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[ Schadstoffe ]

Schadstoffarmes Bauen: Praxisbeispiele

Die Architekten Lioba und Wolfgang ­Keienburg sind auf ­schadstoffarmes Bauen spezialisiert. Sie sagen: „Architekten dürfen ruhig neugierig auf das Thema sein – und die Gebäude werden auch nicht viel teurer“

Dieser Beitrag ist unter dem Titel „Weniger ist mehr“ im Deutschen Architektenblatt 11.2019 erschienen.

Von Marion Goldmann

Lioba und Wolfgang Keienburg sind seit 20 Jahren als Architekten tätig und kennen das Baugeschehen aus dem Effeff. Als sich das nachhaltige Bauen und damit einhergehend entsprechend zertifizierte Gebäude zunehmend etablierten, wollten sie mehr darüber wissen. Aus Interesse an dem Thema begann Lioba Keienburg eine Fortbildung bei der Deutschen Gesellschaft für Nachhaltiges Bauen (DGNB) und ließ sich als Auditorin für nachhaltiges Bauen zertifizieren. Aus Sicht der Architekten blieb dabei allerdings eine wichtige Frage weitestgehend offen: die Auswahl schadstoffarmer Produkte.

Zwar ist das gesunde Bauen Bestandteil der Auditorenausbildung und es wird auf die bei der DGNB gelisteten Produkte verwiesen. „Es ist aber sehr aufwendig, herauszufinden, welche Baustoffe man tatsächlich einsetzen kann. Die Arbeit beginnt mit der Beschaffung der Sicherheitsdatenblätter, deren Einzelwerte man mit Grenzwerten vergleichen muss. Das erfordert fundierte Kenntnisse über Inhalts- und Gefahrenstoffe. Aber weder Architekten noch Handwerker verfügen über ein derart spezialisiertes Wissen“, resümiert Lioba Keienburg.

Keine Kennzeichnungspflicht für Baustoffe

Erschwerend kommt hinzu, dass es keine Kennzeichnungspflicht für Baustoffe gibt, die gesundheitsrelevante Grenzwerte überschreiten. Den Architekten stellte sich daher die Frage, wie sich emissionsarme Produkte möglichst leicht finden lassen. Ein Vortrag von Peter Bachmann, dem Gründer und Geschäftsführer des auf das geprüft gesündere Bauen und Wohnen spezialisierten Sentinel Haus Instituts in Freiburg, versprach diese praktische Hilfe.

Das Konzept von Sentinel zur gesundheitlichen Qualitätssicherung beinhaltet die ausschließliche Verwendung emissionsgeprüfter Baustoffe für alle innenraumluftrelevanten Bereiche sowie die Verarbeitung durch geschulte Handwerker. Die Einhaltung besonderer Baustellenregeln wird ebenso überwacht wie die Qualität der Raumluft im fertiggestellten Gebäude. Das Angebot der Schulungen richtet sich neben Handwerkern ebenso an den Fachhandel wie an Planer.

Auch Lioba und Wolfgang Keienburg absolvierten diese Qualifizierung, um ihre Bauherren besser beraten zu können. Sie sagen: „Die Bauherren fragen uns ja, welche Bauweisen und Produkte wir empfehlen würden.“ Ihre Zertifizierung zum „Fachplaner für gesünderes Bauen und Sanieren“ durch das Sentinel Haus Institut erfolgte bereits 2015. Etwa zeitgleich trafen Keienburg Architekten einen Bauherrn, der die denkmalgeschützte Belzmühle im badischen Ettenheim sanieren und darin Mieter aus dem Gesundheitsbereich ansiedeln wollte. Dank ihrer Philosophie des schadstoffarmen Bauens standen den Architekten bei diesem Projekt quasi alle Türen offen.

Saubere Luft in historischer Belzmühle

Der Innenausbau der mehr als 350 Jahre alten Belzmühle erfolgte nach strengsten gesundheitlichen Standards. Als Mindestziel galten die Werte des Gesundheitspasses, den ­Sentinel in Kooperation mit akkreditierten Prüfinstituten anbietet. Dieser beinhaltet unter anderem die Empfehlungen des Umweltbundesamtes für die Summe der flüchtigen organischen Verbindungen (TVOC), die für Atemwegsreizungen und Unwohlsein verantwortlich sein können.

Auch für Formaldehyd und andere Einzelstoffe gelten strenge Grenzen. Es wurden zudem alle innenraumrelevanten Baustoffe bis hin zur kleinsten Dichtungsmasse auf gesundheitsschädliche Inhaltsstoffe beurteilt und die Bausubstanz auf Altlasten untersucht. Der Verdacht gründete sich auf einen Brand in der Vergangenheit sowie die Nutzung als Gerberei für Eichen- und Fichtenrinde. Glücklicherweise blieben die Schadstoffanalysen in diesem Fall ohne Befund.

