Dieser Beitrag ist unter dem Titel „Kollaboration und Experiment“ im Deutschen Architektenblatt 03.2024 erschienen.
Es ist die grundlegende Frage, die sich fast jeder Architekturstudent irgendwann stellt: „Mache ich mich selbstständig – und wenn ja, wie?“ Sarah Behrens und Ina Westheiden von The Baukunst Dynamites haben diese Frage mit einem entschiedenen „Ja“ beantwortet. Und sie gehen dabei ihren ganz eigenen Weg.
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Architekturlabel statt Büroname
Das zeigt schon der ungewöhnliche Büro-Name – der von den beiden Architektinnen allerdings nicht unbedingt gewählt wurde, um Aufmerksamkeit zu erregen. Stattdessen soll er laut Sarah Behrens eine Haltung transportieren.
Denn sie bezeichnen sich nicht als Büro, sondern als Label: „Wir haben uns von Anfang an als Architekturlabel verstanden, das in einem Netzwerk als großes Team agiert. Es ging uns darum, dass wir uns frei, flexibel, dynamisch und ohne starre Struktur entwickeln können. The Baukunst Dynamites klang für uns nach einem Sportteam oder einer Popband, die diese Dynamik im Namen aufgreift.“
Die Haltung einer hierarchiefreien, büroübergreifenden Zusammenarbeit ist seit einigen Jahren populär unter jungen Architekten – und durchaus erfolgreich. So gewann zum Beispiel das Architekturkollektiv Assemble aus London 2015 den renommierten Turner Prize.
Paradigmenwechsel: Kollektiv statt Stararchitekt
Ein weiteres Beispiel ist die Architekturgenossenschaft Lacol aus Barcelona, in der alle Mitarbeiter gleichberechtigt sind. Auch in Deutschland haben sich in den letzten Jahren junge Architektinnen und Architekten zusammengefunden, um Kollektive zu gründen, beispielsweise ON/OFF in Berlin, DIESE Studio in Darmstadt oder Kollektiv A in München (Vorstellung in diesem Beitrag).
Ihr Selbstverständnis steht im größtmöglichen Kontrast zum überlebensgroßen Stararchitekten – der ohnehin wenig mit dem Alltag in Architekturbüros zu tun hat. Für The Baukunst Dynamites geht es aber nicht nur um einen Paradigmenwechsel, sondern auch um ganz pragmatische Dinge, wie Sarah Behrens erläutert:
Es braucht ein gutes Team
„Bauaufgaben sind gerade für ein junges Architekturlabel unglaublich komplex. Deshalb braucht man ein gutes Team. Das besteht bei uns aber nicht nur aus The Baukunst Dynamites, sondern aus einem Geflecht von möglichen Kooperationspartnern, die sich gegenseitig helfen, diese Komplexität zu meistern.
The Baukunst Dynamites: der erste Auftrag
Kooperativ ging es auch schon bei der Bürogründung zu. Den Anfang machte das Hölzel-Haus: Das 1905 errichtete Wohnhaus des Malers Adolf Hölzel wurde von Sarah Behrens und Ina Westheiden saniert, barrierefrei ausgebaut und erweitert. Für das Projekt sollte ursprünglich ein Architekturwettbewerb ausgelobt werden, der sich speziell an Absolventen der Stuttgarter Kunstakademie richtete.
„Ein klassischer Wettbewerb fand dann gar nicht statt, weil sich stattdessen eine Gruppe von fünf AbsolventInnen zusammengefunden hatte, zu der Ina Westheiden und ich gehörten. Wir kannten uns alle vom Studium und hatten das Gefühl, dass wir lieber zusammen als gegeneinander arbeiten wollen“, sagt Sarah Behrens über die Entstehungsgeschichte. „Am Schluss haben dann meine Partnerin und ich das Projekt bis zur letzten Leistungsphase durchgezogen. Zeitgleich zum Hölzel-Haus haben wir The Baukunst Dynamites gegründet.“
Erinnerung an Adolf Hölzel
In dem villenartigen Gebäude, in dem Adolf Hölzel, ein Wegbereiter der Moderne, bis 1934 lebte, hat heute eine Stiftung ihren Sitz. Gegründet wurde sie 2005 von Doris Dieckmann-Hölzel, der Enkelin des Malers. Hier finden Lesungen, Vorträge, Ausstellungen und Führungen statt, die an Hölzels künstlerisches Erbe erinnern sollen.
