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Systemwandel statt Sparlogik: Strategien für das Bauen von morgen

Reallabor Radbahn Berlin – Infrastruktur im Maßstab 1:1 testen: Dass die Teststrecke mit 200 Metern kurz ist und die räumliche Überladung kritisiert wird, ist Teil des Programms: Reallabore sollen Erkenntnisse produzieren – nicht perfekte Räume.

Bettina Sigmund
22.12.2025
Infrastruktur Baukultur Bundesweit
Das Reallabor Radbahn Berlin wurde 2025 mit dem Deutschen Landschaftsarchitekturpreis in der Kategorie Infrastruktur und Mobilität ausgezeichnet. © Fabulism+Nuko

In Berlin wurde im Juni 2024 ein Testfeld eröffnet, das ein Jahrzehnt planerischer Debatten unter der Hochbahntrasse der U1 physisch erfahrbar macht. Das Reallabor Radbahn, entstanden aus einer zivilgesellschaftlichen Initiative, von 2019 bis 2024 im Rahmen des Bundesprogramms „Nationale Projekte des Städtebaus“ gefördert, transformiert rund 200 Meter vormals zugeparkter Restflächen in einen öffentlichen Raum, der Mobilitäts-, Klimaanpassungs- und Aufenthaltsfunktionen verbindet. In seiner hybriden Mischung aus Infrastrukturtest, klimaresilienter Freiraumgestaltung und sozialem Stadtexperiment zeigt das Reallabor Radbahn, wie Mobilitätspolitik räumlich verhandelt werden kann. Wie es weitergeht, hängt nun von politischen Entscheidungen ab.  

Ein schwieriger Ort und eine ambitionierte Idee

Die U1 verläuft als Hochbahn über eine der verkehrsreichsten Ost-West-Achsen Kreuzbergs. Seit 2015 verfolgte der Verein Paper Planes e.V. die Vision, den ungenutzten Raum darunter in einen wettergeschützten Radweg und qualitätsvollen Stadtraum zu verwandeln. Zu den prägenden Köpfen gehörte Matthias Heskamp, Architekt und später Geschäftsführer des Reallabors Radbahn, der die Idee über Jahre kuratorisch, planerisch und öffentlich vorangetrieben hat. Nach Inkrafttreten des Berliner Mobilitätsgesetzes 2018 war klar, dass die notwendigen Mindestbreiten für sichere Zweirichtungsradwege an vielen Stellen nicht zwischen die Stützen des historischen Viadukts passten. Eine 2023 veröffentlichte Machbarkeitsstudie des Senats schlug daher eine Neuausrichtung vor: Radverkehr künftig auf der nördlichen Fahrbahn, unter dem Viadukt hingegen Flanieren, Grün und Aufenthaltsangebote. Das Testfeld bildet diesen Perspektivwechsel ab: Es zeigt weniger Radweg, dafür mehr urbanes Experiment. 

Lageplan der U1-Radbahn, markiertes Testfeld zwischen Kottbusser Tor und Görlitzer Bahnhof.
Die ursprünglich geplante 9 km lange Klimamagistrale durch Berlin. Nur das Testfeld zwischen Kottbusser Tor und Görlitzer Bahnhof wurde realisiert. © Fabulism+Nuko
Schnittdarstellung vorher–nachher, Umgestaltung des Raums unter der Hochbahn von Autonutzung zu Rad- und Grünraum.
Einst verlorener Raum, der nur als Parkplatz genutzt wurde, trägt die Testfeldstrecke unter der Hochbahn nun zur Klimaregulierung der Stadt bei. © Fabulism+Nuko
Axonometrische Darstellung der Radbahn, mit Begrünung, Regenwasserfilterung, Aufenthaltsbereichen und Hochbahn darüber.
Die neue Vegetation dient als Lärmfilter, Schutzpuffer und Luftfilter. Regenwasser wird vor Ort gereinigt und zur Bewässerung der robusten und trockenheitsresistenten Vegetation eingesetzt. © Fabulism+Nuko

Klimaresilienz als Leitmotiv der Landschaftsarchitektur

Das Team der Landschaftsarchitektinnen und -architekten von Fabulism+Nuko PartGmbB nutzte den extremen Standort konsequent als Labor für klimaresiliente Freiraumentwicklung. Der Entwurf folgt zwei Leitideen: Entsiegelung und ökologische Aktivierung sowie robuste Gestaltung im Bestand. Dafür wurden ehemalige Parkplatzflächen entsiegelt und mit offenen Fugen, wasserdurchlässigen Belägen und stark differenzierten Substraten neu aufgebaut. Es entstand ein Mosaik aus Boden- und Standorttypen, ein experimentelles Set-up, das besonders für klimaextreme Jahre relevant ist: Die Bepflanzung – rund 90 Gehölze sowie mehr als 4.000 Stauden und Gräser – setzt auf mediterrane und trockenheitsresistente Arten. Damit adressiert sie die besonderen Bedingungen des Viaduktraums, der trotz Überdachung starken Temperaturspitzen ausgesetzt ist und nur begrenzt Niederschlagswasser erhält. Das eigens entwickelte Wassermanagement sorgt dafür, dass Regenwasser gezielt in gemuldete Bereiche geleitet wird. Zusätzlich wurde ein gemeinsam mit der TU Berlin entwickeltes Filterbeet installiert, welches von den Gleisen tropfendes Wasser reinigt und seine Eignung zur Bewässerung sicherstellt. 

