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[ Auschwitz heute ]

Gedenken, bewahren, besuchen

Denkmalpflege, Tourismus und Pietät in Auschwitz heute

Buntes Gedenken: Touristen beim Betreten des nach dem Krieg teilrestaurierten Krematoriums im Lager Auschwitz 1

Von Roland Stimpel

Knapp eineinhalb Millionen Menschen besuchen jedes Jahr das frühere Konzentrationslager Auschwitz. Wo ankommende Häftlinge entlaust und geschoren wurden, besorgen sie Tickets und Kopfhörer. Unter dem „Arbeit macht frei“-Torbogen schalten manche ihre Handys aus. Nach dem Gang durch die Häftlingsblocks kaufen viele in einer Baracke Mineralwasser – meist ohne zu wissen, dass dort früher das Zyklon-B deponiert war. Und nicht wenige drängen mit aufnahmebereiter Kamera in die einzige erhaltene Gaskammer.

Der Massenauflauf hat manchmal makabre Züge. Aber bei den Betreibern der Gedenkstätte und bei Verbänden der letzten noch lebenden Häftlinge sind Besucher sehr willkommen. Je weiter die Besucher auf ihrer Tour sind, desto ernster wirken die meisten, willig zur Auseinandersetzung mit den Verbrechen und bereit zum Gedenken an die Getöteten. Und zwischen fast allen Besuchern besteht eine unausgesprochene Einigkeit – in Erschrecken und Erschütterung über die Verbrechen, aber auch in der Einigkeit über ihr Gegenteil, gemeinsame humane Grundwerte. „In einer Welt voller Relativismen finden wir hier das absolute Negative“, sagt der amerikanische Historiker Michael Berenbaum. „Hier lernt man über die Möglichkeiten des Menschen im Bösen. Man lernt die Macht von Staaten und Institutionen kennen, die Welt nach ihrem Willen zu formen – bis hin zur Vernichtung ganzer Völker.“

Enge und Beklemmung: Tor des Lagers Auschwitz 1

In den beiden Lagern Auschwitz 1 und Birkenau vermitteln auch die unterschiedlichen Raumverhältnisse Ahnungen von zwei Dimensionen des schrecklichen Geschehens. In Auschwitz 1, das als Instrument der Unterdrückung und Terrorisierung gegründet wurde, dominiert die Enge. Die düsteren, von den Nazis aufgestockten Backsteinbauten sind bedrohlich präsent. Um sie herum laufen die Doppelreihen der einst elektrisch geladenen Zäune mit ihren Totenkopf-Warnschildern. Zwischen ihnen liegen Erschießungs- und Erhängungsplätze; im Inneren der Baracken duckt man sich in Folterkellern und erschauert vor den aufgetürmten Brillen, Koffern und Zahnbürsten.

Leere und Bedrückung: Eigangsbau und Gleis an der Rampe für die „Selektionen“ im Lager Birkenau

In Auschwitz 1 beginnen allen geführten Touren; hier drängeln sich auf heute ganz harmlose Art die meisten Besucher. Ins achtmal größere Areal des Vernichtungslagers Birkenau kommen viele wegen knapper Zeit oder erschöpfter Kräfte nicht mehr;  die anderen verteilen sich auf der unüberblickbaren Fläche. Die engen Räume von Auschwitz 1 lassen schreien, die Weite und Leere von Birkenau lassen verstummen. Die meisten Baracken sind verschwunden; ihr Ort ist aber noch durch die Bodenplatten und durch den niedrigen Wald backsteinerne Schornstein-Stümpfe markiert. Durch das Nichts führen immer wieder Stacheldrahtzäune, die einzelne Lagerbereiche unterteilten und an denen heute die Enden gerissener Drähte von bröselnden Betonstümpfen hängen. Die Krematorien sind Ruinenhaufen; in die Keller mit den Gaskammern sind die vor Kriegsende gesprengten Betondecken hineingestürzt. Vereinzelte Gedenksteine, wie sie anderswo einem einzelnen Toten gelten, erinnern hier an Hunderttausende.