Aktuell haben in dem historischen Ensemble unter anderem eine Hebammenpraxis sowie Praxen für Ergotherapie und Kinderphysiotherapie eine attraktive Bleibe gefunden. „Da, wie üblich beim Bauen im Bestand, die ursprüngliche Planung vor Ort teilweise neu beurteilt und entschieden werden musste und es unser erstes von Sentinel begleitetes Projekt war, empfanden wir die Realisierung mit geprüften Materialien als große Herausforderung“, erinnern sich die Keienburgs.

Schadstoffarme Produkte: Trockenbau, Abdischtung, Farben, Fenster

Schadstoffarme Produkte, die in der Belzmühle zum Einsatz kamen, waren zum Beispiel: das PRUF-Trockenbausystem, Dichtstoffe und Schäume von Würth, Farben von Keim, Fenster von Kneer, Estrichzusätze von Rapid Floor, Türen von Dana und Kautschukbeläge von Nora Systems. Am Ende der Bauarbeiten wurde die Qualität der Raumluft anhand von Messungen nach Normvorgabe untersucht und mit einer Prüfbescheinigung ausgezeichnet.

Bürogebäude Keienburg Architekten: Das Referenz­gebäude im Rahmen des Forschungsprojektes „My Future Office“ …

Bestwerte für Büroneubau

Durch den intensiven Kontakt zu Sentinel wurden Keienburg Architekten auch Partner des Forschungsprojekts „My Future Office“. Neben Architektinnen und Architekten sind in das Vorhaben auch Baustoffhersteller und Immobilienexperten involviert, die, koordiniert durch Sentinel, nach hohen gesundheitlichen Maßstäben sowie gleichzeitig rentabler und praxistauglicher bauen, sanieren und betreiben wollen. Da passte es gut, dass Keienburg Architekten gerade ihr eigenes Bürogebäude im badischen Ettenheim planten.

Der Neubau, den sie im März dieses Jahres bezogen, zählt zu den Referenzobjekten bei „My Future Office“. Dabei wurde alles untersucht, was die Leistungsfähigkeit und die Befindlichkeiten der Nutzer beeinflusst. Die Bandbreite reicht daher unter anderem mit Schallschutz und Akustik, visuellem Komfort, Reinigung und Instandhaltung, Barrierefreiheit und Nachhaltigkeit weit über eine gute Raumluftqualität hinaus. „Uns waren vor allem die Kriterien wichtig, die den Wohlfühlaspekt beeinflussen. Deshalb haben wir vorab über eine thermische Simulation nachgewiesen, dass eine Überhitzung des Gebäudes komplett vermieden werden kann“, erläutert Lioba Keienburg.

In diesem Zusammenhang wurden die Glasflächen der Fassade reduziert und diese so weit überdacht, dass keine direkte Sonneneinstrahlung und Blendung im Inneren entstehen. Die Klimatisierung erfolgt mittels Betonkernaktivierung durch eine mit selbst erzeugtem Strom betriebene Wärmepumpe. Der Strom wird außerdem für die Heizung, die Warmwasserbereitung und sonstigen Verbrauch verwendet.

… erreichte deutlich unter den Vorgaben liegende Werte.

Den Nachhaltigkeitsaspekt verdeutlicht auch die gewählte Holzbauweise. Hinsichtlich möglicher Emissionen existieren allerdings Unterschiede. Den hier verwendeten Baustoff lieferte aufgrund der geringen Formaldehydwerte die Firma Binderholz. Neben Formaldehyd und VOCs (flüchtige organische Verbindungen) zählen nach wie vor Benzole in Pulverbeschichtungen und Lacken, HBCD (Hexabromcyclododecan) in Dämmstoffen und Phthalate (Weichmacher) in Kunststoffen zu den häufigsten gesundheitsschädlichen Inhaltsstoffen.

80 Werte bei Luftmessung

„Es gibt aber noch viel mehr“, weiß Lioba Keienburg: „Die Luftmessung in unserem Bürogebäude enthält etwa 80 Werte, die geprüft wurden. Darunter befinden sich auch Terpene und Phenole.“ Auf das Ergebnis des Prüfberichtes sind die Architekten zu Recht stolz. Zum Beispiel wird bei den TVOCs ein Wert von 310 μg/m³ (Mikrogramm je Kubikmeter Raumluft) erreicht. Zum Vergleich: Sentinel fordert einen Wert kleiner 1.000 μg/m³, den auch das Umweltbundesamt für aktuell fertiggestellte Gebäude empfiehlt, und die DGNB vergibt bei weniger als 500 μg/m³ die höchste Punktzahl.

Bei Formaldehyd lag das Messergebnis bei 13 μg/m³: Die DGNB fordert einen Wert kleiner 120, die höchste Punktzahl wird bei weniger als 60 erreicht, was zugleich der Sentinel-Forderung entspricht. Alle Messwerte zusammengefasst bedeuten: Der Büroneubau ist ein sehr schadstoffarmes Gebäude. „Wir haben nur von Sentinel freigegebene Produkte verwendet. Damit ließ sich das Ergebnis mit relativ wenig Aufwand erreichen“, so Keienburg.