Gestalterisch gliedert die Landschaftsarchitektur das Testfeld in eine Interaktionsinsel und eine Radinsel, verbunden durch ein dichtes grünes Band. Während erstere mit Sitzgelegenheiten, klangbasierten Installationen und kleinen Kunstinterventionen einen sozialen Aufenthaltsraum schafft, konzentriert sich die Radinsel mit Reparaturstation und Schlauchautomat auf die funktionalen Bedürfnisse von Radfahrenden. Der Entwurf setzt auf die Wiederverwendung vorhandener Materialien: Alte Betonsteine wurden neu verlegt, Granitborde zu Trittsteinen geschnitten und in die Vegetation eingebettet.    

Unter dem Viadukt entstand ein unüblicher Freiraumtypus eines überdachten Parks, der Aufenthaltsqualität, ökologische Leistungsfähigkeit und Mobilitätsfunktionen in einem räumlichen System vereint. Die Landschaftsarchitektur schafft dabei die strukturelle Grundlage – sie macht die Teststrecke zu einem erfahrbaren, widerstandsfähigen Stadtraum und liefert wertvolle Erkenntnisse für zukünftige Umnutzungen vergleichbarer Verkehrs- und Infrastrukturräume in Großstädten. 

Radweg unter einer Hochbahn, getrennte Spur mit Markierungen, bepflanzte Streifen und Wassertank zur Bewässerung.
Der versiegelte Bodenbelag wurde komplett abgetragen und durch verschiedene wasserdurchlässige Bodentypen ersetzt, die gute Bedingungen für die neu angepflanzte Vegetation bieten. Wassercontainer speichern das Regenwasser vor Ort. © Fabulism+Nuko
Sitzbank und Stadtmöbel entlang des Radwegs unter der Hochbahn, mit Holzmodulen, Begrünung und Straße im Hintergrund.
Die Eingriffe sind niedrigschwellig mit einfachen Plattformen und Bänken. Der Raum soll sich entwickeln und durch die Anwohnenden angeeignet werden. © Fabulism+Nuko
Zentralperspektive des Radwegs unter der Hochbahn, beleuchtete Konstruktion, Sitzgelegenheiten und bepflanzte Randbereiche.
Interaktionsinseln mit Stadtmöblierungselementen wie Sitzbank und Soundelement oder Informationstafeln laden dazu ein, den Stadtraum zu nutzen. © Fabulism+Nuko

Ein Stück Zukunft auf Zeit 

Die Radbahn ist eines jener Projekte, das stark von der Dynamik zwischen öffentlicher Förderung, planerischer Innovation und politischer Realität geprägt ist. Das Reallabor wurde im Rahmen des Bundesprogramms „Nationale Projekte des Städtebaus“ mitfinanziert, ergänzt durch Mittel des Landes Berlin und des Bezirks Friedrichshain-Kreuzberg. Die Förderung zielte darauf ab, den untergenutzten Raum für neue Mobilitäts- und Freiraumtypologien zu aktivieren. Mit dem offiziellen Abschluss des Förderzeitraums ging das Projekt nun in eine Phase über, die durch politische und administrative Entscheidungen geprägt ist. Auch wenn das Reallabor die Qualitäten klimawirksamer Entsiegelung, punktueller Begrünung und alternativer Mobilitätsangebote erfolgreich sichtbar gemacht hat, ist der Schritt von der temporären Erprobung zur dauerhaften Verstetigung ungewiss. Laut Presseberichten bestätigte die Senatsverwaltung, dass es derzeit keinen Beschluss zur Umsetzung der geplanten, rund neun Kilometer langen Gesamtstrecke gibt. Die Verwaltung verweist auf die Notwendigkeit weiterer Untersuchungen zu Leistungsfähigkeit, Kosten und Verkehrsauswirkungen.  

Damit befindet sich das Projekt in einem Zustand zwischen „bewährter Idee“ und „politisch zurückgestellter Vision“. Das Testfeld hat gezeigt, wie reversible und niedrigschwellige Eingriffe räumliche und ökologische Potenziale freisetzen können; gleichzeitig zeigt sein aktueller Zustand die Grenzen experimenteller Mobilitätsprojekte, die ohne politischen Rückhalt kaum durchsetzbar sind. Gleichwohl bleibt die Radbahn – auch in ihrer fragmentarischen Form – ein wertvolles Beispiel dafür, wie städtische Infrastruktur durch temporäre Erprobungen neu verhandelt werden kann. 

Weitere Informationen unter: 

https://fabulismoffice.com/project/testfeld-reallabor-radbahn/

https://www.nuko.team/radbahn-berlin
 
https://www.deutscher-landschaftsarchitektur-preis.de/wettbewerb-2025/preis-2025/224-testfeld-reallabor-radbahn-berlin-kreuzberg 

Bettina Sigmund

Spezialistin für Architekturkommunikation München

Bettina Sigmund ist Spezialistin für Architekturkommunikation. Sie ist Inhaberin von „Aboutarchitecture“ und Partnerin der „ARGE Kommunikation“. Ihre Tätigkeit umfasst Redaktion, PR und strategische Beratung für alle Akteure der Baubranche.