Im Großen zeigen beiden Lager verschiedene Ausprägungen des Horrors; in Details vermitteln beiden den gleichen Zynismus der Täter. An Barackenwänden liest man Parolen wie „Ehrlich währt am längsten“ oder „Eine Laus – dein Tod“. Ein Vorgärtchen mit Natursteinmauer suggeriert Idylle an der Birkenauer „Blockführerstube“, doch hier erwarteten die SS-Leute die Güterzüge, deren Insassen sie zwischen Gaskammer und Sklaverei „selektierten“. Ein Wetterhahn ziert das Wächterhäuschen auf dem Appellplatz – drunter sollte es der Aufpasser trocken haben, während Häftlinge dort in ihrer gestreiften dünnen Kleidung ganze Winternächte strammstehen mussten. Über dem Eingang zur Lagerleitung montierte man an die Laterne das Blechprofil des Doktor Faust, auf dem Fass reitend – deutsche Hochkultur am Verwaltungsbau des Massenmords.

Wie bewahrt man das alles – mit welchen Mitteln und nach welchem Prinzip? Auschwitz ist eine monumentale Herausforderung für Denkmalpfleger – quantitativ, technisch und moralisch. Bewahrung ist Pflicht: 1947 beschloss Polens Parlament, die beiden Lager als „Gedenkstätten menschlichen Leidens und für alle Zeiten als sichtbares Zeichen der hier begangenen Verbrechen zu erhalten“. Seit 1979 sind sie als Unesco-Weltkulturerbe  anerkannt. Sie liegen in der Obhut der Nationalstiftung „Staatliches Museum Auschwitz-Birkenau“.

Ort der Dokumentation und Ort des Gedenkens: Treppe zum früheren Keller des Krematoriums 2 mit der Gaskammer

191 Hektar umfasst die Gedenkstätte mit den beiden Lagern – 20 Hektar in Auschwitz 1 und 171 in Birkenau. Es gibt 154 erhaltene Gebäude und 300 Ruinen, 2220 Meter Bahngleise, 10.955 Meter festen Wege und 13844 Meter Zäune. Rund 120 Millionen Euro erfordern die Konservierung des Lagers, die nötigen Reparaturen und Sanierungen. Jahrzehntelang war das arme sozialistische Polen mit der Erhaltung alleingelassen und überfordert. Die Einmischung westlicher Staaten war unerwünscht; dem Westen wiederum verschaffte der eiserne Vorhang bequeme Distanz. Erst nach Ende des kalten Krieges begann sich Deutschland  engagieren, zunächst mit 10 Millionen Mark in den 1990er Jahren, 2009 dann mit 60 Millionen Euro für die Bewahrung des Lagers. Eine späte, aber überfällige Handlung: Auschwitz ist vom Rechtsvorgänger des heutigen deutschen Staates errichtet, ist an einem Ort gebaut, den sich Deutschland gerade gewaltsam einverleibt hatte, und diente dem furchtbarsten aller deutschen Staatsziele.

Zu tun ist unendlich viel. Gebäude liegen im Grundwasser, Holztürme verwittert, Draht rostet, die Keramik-Isolierung der mörderischen Elektrozäune zerbricht. Vieles war von vornherein nur für kurze Zeit gebaut, vieles mit technischen Mängeln und schlechtem Material – und fast alles von gehetzten, hungernden, ständig von Terror betroffenen und vom Tod bedrohten Häftlingen. Soll man den Verfall tolerieren, der auch die die unmenschlichen Arbeits- und Haftbedingungen bezeugt, oder soll man durch Reparatur bewahren, aber auch aus dem Sinn schaffen, was und wie sie bauen mussten?

Das ist nur einer von vielen Widersprüchen, vor denen die Pfleger dieses Erbes heute stehen. Die Gedenkstätte ist mit Aufgaben überlastet. Sie soll das bewahren, was materiell überliefert ist. Sie soll aber auch dokumentieren, was in längst zerstörten, verfallenen und verschwundenen Gebäuden und Räumen geschah. Sie soll der Forschung, dem humanitären, politischen und religiösen Gedenken dienen. Und das alles unter Wahrung der Würde, die der größte gräberlose Friedhof der Welt verlangt.

