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Berliner Mobilitätsgesetz: Verkehrswende im Stillstand?

Berlin wollte Vorreiter der Verkehrswende sein. Doch Tempo, Radwege und Bäume hinken den Zielen hinterher – warum steckt der Umbau zwischen Anspruch und Wirklichkeit fest?

Claus Käpplinger
22.12.2025
Nachhaltigkeit Mobilität Berlin
Ruhige, baumbestandene Wohnstraße mit Sitzbänken und Pflanzkästen am Straßenrand.
Umnutzung von ehemaligen Kfz-Parkplätzen im Graefekiez, Berlin © Philipp Böhme

Ernüchterung nach Aufbruchsstimmung 

Berlin erließ 2018 als erstes Bundesland ein Mobilitätsgesetz, das eine Verkehrswende hin zu einer klimafreundlicheren und gleichberechtigten Mobilität einleiten wollte und dazu den öffentlichen Raum gerechter zwischen verschiedenen Formen von Verkehr neu aufzuteilen versuchte. Die Euphorie der ersten Jahre scheint jedoch heute oft einer Ernüchterung gewichen zu sein. Neue Radwege, Sharing- oder E-Mobilitätsstationen entstehen zwar allerorten, aber die Geschwindigkeit des Stadtumbaus scheint sich deutlich zu verlangsamen trotz der vielen Baustellen, die aktuell Berlins Stadtbild dominieren und jede Bewegung durch die Stadt in einen nervenraubenden Hindernislauf verwandeln. 

Wurden noch 2024 an 40 Standorten 23,3 Kilometer neue Vorrang-Radwege geschaffen, waren es 2025 nur noch 17,5 Kilometer an 29 Standorten. Eigentlich sollten dem Mobilitätsgesetz folgend jedes Jahr 30 gefährliche Straßenkreuzungen umgebaut werden, doch 2025 waren es 14 und 2026 werden es sogar nur 13 sein. Und mit 6.200 öffentlichen E-Ladepunkten wurden 2025 gerade einmal 15 Prozent mehr als 2024 geschaffen, angesichts eines Bestands von 74.000 E-Fahrzeugen in Berlin, der weiter wächst.

Verschiebungen im Mobilitätsverhalten 

Dabei sank nach der im Frühjahr publizierten Studie „Mobilität in Städten“ der TU Dresden und des  Marktforschungsinstituts Omnitrend von 2013 bis 2023 in Berlin der Anteil des motorisierten Individualverkehrs (MIV) deutlich von 30 auf 22 Prozent. In derselben Zeit stieg dagegen der Anteil des Fußgängerverkehrs von 31 auf 34 Prozent, während der Anteil des Fahrradverkehrs um fünf Prozentpunkte auf 18 Prozent stieg, doch so hoch war er allerdings schon 2018. Noch geringere Veränderungen gab es beim öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV), der seit 2013 um 26 Prozent verharrt. 

Angesichts dieser Zahlen erstaunt die erlahmende Geschwindigkeit des anvisierten Stadtumbaus schon sehr, zumal Berlin eine relativ junge Stadt ist, deren Verkehrsanlagen in vielen Gebieten recht großzügig geplant wurden. Während Straßen und Bürgersteige in vielen, oft älteren Städten ziemlich beengt sind, hat die Metropole Berlin den Luxus des Raums mit breiten Straßen und Gehwegen aus Gründerzeit und Moderne, die zu Recht Berlins früheren Ruf als Hauptstadt der Flaneure begründeten.

Begrünter Straßenrand mit Sträuchern, hohem Gras und Entwässerungsrinne neben einer Fahrbahn.
Grüner Gully als bestandsnahe Entsiegelungsmaßnahme in der Schulstraße Singerstraße in Berlin-Mitte © Constantin Mast

Polyzentrische Struktur und geringe Autodichte 

Anders als anderswo laufen hier die Magistralen nicht auf einen einzigen Stadtkern zu, sondern das polyzentrale Berlin hat ein Straßennetz mit vielen Quer- und Parallelverbindungen, die eine konsequentere Trennung der Verkehrssysteme wie Fahrrad und Auto begünstigen könnten. Zumal Berlin mit 338 Pkw auf 1.000 Einwohner weniger motorisiert ist und deutlich unter dem bundesdeutschen Durchschnitt von 583 Pkw liegt. Doch fern scheinen die Zeiten, als Berlin während der kaum minder krisengeschüttelten Weimarer Republik sogar ein neues Verkehrsmittel, nämlich 1924 die S-Bahn, ins Leben rief, deren alte Strecken heute immer noch nicht vollständig revitalisiert wurden. 