Gezielte Baustoff-Auswahl

Die Auswahl der Produkte erfolgte über das Bauverzeichnis des Sentinel Haus Instituts. In diesem Online-Portal sammelt und veröffentlicht das Institut alle Bau- und Reinigungsprodukte, die hohen gesundheitlichen Standards entsprechen und deren Eigenschaften mit hochwertigen Labels oder einer Prüfkammeruntersuchung eines akkreditierten Instituts nachgewiesen wurden. „Suche ich beispielsweise eine Innenraumfarbe der Abriebfestigkeitsklasse 2, wird eine konkrete Produktauswahl angezeigt“, erklärt Lioba Keienburg. Diese Detailtiefe sei ihren Erfahrungen zufolge bislang einmalig.

Neben Farben, Teppichboden und Akustikdecke mit geringen Schadstoffwerten im Besprechungsraum konzentrierten sich die Maßnahmen bei dem Büroneubau auf den Fußboden. Hier entschied man sich a priori für eine Konstruktion, die keine weiteren Aufbauten benötigt. Und so zeigt sich wieder einmal: Weniger ist mehr, sowohl in puncto Optik als auch hinsichtlich der Wirtschaftlichkeit. Der Betonboden im Hause Keienburg ist lediglich geschliffen und gewachst und das Holz an Decken und Wänden lasiert. Last, but not least liegt den Architekten eine Botschaft besonders am Herzen. Sie sagen: „Schadstoffarme Gebäude sind nur maximal ein Prozent teurer. Das können wir anhand unserer Projekte nachweisen.“

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My future office: Forschung für gesündere Büros

Das Sentinel Haus Institut startete 2017 gemeinsam mit Herstellern, Architekturbüros und Immobilienexperten das für Bürogebäude konzipierte Forschungsprojekt „My Future Office“. Ziel des Vorhabens ist es, Büroimmobilien gesünder, rentabler und praxistauglicher zu bauen oder zu sanieren und diese dann dauerhaft nach hohen gesundheitlichen Maßstäben zu betreiben. Die erste, nun abgeschlossene Projektphase lieferte Wissen zu gesundheitlich relevanten Maßnahmen und Produkten sowie zur Definition raumgesunder Systemaufbauten.

Dazu entstand erstmalig in Europa im eco-Institut in Köln ein sogenannter europäischer Referenzraum mit genormten Messbedingungen, in dem die gesundheitlichen Auswirkungen von Bauprodukten und kompletten Bauteilaufbauten wie Innenwänden und Fußböden untersucht wurden. Mehrere Mess-Szenarien simulierten sowohl Neubausituationen wie auch den Umbau und die Renovierung von Büroräumen. Auch die gesundheitlich unbedenkliche Reinigung von Teppichböden wurde mit modernstem Messequipment geprüft.

Seit 2018 werden die Erkenntnisse in erste Referenzprojekte integriert; nächstes Jahr sollen weitere Projekte folgen. Architekturbüros und Investoren sind eingeladen, die erarbeiteten Ergebnisse für ihre projektierten Büroimmobilien zu nutzen. Dazu erstellt aktuell eine Arbeitsgruppe einen Anforderungskatalog, der als Handlungsleitfaden das umfassende Themenspektrum integriert. Im Rahmen des Projektes werden auch Fortbildungen für Planer und Immobilienverantwortliche angeboten.

Gesundheitlich geprüfte Bauprodukte finden sich unter: www.bauverzeichnis.gesündere-gebäude.de

2 Gedanken zu „Schadstoffarmes Bauen: Praxisbeispiele

  1. Vielen Dank, dass Ihre Berufsgruppe sich mit dem Thema Barrierefreiheit beschäftigt.
    Und das Bauen schadstoffarmer Gebäude gehört angesichts der erheblichen Anzahl von MCS-Kranken (also von Personen, die zwecks Erhaltung ihrer Restgesundheit unbedingt SAUBERE Luft benötigen) sicherlich auch zur angestrebten Barrierefreiheit. Leider wird meist immer noch nur an Rollstuhlfahrer und Blinde gedacht.

    Allerdings bin ich doch sehr irritiert über die von Ihnen oben angegebenen Grenz-/Richtwerte.
    Spätestens seit den Studien von MØLHAVE ist bekannt, dass empfindliche Personen maximal einer gesamt VOC-Belastung von 200 μg/m³ ausgesetzt werden dürfen, und das Umweltbundesamt nennt einen Richtwert von 300 μg/m³ .
    Ich vermute bei dem von Ihnen genannte Wert in Höhe von 310 g/m³ wurde das μ vergessen. Würde es sich tatsächlich um g und nicht um μg handeln, wäre der Wert ja um SECHS Stellen zu hoch!

    Antworten
    • Sehr geehrte Frau Faust,
      vielen Dank für Ihren wichtigen Hinweis. Die Werte sind natürlich in μg/m³ zu verstehen. Aus technischen Gründen wurde bei der Übernahme aus dem Hefttext zunächst das Sonderzeichen μ nicht übernommen. Das haben wir soeben korrigiert.

      Antworten

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