Im Lauf der Jahrzehnte wurden drei sehr verschiedene Konzepte diskutiert und gelebt. Das erste bezeichnet der Krakauer Architekt und Denkmalpfleger Władysław Niessner als „rekonstruktiv-didaktischen Ansatz“: Die Lager sollen wieder so aussehen, wie sie von der SS betrieben wurden. Dieser Ansatz herrschte in den Nachkriegsjahren vor: In den 1950er und 6t0er Jahren wurden der abgerissene Schornstein und der zugestopfte Giftgas-Einwurfschacht am ersten Auschwitzer Krematorium rekonstruiert, ebenso die „schwarze Wand“, an der Gefangene erschossen wurden und die  0,8 Quadratmeter engen Stehzellen, in die bis zu vier Gefangene gequetscht wurden. In jüngerer Zeit wurde und wird nichts komplett Verschwundenes rekonstruiert, aber Nachkriegs-Rekonstruktionen werden nicht rückgängig gemacht. „Es gibt wichtigeres zu tun“, sagt eine Museums-Mitarbeiterin. Alle Besucherführer erklären aber präzise, was nach 1945 erneut hergestellt wurde wurde.

Den zweiten Ansatz für den Umgang mit dem Lager bezeichnet Niessner als  ist das „Konzept der Nicht-Eingreifens“, durch das die Überreste des Lagers allmählich verschwinden würden. Doch das wäre eine Scheinlösung, die die Taten nicht ungeschehen machen, aber ihre Spuren verwischen würde. Absichtlich verfolgt wurde dieses Konzept nie; der Verfall dieses Lagers ging jedoch in diese Richtung – nicht aus Desinteresse, sondern aus Mangel an Mitteln zur Konservierung.

Restaurierungs-Thema Zäune: 13-Punkte-Programm für die Pfähle

Heute herrscht ein breiter Konsens für Konzept drei, die Erhaltung des Lagers. Aber was sie bedeutet, muss bei jeder Bauaufgabe neu diskutiert und definiert werden. Nur ein Beispiel von vielen sind die Zäune und hier der Umgang mit Draht und Kabeln, mit Scheinwerfern und Isolatoren, Toren und Mauern. Allein den Zaunpfählen widmeten sich im Lauf der Jahre drei Konferenzen. Sie diskutierten und reflektierten ein  13 Punkte umfassendes Programm, von der „Einteilung aller Stahlbetonpfähle in vier Beschädigungs-Kategorien“ über die „Demontage der Isolatoren und Überprüfung, welche für eine erneute Montage geeignet sind“ bis zur „Wiederherstellung des Geländes um die Pfähle herum unter Verwendung des authentischen Materials, im unerlässlichen Fall dessen Ergänzung“.

Restauriert ist auch das irritierend als „Zentralsauna“ bezeichnete Gebäude ganz hinten im Lager Birkenau, zwischen den Ruinen von vier Krematorien. Hier hindurch alle angekommenen Häftlinge, die nicht sofort in die Gaskammern gejagt wurden. Hier wurden sie kahlgeschoren, entlaust, ihrer Kleidung und ihres Namens beraubt und zur Nummer gemacht, die die Tätowierung im Arm festhielt. Dieser Ort gibt heute einigen  Einzelnen posthum etwas von ihrer individuellen Würde zurück: Eine Ausstellung bricht die Anonymität des Massentodes auf, indem sie Bilder aus den geretteten Fotoalben einzelner zeigt. Etwa der Familie Malach aus Będzin in Südpolen. Man sieht sie um den Tisch sitzen und im Hof gruppiert; ein Mädchen mit Geigen und Männer mit Schürzen in der Fabrik für koschere Wurst. Man sieht die immer lächelnde Sara in Schwesterntracht, im Ruderboot und mit ihrem Baby Abraham im Arm. Normale Menschen, die bis 1939 ein normales Leben in der polnischen Provinz lebten. Die beiden letzten Bilder zeigen Sara, Abraham und seinen Vater Yitzak mit Judenstern auf dem Jackett und Abraham auf einem Stuhl stehend, am Neujahrstag 1943 im Ghetto von Będzin. Alle dort Eingesperrten wurden im selben Jahr nach Auschwitz deportiert. Dort gibt es von ihnen selbst keine Spur mehr. Nur ihre Fotos in dem fabrikartigen Ziegelbau am Waldrand von Birkenau sind weiter in der Welt.


Link zur Geschichte und den Bildern der Malachs und anderer Familien .

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