War damals primär die wachsende soziale Stadt zentrales Ziel der Politik, das wirklich mit allen Mitteln, alten wie neu entwickelten, vorangetrieben wurde, so müssten heute die Verkehrswende und die Herausforderung des Klimawandels absolute Priorität genießen. Am 3. November 2025 hat dies auch das Berliner Abgeordnetenhaus – getrieben von dem Volksbegehren „Baumentscheid“ – mit dem Klimaanpassungsgesetz „Bäume-Plus“ getan, das mit den neuen bundesdeutschen Sondermitteln helfen soll, 300.000 neue Straßenbäume zu pflanzen, 1.000 „Kälteinseln“ in den Kiezen und 100 neue Parks anzulegen. Dieses Ziel ist sehr ambitioniert, aber auch der bisherigen Realität geschuldet, weil etwa im Jahr 2024 insgesamt 5.280 Straßenbäume in Berlin oft für Verkehrsmaßnahmen gefällt, aber nur 2.571 nachgepflanzt wurden.

Baumfällungen, Pflege und Zielkonflikte 

Alte Bäume werden nicht nur für neue Verkehrsprojekte wie für die U-Bahn Unter den Linden gefällt und nur schleppend nachgepflanzt, sondern auch aus einer übertriebenen Gefährdungseinschätzung, wie der Landschaftsarchitekt Eike Richter feststellt: „Das neue Berliner Klimaanpassungsgesetz wurde zum Glück verändert, sodass nicht alle kranken Bäume gefällt werden müssen. Da wird viel zu oft mit einer deutschen Versicherungsmentalität vorgegangen. Bäume werden immer mehr zurückgeschnitten oder gefällt, wenn man sich eigentlich mehr um ihre Pflege bemühen müsste. Ein Baum ist ein lebendiges Wesen und kühlt mit seinen Blättern. Es kursieren aktuell Zahlen, dass 70 Prozent aller Bäume in Berlin geschädigt seien, aber das bedeutet keineswegs, dass sie nicht noch 15 oder 20 Jahre stehen könnten. Da fehlt es allzu oft noch an vernünftigen Verfahren, wie man mit alten Bäumen verfährt.“ Oder: „Jeder Leitungsträger kann aktuell definieren, wie weit ein Baum von einer Leitung entfernt sein muss. Da müssen klar die Prioritäten geändert werden. Bäume brauchen einfach unterirdischen Raum zum Wachsen. Die geplanten Baumfällungen am Tempelhofer Damm sind zwar ein negatives Beispiel, aber positiv ist, dass sich hier alle Leitungsträger abzustimmen versuchen. Stadt muss man von den Fußgängern und Bäumen her denken und nicht vom Glasfaserkabel.“ 

Stadtentwicklung und Mobilität

Zu den Themen Stadtentwicklung und Mobilität hat die Architektenkammer Berlin Ende November 2025 einen eigenen Ausschuss ins Leben gerufen. Damit wird die bisherige ehrenamtliche Arbeit zu diesen Themen kontinuierlich fortgesetzt. Arbeitsschwerpunkt ist der aktive Diskurs mit den Mitgliedern zur Stadtentwicklungspolitik Berlins. Es werden Stellungnahmen sowie Handlungsempfehlungen zu Transformationsprozessen in Mobilität, Raumplanung, Freiraumentwicklung, funktionalen Nutzungsveränderungen, Partizipationsprozessen etc. erarbeitet. Es geht um zukunftsorientierte, dem Gemeinwohl und der Nachhaltigkeit verpflichtete Vorschläge im Interesse kommender Generationen. 

www.ak-berlin.de 

Kritik an halbherzigen Straßenumbauten 

Kritisch sieht der Stadtplaner Carl Herwarth von Bittenfeld die aktuellen Planungen zum Umbau der Torstraße mit Fahrradwegen, der  zulasten von Bürgersteig und Baumbestand, aber unter Wahrung der Fahrspuren und Parkstreifen erfolgen soll: 

