Systemwandel statt Sparlogik: Strategien für das Bauen von morgen
Reallabor Radbahn Berlin – Infrastruktur im Maßstab 1:1 testen: Dass die Teststrecke mit 200 Metern kurz ist und die räumliche Überladung kritisiert wird, ist Teil des Programms: Reallabore sollen Erkenntnisse produzieren – nicht perfekte Räume.
In Berlin wurde im Juni 2024 ein Testfeld eröffnet, das ein Jahrzehnt planerischer Debatten unter der Hochbahntrasse der U1 physisch erfahrbar macht. Das Reallabor Radbahn, entstanden aus einer zivilgesellschaftlichen Initiative, von 2019 bis 2024 im Rahmen des Bundesprogramms „Nationale Projekte des Städtebaus“ gefördert, transformiert rund 200 Meter vormals zugeparkter Restflächen in einen öffentlichen Raum, der Mobilitäts-, Klimaanpassungs- und Aufenthaltsfunktionen verbindet. In seiner hybriden Mischung aus Infrastrukturtest, klimaresilienter Freiraumgestaltung und sozialem Stadtexperiment zeigt das Reallabor Radbahn, wie Mobilitätspolitik räumlich verhandelt werden kann. Wie es weitergeht, hängt nun von politischen Entscheidungen ab.
Ein schwieriger Ort und eine ambitionierte Idee
Die U1 verläuft als Hochbahn über eine der verkehrsreichsten Ost-West-Achsen Kreuzbergs. Seit 2015 verfolgte der Verein Paper Planes e.V. die Vision, den ungenutzten Raum darunter in einen wettergeschützten Radweg und qualitätsvollen Stadtraum zu verwandeln. Zu den prägenden Köpfen gehörte Matthias Heskamp, Architekt und später Geschäftsführer des Reallabors Radbahn, der die Idee über Jahre kuratorisch, planerisch und öffentlich vorangetrieben hat. Nach Inkrafttreten des Berliner Mobilitätsgesetzes 2018 war klar, dass die notwendigen Mindestbreiten für sichere Zweirichtungsradwege an vielen Stellen nicht zwischen die Stützen des historischen Viadukts passten. Eine 2023 veröffentlichte Machbarkeitsstudie des Senats schlug daher eine Neuausrichtung vor: Radverkehr künftig auf der nördlichen Fahrbahn, unter dem Viadukt hingegen Flanieren, Grün und Aufenthaltsangebote. Das Testfeld bildet diesen Perspektivwechsel ab: Es zeigt weniger Radweg, dafür mehr urbanes Experiment.
Klimaresilienz als Leitmotiv der Landschaftsarchitektur
Das Team der Landschaftsarchitektinnen und -architekten von Fabulism+Nuko PartGmbB nutzte den extremen Standort konsequent als Labor für klimaresiliente Freiraumentwicklung. Der Entwurf folgt zwei Leitideen: Entsiegelung und ökologische Aktivierung sowie robuste Gestaltung im Bestand. Dafür wurden ehemalige Parkplatzflächen entsiegelt und mit offenen Fugen, wasserdurchlässigen Belägen und stark differenzierten Substraten neu aufgebaut. Es entstand ein Mosaik aus Boden- und Standorttypen, ein experimentelles Set-up, das besonders für klimaextreme Jahre relevant ist: Die Bepflanzung – rund 90 Gehölze sowie mehr als 4.000 Stauden und Gräser – setzt auf mediterrane und trockenheitsresistente Arten. Damit adressiert sie die besonderen Bedingungen des Viaduktraums, der trotz Überdachung starken Temperaturspitzen ausgesetzt ist und nur begrenzt Niederschlagswasser erhält. Das eigens entwickelte Wassermanagement sorgt dafür, dass Regenwasser gezielt in gemuldete Bereiche geleitet wird. Zusätzlich wurde ein gemeinsam mit der TU Berlin entwickeltes Filterbeet installiert, welches von den Gleisen tropfendes Wasser reinigt und seine Eignung zur Bewässerung sicherstellt.
Gestalterisch gliedert die Landschaftsarchitektur das Testfeld in eine Interaktionsinsel und eine Radinsel, verbunden durch ein dichtes grünes Band. Während erstere mit Sitzgelegenheiten, klangbasierten Installationen und kleinen Kunstinterventionen einen sozialen Aufenthaltsraum schafft, konzentriert sich die Radinsel mit Reparaturstation und Schlauchautomat auf die funktionalen Bedürfnisse von Radfahrenden. Der Entwurf setzt auf die Wiederverwendung vorhandener Materialien: Alte Betonsteine wurden neu verlegt, Granitborde zu Trittsteinen geschnitten und in die Vegetation eingebettet.
Unter dem Viadukt entstand ein unüblicher Freiraumtypus eines überdachten Parks, der Aufenthaltsqualität, ökologische Leistungsfähigkeit und Mobilitätsfunktionen in einem räumlichen System vereint. Die Landschaftsarchitektur schafft dabei die strukturelle Grundlage – sie macht die Teststrecke zu einem erfahrbaren, widerstandsfähigen Stadtraum und liefert wertvolle Erkenntnisse für zukünftige Umnutzungen vergleichbarer Verkehrs- und Infrastrukturräume in Großstädten.
Ein Stück Zukunft auf Zeit
Die Radbahn ist eines jener Projekte, das stark von der Dynamik zwischen öffentlicher Förderung, planerischer Innovation und politischer Realität geprägt ist. Das Reallabor wurde im Rahmen des Bundesprogramms „Nationale Projekte des Städtebaus“ mitfinanziert, ergänzt durch Mittel des Landes Berlin und des Bezirks Friedrichshain-Kreuzberg. Die Förderung zielte darauf ab, den untergenutzten Raum für neue Mobilitäts- und Freiraumtypologien zu aktivieren. Mit dem offiziellen Abschluss des Förderzeitraums ging das Projekt nun in eine Phase über, die durch politische und administrative Entscheidungen geprägt ist. Auch wenn das Reallabor die Qualitäten klimawirksamer Entsiegelung, punktueller Begrünung und alternativer Mobilitätsangebote erfolgreich sichtbar gemacht hat, ist der Schritt von der temporären Erprobung zur dauerhaften Verstetigung ungewiss. Laut Presseberichten bestätigte die Senatsverwaltung, dass es derzeit keinen Beschluss zur Umsetzung der geplanten, rund neun Kilometer langen Gesamtstrecke gibt. Die Verwaltung verweist auf die Notwendigkeit weiterer Untersuchungen zu Leistungsfähigkeit, Kosten und Verkehrsauswirkungen.
Damit befindet sich das Projekt in einem Zustand zwischen „bewährter Idee“ und „politisch zurückgestellter Vision“. Das Testfeld hat gezeigt, wie reversible und niedrigschwellige Eingriffe räumliche und ökologische Potenziale freisetzen können; gleichzeitig zeigt sein aktueller Zustand die Grenzen experimenteller Mobilitätsprojekte, die ohne politischen Rückhalt kaum durchsetzbar sind. Gleichwohl bleibt die Radbahn – auch in ihrer fragmentarischen Form – ein wertvolles Beispiel dafür, wie städtische Infrastruktur durch temporäre Erprobungen neu verhandelt werden kann.