Im Erdgeschoss befinden sich Archiv- und Verwaltungsräume. Im ersten Obergeschoss kann man eine Ausstellung mit den Arbeiten des Malers besichtigen. Zudem gibt es eine Wohnung für Stipendiaten im Dachgeschoss. Im neu hinzugefügten Anbau, der 2022 fertiggestellt wurde, ist eine Kunstschule untergebracht, die Kurse für Kinder, Jugendliche und Erwachsene anbietet. Dafür entwarfen die Architektinnen eine Erweiterung, die sie als „Doppelgänger Reloaded“ bezeichnen.
Unscheinbare Villa wird zum Hingucker
Der in einer Villengegend im Stuttgarter Süden gelegene Bestandsbau präsentiert sich als großzügiges, wenn auch architektonisch unscheinbares Haus. Ein großes Mansardendach mit Biberschwanzziegeln thront über dem verputzten Gebäudevolumen in beige-weiß-braunem Farbanstrich.
Umso überraschender mutet die Entscheidung der Architektinnen an, die exakte Kopie eines Gebäudesegments in Holzrahmenbauweise zu erstellen, das sich als entfärbter Doppelgänger L-förmig um den Bestand legt. Da der ehemalige Haupteingang nur über eine kleine Treppe zu erreichen ist, erfolgt der barrierefreie Zugang nun ein Geschoss tiefer vom Garten aus.
Spielerisches Raumgefüge zwischen Neu und Alt
Von dort betritt man einen zweigeschossigen Luftraum, in dem sich augenblicklich das räumliche und gestalterische Potenzial des Konzepts offenbart. Die Gegenüberstellung von Alt und Neu erzeugt hier ein spielerisches Raumgefüge, in dem die ehemaligen Dach- und Fassadensegmente zur räumlichen Skulptur werden.
Dabei wird die damit einhergehende Überlagerung von Zeitschichten nicht nur durch die Geometrie der Gebäudeteile, sondern auch durch die Materialität und deren Textur erzeugt: Statt gelb verputzten Wänden und rötlichen Ziegeln weist der Anbau Betonziegel und eine grau-weiße Farbgebung auf. Im Innern treffen seine schwarz-weißen Terrazzofliesen auf die beige-braunen Terrazzofliesen des Bestands.
Zeitschichten sichtbar machen
Hinzu kommen lisenenartige Vorsprünge auf den inneren Wand- und Dachflächen des neuen Gebäudeteils, die als Hinweis auf die Raumstruktur des Altbaus dienen. „Das Gebäude wurde in der Vergangenheit öfter mal saniert und umfasst deshalb auch Elemente, die nicht aus der Originalzeit stammen. Wir haben bewusst mit diesen unterschiedlichen Zeitschichten gearbeitet und sie 1 : 1 kopiert. Einerseits wollten wir dadurch den Bestand respektieren. Anderseits wird das Gebäude, das vor unserem Umbau ein alltägliches Bauobjekt war, durch subtile Überlagerungen plötzlich zu etwas Besonderem“, fasst Sarah Behrens das Konzept zusammen.
Wohnen mit Morris: ein Zimmer, viele Funktionen
Ein weiteres Beispiel für den kollaborativen Ansatz des Büros ist das Projekt „Wohnen mit Morris“, bei dem The Baukunst Dynamites 2020 eine 36 Quadratmeter große Wohnung in Stuttgart sanierten. „An den Auftrag sind wir über unseren Bekanntenkreis gekommen. Zuerst klang die Aufgabe eher nach der klassischen Sanierung einer kleinen Mietwohnung. Als wir den Bauherrn dann näher kennenlernten, zeigte sich immer mehr, dass er sehr aufgeschlossen und experimentierfreudig war“, sagt Sarah Behrens über das Projekt. Das Ergebnis ist eine Einraumwohnung, in der Arbeiten, Wohnen, Kochen, Essen und Schlafen in einem flexiblen Raumgefüge zusammengefasst sind.