„Auch auf der parallel zur Torstraße verlaufenden Linienstraße, die Berlins erste Fahrradstraße war, vermag man nicht dem Pkw weniger Raum zu geben und dem Fahrrad eindeutig Vorrang einzuräumen, was sehr halbherzig und wenig kreativ ist. Wir leben in einer Umbruchzeit hinsichtlich Carsharings und autonomen Fahrens. Es ist zu vermuten, dass in zehn bis 15 Jahren das eigene Auto in der Großstadt signifikant an Bedeutung verlieren wird. Das würde deutlich weniger ruhendenVerkehr bedeuten und damit mehr Raum für Bäume und Stadtleben. Ebenso kritisch sehe ich die weit verbreitete „Polleritis“, die gestalterisch den Stadträumen den Charakter von ‚Jugendverkehrsschulen‘ gibt. So sinnvoll die zügige Herstellung von sicheren Radwegen sowie die Schaffung von Kiezblöcken ist, so bedarf es funktional und gestalterisch nachhaltigerer, stadtbildverträglicherer Lösungen.“  

Dies sieht Eike Richter ähnlich, dass „Berlin eigentlich gute Voraussetzungen hat, eine gute Gesetzgebung mit dem Mobilitäts- und Klimaanpassungsgesetz. Und wir haben auch einen geringeren Verkehrsdruck und Autodichte als andere Großstädte. Doch es fehlt vielerorts an einer zukunftsweisenden Prioritätensetzung. Dabei müssten alle Verwaltungen die Verkehrswende und Klimakrise als eine Gemeinschaftsaufgabe ansehen und nicht jede Verwaltung sich darauf beschränken, allein ihre Belange vorzutragen und durchzusetzen, fachlich oft super, aber leider viel zu selten integral.“  

Dringenden Handlungsbedarf sieht Carl Herwarth von Bittenfeld auch andernorts: „Geboten wäre vor allem die Verbesserung der Bahnhofsumfelder, nicht nur am Hauptbahnhof, sondern auch an vielen anderen wichtigen Knotenpunkten wie z. B. dem S-Bahnhof Landsberger Allee. Wenn man sich die großen Bahnhöfe ansieht, ist heute die Situation unterirdisch. Wo Fahrradparkhäuser sehr wichtig wären, hat Berlin es gerade mal geschafft, zwei Projekte in Mahlsdorf und Schöneweide anzuschieben. Vielerorts dominiert heute den öffentlichen Raum ein wüstes Abstellen.“ 

Verkehrsberuhigte Wohnstraße mit breiter Pflasterfläche, Bäumen und bepflanzten Grünstreifen zwischen den Häusern.
Umnutzung von ehemaligen Kfz-Parkplätzen im Graefekiez, Berlin © Philipp Böhme

Positive Beispiele: Graefekiez und Schwammstadt 

Gelungen finden Landschaftsarchitekten und Stadtplaner jedoch die Umgestaltung des Graefekiezes in Kreuzberg mit einer rekordverdächtigen Autodichte von nur 177 Pkw auf 1.000 Einwohner, wo seit 2023 400 Quadratmeter Straßenland modellhaft entsiegelt und ein Viertel von 480 Stellplätzen zugunsten grünen öffentlichen Stadtraums und Schwammstadt umgewandelt wurden. Bäume wurden dort neugepflanzt und um sogenannte „Grüne Gullys“, entsiegelte grüneVersickerungsflächen, wie etwa auch in der Singerstraße in Friedrichshain, ergänzt. Regenwasser kann dort versickern, verdunsten und in heißen Sommern kühlen. Die Bäume profitieren davon, denn ihr Wurzelwerk orientiert sich stets in Richtung von Wasserquellen. Solcherart Projekte bedürfte es mehr in Berlin oder wie es Carl Herwarth von Bittenfeld auf den Punkt bringt: „Es braucht Zeit und mehr Wettbewerbe, um zu beobachten, zu testen und Erfahrungen zu sammeln, um den größeren Umbau der Stadt anzugehen, der auf jeden Fall integrativ erfolgen muss.“ 

Weitere Informationen: Mobilitätssteckbrief für Berlin

Claus Käpplinger

Architekturkritiker und -historiker Berlin

Zahlreiche Publikationen und Lehraufträge in und außerhalb Deutschlands. Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Landschaftsarchitektur an der TU Braunschweig. Lebt und arbeitet in Berlin.