Dieser Beitrag erscheint unter dem Titel „Vorsicht bei Abweichung von den a.a.R.d.T.“ im Deutschen Architektenblatt 07-08.2025
Wie muss ein Architekt über die Folgen einer Abweichung von den allgemein anerkannten Regeln der Technik (a.a.R.d.T.) aufklären? Eine aktuelle Entscheidung des Oberlandesgerichts (OLG) Stuttgart behandelt diese zentrale Frage des Architektenrechts (Urteil vom 17. Dezember 2024, Az.: 10 U 38/24).
Besonders brisant ist die Entscheidung, weil das Gericht den knappen Hinweis „Wohnung funktioniert nicht“ als ausreichend ansah, um den Bauherren über die Konsequenzen einer Planungsänderung zu informieren. Für Architekten klingt dieses Urteil zwar ermutigend, es birgt allerdings auch erhebliche Risiken.
Der Sachverhalt: Der Planungsmangel und seine Folgen
Ein Bauträger beauftragte einen Architekten mit der Planung einer Wohnungseigentumsanlage. In der ursprünglichen Planung war ein Sonnenschutz für große Fensterflächen vorgesehen, um einen ausreichenden Wärmeschutz zu gewährleisten. Der Bauträger meinte, dass er diesen gegenüber den Enderwerbern nicht schulde, und entschied, dass ein solcher nur als Sonderwunsch gegen Aufpreis errichtet werden soll. Der Architekt wies den Bauträger darauf hin, dass die Wohnungen ohne Sonnenschutz „nicht funktionieren“ würden. Eine weitergehende Belehrung darüber, dass diese Ausführung nicht den allgemein anerkannten Regeln der Technik entsprach, unterblieb.
Nach Fertigstellung forderten die Erwerber der Dachgeschosswohnungen vom Bauträger aufgrund des fehlenden Sonnenschutzes Schadensersatz und Minderung in Höhe von rund 100.000 Euro Der Bauträger verlangte Ersatz dieses Betrags vom Architekten mit der Begründung, dass dieser Mangel auf einen Planungsfehler zurückgehe.
Das Urteil: Die entscheidenden Argumente
Das OLG Stuttgart entschied, dass die Wohnungen mangelhaft seien, weil sie mangels Sonnenschutz nicht den allgemein anerkannten Regeln der Technik als Mindeststandard entsprachen (§ 633 Abs. 2 Nr. 2 BGB). Maßgeblich war ein Verstoß gegen DIN 4108-2 (Wärmeschutz bei Gebäuden). Trotzdem wies das Gericht die Klage des Bauträgers gegen den Architekten ab. Entscheidend war die Frage, ob der Architekt seinen Aufklärungspflichten nachgekommen ist:
- Grundsatz: Der Architekt schuldet – sofern nichts anderes vereinbart ist – im Rahmen der Ausführungsplanung ein Bauwerk, das mindestens den a.a.R.d.T. entspricht.
- Planungsänderung durch den Bauträger: Der Auftraggeber hatte die Abweichung von der ursprünglichen Planung selbst eingefordert.
- Ausreichende Aufklärung: Das Gericht wertete den Hinweis „Wohnung funktioniert nicht“ als genügend, um den fachlich versierten Bauträger über die damit verbundenen Risiken zu informieren.
- Fehlender technischer Bezug: Das Gericht sah es als nicht zwingend erforderlich an, konkret auf die Abweichung von DIN 4108-2 und deren rechtliche Konsequenzen hinzuweisen.
Kritische Bewertung: Kaum tauglich für die Praxis
In dem konkreten Einzelfall konnte sich der Architekt über das Urteil sehr freuen, und es ist ein durchaus seltener Lichtblick für die allgemeine Berufspraxis. Hier werden dem Planer nicht überbordende Informations- und Warnpflichten auferlegt. Vielmehr wird der Bauherr in seiner Kompetenz für voll genommen, einen Hinweis und die Bedenken seines Planers ernst zu nehmen.
Die Argumentation des OLG Stuttgart ist allerdings nicht unproblematisch, weil sie die Anforderungen an eine ordnungsgemäße Aufklärungspflicht des Architekten drastisch reduziert. Die Entscheidung suggeriert, dass eine funktionale Beschreibung der Mängel („die Wohnung wird unbenutzbar“ oder gar „die Wohnung funktioniert nicht“) unter Umständen bereits ausreicht, um die Haftung des Architekten auszuschließen, selbst wenn eine explizite technische Aufklärung und Mitteilung der Folgen und Risiken unterbleibt. Darauf verlassen sollten sich Architekten nicht.
Das Urteil wirft erhebliche Fragen für die Planungspraxis auf. Es setzt die Hürde für eine wirksame Risikoübertragung auf den Bauherrn sehr niedrig und schafft potenziell gefährliche Präzedenzfälle. Im Einzelnen:
1. Unzureichende Dokumentation als Haftungsfalle
- Der Architekt muss grundsätzlich sicherstellen, dass jede Abweichung von den a.a.R.d.T. detailliert dokumentiert und eindeutig vom Auftraggeber akzeptiert wird. Das Urteil suggeriert Gegenteiliges.
