Straßenseite, auch im Erdgeschoss, wo die Architekten ursprünglich Stellplätze vorgeschlagen hatten (die wurden dann teils abgelöst oder im Hof nachgewiesen). Die Küche bekommt von hier Licht und etwas Aus- und Einsicht. Letztere versperren die mächtigen Rundsäulen – sie sind tatsächlich massiv – zumindest in der Schrägsicht. Nach Angabe der Architekten ist das ihre Hauptfunktion; auf der Südseite ist es der Sonnenschutz.
Neu-Ulm hat ja durchaus eine Tradition im Bau von Bollwerken – der Stadtteil trägt sogar den Namen Vorfeld (nämlich der Festung). Doch Spaß beiseite, ist das nicht ein bisschen viel Beton in einer Zeit, wo alle über dessen miserable Klimabilanz reden? „Das ist sicherlich kein Asset des Projektes“, räumt Dietrich Fink ein. Er hält die Diskussion über graue Energie-Rucksäcke zwar für „etwas überbewertet“. Letztlich gibt er aber in seinen aktuellen Vorhaben dem Holzhybridbau den Vorzug.
Baukosten 2.300 Euro pro Quadratmeter
Günstiger wurde das Betonhaus durch die Elementierung jedenfalls nicht: Die Bruttobaukosten der Kostengruppen 3 und 4 lagen bei 2.300 Euro pro Quadratmeter Wohnfläche, wobei der Preis solcher Pionierbauten nicht besonders aussagekräftig ist – oft begegnet die Branche dem Neuen bekanntlich mit Angstzuschlägen. Nuwog-Projektleiter Julian Mertel hält die Elementierung deshalb vor allem für sinnvoll, wenn die ausführende Firma schon bei Planungsbeginn feststehe (Bauteam-Prinzip), was aber die Wohnraumförderbedingungen normalerweise nicht zulassen.
Das „Betonhaus“ werde inzwischen, nach anfänglicher Skepsis, geschätzt, betont der Projektleiter (vor Ort hört man eher Kritik am wirklich sehr lauten Standort). Robust und solide detailliert wie es ist, wird es die veranschlagte Lebensdauer von achtzig Jahren gewiss ohne große Blessuren überstehen. Man darf gespannt sein, ob die große Geste – sie erinnert tatsächlich an eine Vedute des Malers de Chirico – bei der weiteren Verdichtung des Straßenkorridors aufgenommen wird.
Der Bau von StudioVlayStreeruwitz wurde nach dem Knochen-Typus geplant. (Klicken für mehr Bilder)
Holz-Beton-Hybrid von VlayStreeruwitz
In der Jury-Sitzung für das Betonhaus vereinbarte die Nuwog mit den Fördergebern sogleich ein zweites Experiment in Sichtweite: Für ein Areal, das einmal als Friedhofserweiterung vorgesehen war, nun aber nicht mehr gebraucht wurde, lud die Nuwog 2016 acht Büros zu einem regulären Wettbewerb nach RPW ein. Ihn gewann das Wiener Büro studiovlay (heute StudioVlayStreeruwitz) mit der Wiener Landschaftsarchitektin Carla Lo – mit einem völlig anderen Ansatz. Der erste Bauabschnitt mit 40 geförderten Wohnungen wurde 2020, etwa zeitgleich mit dem Betonhaus, bezogen.
Die Ausgangslage war hier noch weitgehend grün: Das frühere Baseballfeld der US-Soldaten lag zwischen der alten Stadtgärtnerei und dem weitläufigen Konversionsareal der ehemaligen Brady-Kaserne. Eine Verdichtung in Form von Geschosswohnungsbau war dort mit schlichten, kompakten Spännertypen begonnen worden. Im Anschluss daran schlugen die meisten Wettbewerber für die insgesamt 71 Wohnungen eine ähnlich blockhafte Struktur vor.
Wohnungsbau mit spielerischem Ansatz
Doch war das Baufeld relativ groß und kein Erschließungstyp vorgegeben. Die Wiener gingen deshalb spielerischer an die Aufgabe heran und öffneten ihre wie Dominosteine kombinierten Baukörper zu kleinen Höfen. Ja, sie bockten die Mitte des Komplexes sogar auf, sodass dort geschützte Freiräume entstehen – im Treppenhaus zählen die gegeneinander versetzten Ebenen von 0 bis 8, sodass es zu den Nachbarn oben und unten nie weit ist. In dieser Feingliedrigkeit sehen die Planer einen „Beitrag zum vernetzten Wohn-Patchwork“, das den durchgrünten Süden Neu-Ulms präge. Das ist schlüssig und überzeugte die Jury, die „eine eigenständige, frische und positive Ausstrahlung“ erkannte.
