Dritte Orte als soziale Infrastruktur in Metropolen des 21. Jahrhunderts
Zwischen privatem Raum und klassischem Arbeitsplatz entstehen neue Orte des Alltags. Sie ermöglichen soziale Nähe, flexible Nutzung und erweitern das Spektrum dessen, wo und wie Stadtleben stattfindet.
Als „Dritte Orte“ (im englischen Sprachraum „Third Places“) werden informelle Aufenthaltsräume bezeichnet, die neben dem Zuhause (First Place) und dem Arbeitsort (Second Place) den Alltag prägen. Der Begriff wurde ursprünglich 1989 von dem Soziologen Ray Oldenburg geprägt und beschreibt Orte, an denen Menschen informell zusammenkommen, sich austauschen und Gemeinschaft in zwangloser Atmosphäre erleben. In der zeitgenössischen Stadtforschung gelten Dritte Orte als Teil einer erweiterten urbanen Infrastruktur. Sie verbinden soziale, funktionale und räumliche Dimensionen und können je nach Kontext unterschiedliche Rollen übernehmen: von klassischen Begegnungsräumen über öffentlich zugängliche Infrastrukturen jenseits des Konsums bis hin zu hybriden Nutzungsformen an der Schnittstelle von Arbeiten, Wohnen und Öffentlichkeit. Im aktuellen Diskurs wird die ursprüngliche Definition zunehmend erweitert und an veränderte gesellschaftliche und wirtschaftliche Rahmenbedingungen angepasst, beispielweise in Form von hybriden Arbeitswelten oder Orten mit ausgelagerten Wohnfunktionen. Dritte Orte werden nicht mehr ausschließlich als informelle, nicht-institutionalisierte Treffpunkte verstanden, sondern auch als bewusst gestaltete, programmatisch kuratierte und planerisch integrierte Räume. Im Fokus stehen dabei hybride Nutzungsformen, temporäre Aneignungen sowie Orte, die zwischen Öffentlichkeit und Privatheit, Alltag und Event vermitteln. Damit verschiebt sich der Begriff von einer rein sozialen Kategorie hin zu einem räumlich-funktionalen Konzept, das Fragen von Zugänglichkeit, Teilhabe, Nutzungsoffenheit und städtischer Resilienz einschließt. Für die Planung ist dabei besonders der fließende Übergang zwischen verschiedenen Typologien spannend: Orte, die Begegnung ermöglichen und zugleich Freizeit-, Aufenthalts-, Wohn- oder Arbeitsfunktionen zulassen. Dritte Orte – in ihrer erweiterten Definition – sind somit funktionale Schwellenräume, in denen sich soziale, räumliche und alltägliche Bedürfnisse überlagern.
Wohnfunktionen können in die Stadt projiziert werden und dort einen funktionalen Mehrwert bieten.
Florian Liedtke
Tokios „Wohnen außer Haus“ als städtisches System
Im Podcast der Bundesarchitektenkammer „Dritte Orte als Chance für die Stadt“ (Episode 41) beschreibt der Stadtforscher und Berater Dr. Florian Liedtke Dritte Orte als Räume, „in denen sich Alltagsfunktionen und Gefühle der Vertrautheit entfalten können – und die nicht nur in der Wohnung, sondern auch im Stadtraum selbst entstehen.“ Aus dieser Perspektive könnten Dritte Orte zukünftig neue Bedeutung für das Leben in Metropolen gewinnen. Sie sind einerseits soziale Infrastruktur, weil sie Austausch und Gemeinschaft fördern und Isolation abfedern. Gleichzeitig übernehmen sie Funktionen der Alltags- und Versorgungsinfrastruktur, indem sie Tätigkeiten aufnehmen, die traditionell im privaten Wohnraum verortet sind – etwa Arbeiten, Kochen, Ausruhen oder Körperpflege. Besonders deutlich wird dies in Tokio, wo die von Florian Liedtke im Rahmen seiner Dissertation am Institute for Sustainable Urbanism der TU Braunschweig untersuchten „Gewerbearchitekturen des Wohnens außer Haus“ – von Cafés über Spas bis hin zu Manga-Cafés und Capsule-Hotels – ein breites Spektrum von Funktionen abdecken. Diese kommerziellen Orte können nahezu alle wesentlichen Wohnfunktionen übernehmen und bieten dabei häufig einen Mehrwert gegenüber der Wohnung selbst, sei es durch bessere Erreichbarkeit, höhere Spezialisierung, erweiterte Komfortangebote oder die Möglichkeit, Wohnfunktionen flexibel in den Tagesablauf einzubetten. Dass diese Räume in Tokio so wirkmächtig sind, liegt an ihrer niedrigen Zugänglichkeitsschwelle: lange Öffnungszeiten, erschwingliche Preismodelle und vor allem optimierte Lagen. In Tokio verschränken sich Dritte Orte eng mit transitorientierter Stadtentwicklung. Bahnhofsquartiere wirken dort wie urbane Magneten, die ein System aus Alltagsräumen bilden. Dritte Orte sind in diesem Kontext planbare Bausteine einer räumlich durchdachten urbanen Matrix.