Hoch und weg: Beim "Wohnen mit Morris" lässt sich das Bett nach oben klappen und gibt den Raum frei. (Klicken für mehr Bilder)
Vorhänge zonieren die Wohnung
Durch opake und transluzente Vorhänge lassen sich die einzelnen Funktionen, wie das frei im Raum platzierte Küchen- und Badelement, je nach Bedarf hinzufügen oder abtrennen. Mit ihrer ornamentalen Textur bilden die Stoffvorhänge einen Kontrast zur offen verlegten Haustechnik und dem weiß gehaltenen Mobiliar.
Die äußerste Vorhangschicht dient als Namensgeber für das Apartment, da die Architektinnen den vom britischen Arts-and-Crafts-Künstler William Morris entworfenen Stoff Willow Bough verwendeten. So wird die Wohnung zum spielerischen Raumwunder, mit dem Sarah Behrens und Ina Westheiden auch einen Gegenentwurf zur Funktionstrennung der Moderne entwickeln wollten.
Zum Geld verdienen parallel angestellt
Auch wenn diese ersten Projekte Aufmerksamkeit erregten, arbeiteten die beiden noch während der Umsetzung des Hölzel-Hauses parallel in Architekturbüros, um Geld zu verdienen. Zudem sammelten sie Erfahrungen in der Lehre – zum Beispiel am Reallabor Space Sharing der Kunstakademie Stuttgart, einem Forschungsvorhaben, das sich auf experimentelle Weise mit neuen Nutzungsmöglichkeiten in Bestandsgebäuden auseinandersetzt.
So bauten sie schrittweise ihre Selbstständigkeit auf, bevor sie 2019 endgültig den Sprung in die Vollzeit wagten. Bislang hat das Büro keine festen Angestellten. The Baukunst Dynamites besteht aus den beiden Bürogründerinnen, die sich bei Bedarf Freelancer, Werkstudentinnen oder Praktikanten für Wettbewerbe oder spezifische Bauaufgaben hinzuholen.
Architektur an der Schnittstelle zur Kunst
Ihre Büroräume befinden sich in den Wagenhallen, einem Kulturraum mit Ateliers, Büroflächen und Werkstätten am Stuttgarter Nordbahnhof. Sarah Behrens erzählt: „Das künstlerische und kreative Umfeld hier gefällt uns sehr gut. Wir verstehen uns zwar als Architektinnen, arbeiten aber meist sehr konzeptionell an der Schnittstelle zur Kunst.“
Beispiele dafür sind zwei Installationen in der Stuttgarter Weissenhofsiedlung: Zum einen eine architektonische Glückwunschkarte in Form eines Lamettavorhangs, mit dem das Weissenhofmuseum zum fünfjährigen Jubiläum des Unesco-Weltkulturerbes Le Corbusier verkleidet wurde – eine Verfremdung, mit der The Baukunst Dynamites in spielerischer Weise auf den Bau und seine Geschichte aufmerksam machen wollten.
Was bleibt? Was geht?
Zum anderen eine Installation, die Sarah Behrens und Ina Westheiden für das IBA-27-Festival entwickelten. Dafür entwarfen die Architektinnen ein Turmgerüst, das nahe der Weissenhofsiedlung positioniert wurde. Es wirkte als Landmarke in die Stadt hinein und fragte in großen, darauf angebrachten knallroten Buchstaben: „Was bleibt? Was geht? Was kommt?“
Damit sollte die Installation unter anderem das Erbe und die Zukunft der Stuttgarter Architekturmoderne am Weissenhof thematisieren – eine Frage, bei der The Baukunst Dynamites ein Teil der Antwort sein könnten.
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