- Ein nur mündlicher oder sehr kurzer schriftlicher Hinweis könnte in anderen Fällen und vor anderen Gerichten als nicht ausreichend anerkannt werden, insbesondere wenn der Bauherr nicht fachkundig ist oder nachträglich behauptet, die Tragweite der Abweichung nicht verstanden zu haben. Die Schrift- oder Textform dient also auch der Warnung.
2. Aufklärungspflichten werden verwässert
- Das Urteil geht nicht auf die technische Notwendigkeit und den rechtlichen Rahmen von Abweichungen ein.
- In bisherigen höchstrichterlichen Entscheidungen wurde verlangt, dass Architekten nicht nur auf die Funktionsmängel, sondern auch auf alle relevanten Konsequenzen (Gefahren, Risiken) einer Abweichung von technischen Normen und a.a.R.d.T. hinweisen müssen.
- Das Urteil könnte als Einladung verstanden werden, weniger detailliert aufzuklären – mit unvorhersehbaren Folgen in künftigen Streitigkeiten.
Handlungsempfehlung: Trotzdem umfassend aufklären
Das Urteil sollte nicht als Freibrief, sondern vielmehr als Warnsignal verstanden werden. Es ist essenziell, dass Architekten ihre Aufklärungs- und Dokumentationspflichten nachweislich vollständig erfüllen, um sich vor Haftungsrisiken zu schützen, also:
1. Umfassende schriftliche Dokumentation
Jede Abweichung von den a.a.R.d.T. sollte detailliert beschrieben und durch den Auftraggeber bestätigt werden. Dabei sollten folgende Punkte beachtet werden:
- Beschreibung des technischen Sachverhalts (zum Beispiel: „Die Ausführung ohne Sonnenschutz entspricht nicht DIN 4108-2, mithin nicht den allgemein anerkannten Regeln der Technik.“)
- Klare Darstellung der funktionalen und tatsächlichen Folgen einer Abweichung (zum Beispiel: „Die Ausführung nach der einschlägigen DIN-Norm beziehungsweise den allgemein anerkannten Regeln der Technik ist aus Rechtsgründen erforderlich, da eine Abweichung Mängelhaftungsansprüche der Erwerber begründen kann.“)
- Einholung einer schriftlichen Zustimmung des Auftraggebers zur Abweichung nach der Aufklärung
2. Technische Aufklärung und Mitteilung der Folgen und Risiken kombinieren
Es reicht, anders als in diesem Fall, meist nicht aus, nur auf funktionale Probleme hinzuweisen. Stattdessen sollten Architekten explizit erläutern:, welche technischen Normen betroffen sind, warum eine Abweichung problematisch sein kann und welche Folgen und Risiken sich daraus ergeben (zum Beispiel: „Die Dachgeschosswohnungen erhitzen sich bei Sonneneinstrahlung stark. Mangels Sonnenschutz werden die Wohnungen temperaturbedingt temporär unbenutzbar sein.“)
3. Sicherstellen, dass der Auftraggeber die Tragweite der Abweichung versteht und verstanden hat
Ein Architekt sollte nicht nur die rein technische Lage erklären, sondern sich auch vergewissern, dass der Bauherr die Konsequenzen vollständig versteht. Dies kann durch eine gesonderte Risikobewertung (zum Beispiel Matrix) erfolgen. Empfehlenswert ist eine schriftliche Bestätigung mit Unterschrift, in der der Bauherr ausdrücklich erklärt,
- die Auswirkungen zu kennen, und
- das Risiko zu übernehmen, sowie
- den Architekten von der Haftung freizustellen.
Fazit: Urteil mit größter Vorsicht zu genießen
Wer sich auf das Urteil verlässt und nur knapp auf mangelnde Funktionalität verweist, geht ein hohes Risiko ein – spätestens, wenn ein Bauherr sich im Streitfall darauf beruft, er habe die Tragweite der Abweichung nicht erkannt.
Und es gilt: Die Fachkunde des Auftraggebers kann die Aufklärungspflicht beeinflussen. Im vorliegenden Fall war der Bauherr als Bauträger „fachkundig“. Darauf sollte sich der Architekt aber nicht verlassen und in aller Regel möglichst umfassend aufklären.
Das Urteil und die damit verbundene Rechtsunsicherheit machen die Notwendigkeit gesetzgeberischen Handelns deutlich, was auch für die Initiative zum Gebäudetyp E gilt, mit dem Abweichungen von den allgemein anerkannten Regeln der Technikerleichtert und rechtlich abgesichert werden sollen.
Dr. Marius Holdschik und Dr. A. Olrik Vogel sind Rechtsanwälte und Fachanwälte für Bau- und Architektenrecht bei SNP Schlawien Partnerschaft in München
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