Diese Entwicklung wäre genauso auch in Deutschland denkbar. Liedtke formuliert dazu einen entscheidenden Gedanken: Wohnfunktionen können „in die Stadt projiziert werden und dort einen funktionalen Mehrwert bieten“. Diese Projektion ist im Kern eine infrastrukturelle Aufgabe. Sie zeigt, wie Städte durch ein enges Geflecht aus Alltagsräumen – vom Café bis zum Rückzugsraum – eine Form urbaner Domestizität erzeugen, die sowohl individuelle als auch gemeinschaftliche Bedürfnisse bedient. Denn der Bedarf wächst: Der Druck auf urbane Zentren steigert die Relevanz von Versorgungsangeboten jenseits der eigenen vier Wände. Die Wohnflächen pro Person werden perspektivisch schrumpfen. Flexible Arbeitsformen verlangen nach neuen Typologien gemeinschaftlicher oder halböffentlicher Räume.
Arbeiten im Dazwischen: Dritte Orte als neue Typologie
Die Arbeitswelt hat ihren festen Ort verloren. Mit mobilen Geräten, hybriden Modellen und flexiblen Arbeitsrhythmen verlagern sich Tätigkeiten zunehmend in jene Zwischenräume, die weder Wohnung noch klassisches Büro sind. Genau hier entstehen Dritte Orte vermehrt als neue Typologie: Cafés, Hotellobbys, offene Lernlandschaften oder Coworking-Zonen werden zu flexiblen „Third Workplaces“, die konzentriertes Arbeiten ebenso ermöglichen wie soziale Interaktion oder spontane Kollaboration. Es entsteht ein Raumkontinuum zwischen Wohnung, Büro und Öffentlichkeit, in dem Arbeitsorte zugleich Aufenthaltsräume, Begegnungszonen und Verweilflächen sind. Wie sich solche räumlichen Hybridformen konkret entwickeln können, zeigt das internationale Architektur- und Innenarchitekturbüro Kinzo in einer Reihe von Projekten.
Das Projekt Admiralspalast in Berlin belegt, wie sich Dritte Orte auf die Arbeitswelt auswirken. Das denkmalgeschützte Gebäude dient als Unternehmensstandort eines Anbieters für digitales Coaching. Das Team von Kinzo hat dafür eine hybride Innenraumlandschaft geschaffen, in der offene Zonen, Lounges, Community-Bereiche und informelle Arbeitsplätze jene Qualitäten aufnehmen, die Dritte Orte traditionell im Stadtraum erfüllen. Arbeiten, Pausen, Gespräche, Lounges, Pool und Dschungelraum bis hin zur Disco finden hier im selben räumlichen Ökosystem statt. Der Arbeitsort selbst wird zum Dritten Ort, der soziale und funktionale Alltagsbedürfnisse miteinander verzahnt.
Mit der Neugestaltung der zentralen Lobby- und Passagenbereiche am Center Potsdamer Platz zeigt Kinzo, wie Dritte Orte in hochverdichteten urbanen Kontexten Gestalt annehmen können. Durch offene Sitzlandschaften, gemeinschaftliche Work-Lounges und öffentlich zugängliche Aufenthaltsflächen entsteht ein urbaner Zwischenraum, der Ankommende, Arbeitende und Flanierende gleichermaßen adressiert. Innen und außen verschränken sich, der Gebäudekomplex öffnet sich als Teil des städtischen Gefüges – ein Dritter Ort, der Öffentlichkeit, Arbeit und Alltag unter einem Dach verbindet.
Im geplanten Haus des Wissens in Bochum wird der Gedanke eines öffentlichen Dritten Ortes räumlich neu interpretiert: Bibliothek, Erwachsenenbildung, Markt und offene Werkstätten verschmelzen zu einem urbanen Wohnzimmer, das Lernen, Aufenthalt, Begegnung und informelles Arbeiten vereint. Entscheidend wird hier der Aspekt Offenheit sein: Der frei zugängliche Raum ist nicht konsumgebunden, sondern lädt zu gemeinschaftlicher Nutzung ein und versteht Öffentlichkeit als Ressource.
Die Zukunft des Urbanen liegt im Gemeinsamen
Dritte Orte zeigen damit eine bemerkenswerte Wandlungsfähigkeit: Sie entfalten ihre Stärke im Übergang zwischen verschiedenen Sphären. Ob als kommerzielle Alltagsarchitekturen wie in Tokio, als hybride Arbeitswelten im Kontext von New Work oder als offene öffentliche Räume, übernehmen sie Funktionen, die das Leben in dichten Städten entlasten, ergänzen und qualitativ erweitern. Ihre gemeinsame Qualität liegt in der räumlichen und sozialen Offenheit: Sie bieten Zugang, Vertrautheit und Nutzungsvielfalt und reagieren damit auf veränderte Lebensstile, wachsende Mobilität und knapper werdende Wohnflächen. Zugleich machen sie sichtbar, dass urbane Lebensqualität wesentlich aus dem Gefüge gemeinsamer Orte entsteht, an denen Alltag stattfindet.