Kleinteiliger Wohnungsbau statt kompakte Kiste
Entgegen dem langjährigen Trend zur Kompaktheit – man kann auch sagen: zur Kiste – wagten die Architekten also einen Komplex aus Kisten. Denn rationell konstruiert werden muss in diesem unteren Preissegment allemal. Holz erschien dem Team in diesem grünen Kontext angemessen. Es spielte drei Varianten mit dem Baustoff durch und landete schließlich bei einem Hybrid-System, das Treppenkerne und Decken samt Stützen aus Ortbeton mit komplett vormontierten Fassaden aus Brettsperrholztafeln kombiniert, die aus dem nahen Allgäu angeliefert wurden. Die Außenhaut besteht aus einer vorpatinierten vertikalen Lärchenschalung. Die sichtbar belassenen Massivholzteile kontrastieren im Innenraum mit dem Sichtbeton. Dieses Prinzip „Rohbau gleich Ausbau“ sparte zusätzlich Kosten.
Wichtige Entwurfsideen nicht umsetzbar
Bedauerlich ist, dass die ursprünglich vorgesehenen Fugen zwischen den Baukörpern, die Licht in die zentralen Treppenhäuser gebracht hätten und die spielerische, „strukturalistische“ Fügung unterstrichen hätten, wegfielen. Die Jury hatte bereits den sehr hohen Außenwandanteil bemängelt. So wurden es doch Treppenschächte, zumal auch die Wohnungszugänge fensterlos sind. Schade, auch wenn sich hier der reizvolle Kontrast rohen Betons mit Holz aus den Wohnungen wiederholt. Ausblicke hätten hier zudem bei der Orientierung geholfen – so sehen trotz der Verschachtelung einige Situationen gleich aus.
Knochen-Layout im Wohnungsbau vergessen
In den überwiegend großen Wohnungen (fast die Hälfte hat 90 Quadratmeter) gibt es hingegen Ausblicke genug: Die vierstöckigen Baukörper sind so versetzt angeordnet, dass die gut geschnittenen Wohnungen über Fenster nach mehreren Seiten verfügen. Dieses „Knochen-Layout“ ist typologisch nicht neu, aber rar geworden. Es führt zu Einbußen bei der Privatheit der Räume, insbesondere der vorgehängten Balkone (diese sind, nebenbei, anleiterbar und damit zweiter Fluchtweg), steigert aber die Wohnqualität. Eine ausreichende Belichtung wurde eigens in einer Verschattungsstudie nachgewiesen.
Die Architektur empfiehlt also, miteinander auszukommen: Ein informeller, gemeinschaftlicher Charakter prägt das Quartier. Vorbilder aus den Niederlanden der Siebziger kommen einem in den Sinn. Im Rohbau erinnerte die offene Skelettstruktur an Le Corbusiers Domino-Häuser von 1914.
Urbanes Erdgeschoss fürs Quartier
Eine große Qualität sind die verschiedenen Freiräume am und unterm Haus. Geschickt wurden die Ebenen halbgeschossig versetzt angeordnet, sodass die Erdgeschosswohnungen im Hoch-, die Eingänge im Tiefparterre liegen – auch dies fällt gegenüber dem Betonhaus positiv auf, wo die untersten Wohnungen ziemlich ungeschützt auf Straßenniveau liegen. Zentral (und nicht wie beim Betonhaus die Dachterrasse) liegen Gemeinschaftsraum und Waschküche neben den Hauseingängen – auch das begünstigt informelle Kontakte im Vorübergehen, ebenso wie die wetterunabhängigen Spielräume für Kinder vor den Türen.
Baukosten 2.040 Euro pro Quadratmeter
Es sind solch zentrale Kleinigkeiten zwischen drinnen und draußen, die das Quartier sympathisch machen. Der anfängliche Widerstand der Anwohner gegen die Verdichtung des Viertels ist denn auch großer Zuneigung gewichen, denn die verlorenen Grünräume werden durch die kleinteilige Vernetzung aufgewogen. Die Baukosten der Anlage (hier wird mit einfacher, dezentraler Lüftung der KfW-40-Standard erreicht) liegen trotz Parkett und Holztüren bei günstigen 2.040 Euro pro Quadratmeter Wohnfläche brutto (KG 3 und 4). Der zweite Abschnitt mit Eigentumswohnungen im verwandten Duktus (und einer Tiefgarage) ist derzeit im Bau. Nuwog-Projektleiter Julian Mertel ist des Lobes voll und hat die Architekten bereits für ein weiteres Projekt in der Stadt engagiert.
Mehr Experimente im Wohnungsbau wagen!
Beide gezeigten Experimentalbauten befinden sich nun in der Phase der Aneignung. Sowohl das „Gestell“ im Stadtraum als auch der extrovertierte Komplex im Grünraum bieten dafür ausreichend Spielräume, ohne ihre einprägsame Struktur zu verlieren. Betrachtet man die fantasielose Massenware im Wohnungsbau dieser Tage, wünscht man sich mehr Experimente dieser Art. Schon lange fordern Architektenverbände, die Wohnbauförderung an räumliche Qualitäten zu knüpfen. Neu-Ulm, das hier schon lange vorangeht, liefert dafür zwei Argumente mehr.
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