
Heute bilden weiche Kanten und homogene Oberflächen einen abstrakten Rahmen für verschiedene Lichtstimmungen und multifunktionale Nutzungen.
Constantin Meyer
Dieser Beitrag ist unter dem Titel „Sinnliche Aneignung“ im Deutschen Architektenblatt 12.2025 erschienen.
Wie kann eine zeitgemäße sakrale Architektur aussehen? Und welche Rolle spielt dabei die sinnliche Wahrnehmung? Der Umbau einer evangelischen Kirche in Neumarkt in der Oberpfalz liefert eine vielschichtige Antwort. Hier haben Brückner & Brückner Architekten den Bestand einerseits so transformiert, dass er der gegenwärtigen Liturgie entspricht. Anderseits bietet die Ausformulierung des Innenraums als weiße Hülle einen neutralen Rahmen, in dem auch kulturelle Nutzungen möglich sind.
Dass dabei kein eigenschaftsloser White Cube entstehen muss, zeigt sich anhand des gestalterischen Konzepts: Mit vielschichtigen Sinneseindrücken, die durch fließende Raumkanten, kontemplative Lichtszenarien und skulpturale Raumelemente erzeugt werden, entsteht ein Kirchenraum, der trotz seiner Gegenwärtigkeit zur Transzendenz einlädt.

Über die Jahre war die Kirche öfter transformiert worden, zuletzt war der Chor abgetrennt und wurde als Wohnung und Gemeindesaal verwendet.
Brückner & Brückner Architekten
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Neuer Sakralraum für die Christuskirche
Der Sakralbau wurde ursprünglich als Mittelpunkt einer Klosteranlage in den Jahren 1674 bis 1677 errichtet und grenzt direkt an die gegenüberliegende Altstadt an. Bereits 2016 hatte das Büro Berschneider + Berschneider Teile des ehemaligen Kapuzinerklosters saniert und in ein evangelisches Zentrum mit Gotteshaus, Pfarrzentrum und Veranstaltungssaal verwandelt.
Nur die sogenannte Christuskirche blieb zunächst unverändert. Allerdings hatten die Jahrhunderte hier ihre Spuren hinterlassen: So war der Bau nach seiner Säkularisation unter anderem als Kornspeicher, Militärlazarett, Bäckerei und Wohngebäude genutzt worden, bis ihn die evangelische Kirche wiedererwerben konnte.
In den 1930er-Jahren wurde die Kirche dann nach dem damaligen Liturgieverständnis mit Hochaltar und monumentaler Christusfigur neu gestaltet. Stephanie Sauer, Partnerin bei Brückner & Brückner, erzählt: „Als wir uns die Kirche 2018 das erste Mal angesehen haben, war das ein Bau, der immer wieder überformt und teilweise ohne Konzept weitergeschrieben worden war. Außerdem gab es Gebäudeteile wie den Chorraum, die man irgendwann abgetrennt hatte und die nun nicht mehr verwendet wurden.“

Auch der Eingangsbereich wirkt klar und aufgeräumt.
mju-fotografie, Marie Luisa Jünger
Kirche und Architektur auf Augenhöhe mit den Besuchern
Bei der Sanierung stand das Architektenteam daher nicht nur vor sehr weltlichen Aufgaben wie der statischen Ertüchtigung von Dachstuhl und Gewölbe oder der Erneuerung von Haustechnik und Brandschutz. Auch ein neues räumliches und gestalterisches Konzept musste entwickelt werden.
Grundlage dafür war das neue Liturgieverständnis, das eine sinnliche Aneignung der Kirche auf Augenhöhe vorsieht. „Der Bestand wurde den heutigen Anforderungen in vielerlei Hinsicht nicht mehr gerecht. Wir haben uns deshalb in Workshops zusammen mit der Kirchengemeinde überlegt, wie wir die räumliche Situation für die aktuell gelebte Liturgie und eine zeitgemäße Nutzung verbessern können“, sagt Stephanie Sauer. Das zeigt sich schon beim Betreten des Gebäudes, das heute neben dem an der Straße gelegenen Hauptportal auch durch zwei weitere Eingänge möglich ist.
An der Christuskirche wurden auch der Dachstuhl und das Gewölbe statisch ertüchtigt.
Constantin Meyer
Kirchenraum auch für Kulturveranstaltungen
Die Erschließung im Süden ist barrierefrei, während auf der Nordseite ein kleiner Vorplatz zwischen Kirchgarten und Seitenkapelle angeordnet wurde. Im Innern ist der Altarraum nun ebenerdig, damit das Abendmahl kreisförmig und barrierefrei gefeiert werden kann. Gleichzeitig sollen verschiedene Gottesdienste möglich sein. Da die Christuskirche auch für kulturelle Zwecke genutzt wird, bietet sie Raum für Installationen, Ausstellungen, sakralen Tanz, Orgelandachten, Theateraufführungen und Konzerte. Entsprechend plante das Architektenteam eine flexible Bestuhlung. So kann die etwa 400 Quadratmeter große Nutzfläche multifunktional bespielt werden.
Chor gehört wieder zur Kirche
Das Konzept sah außerdem vor, die räumliche Trennung zwischen Kirche und ehemaligem Chor aufzuheben, der zuletzt eine Mesnerwohnung und einen Gemeindesaal aufgenommen hatte. Beides konnte nach dem Umbau der Klosteranlage im neuen evangelischen Zentrum untergebracht werden. „Einer der wichtigsten Schritte im Transformationsprozess war die Entscheidung, den Chor wieder dem Kirchenschiff anzufügen. Dieser Bereich kann jetzt für kulturelle Veranstaltungen, aber auch für Tauffeiern, kleinere Gottesdienste oder als Meditationsraum genutzt werden“, erläutert Stephanie Sauer.
Allerdings stellte die große Raumtiefe eine Herausforderung dar. Bei der Lösung orientierten sich Brückner & Brückner Architekten unter anderem an der Zisterzienserinnenabtei Waldsassen, die das Büro bis 2011 in Teilen saniert hatte: „Die Basilika dort ist eine Barockkirche, deren Chor in etwa so tief wie das Langhaus ist“, so die Architektin. „Das nimmt man aber nicht wahr, weil die vielen Vor- und Rücksprünge dafür sorgen, dass die Raumkanten gebrochen werden. Deshalb kann das menschliche Auge die tatsächliche Tiefe des Chors nicht erfassen.“

Im Chor der Christuskirche verschwimmen die Raumkanten, da Boden, Decke und Wände nahtlos ineinander übergehen. Erst wenn jemand in den Chor hineinläuft, erkennt das Auge die wahren Proportionen.
Constantin Meyer
Materialien für Wand und Boden angeglichen
Ähnlich funktioniert die Wahrnehmung in der Christuskirche: Alle Kanten, an denen man sich orientieren könnte, verschwimmen, da die Wände in fließenden Linien mit Boden und Decke verschmelzen. Der Effekt vor Ort ist erstaunlich: Erst wenn jemand in den Chor hineinläuft, erkennt das Auge nach und nach die wahren Proportionen. Es wirkt, als würde der Raum von einer unsichtbaren Hand in die Tiefe gezogen. Dazu passte das Planerteam den weißen Lehmputz für Wände und Decke in Farbigkeit und Textur an die Estrichbeschichtung des Bodens an. Dieser geht als Kurve in die Wand über und löst so die Raumkanten auf.
Konstruktiv funktioniert das Ganze über eine Schale aus gerundeten Holzspanten, die mit Brettern beplankt und zweilagig mit Schilfrohr bekleidet sind. „Das war eine der größten Herausforderungen im ganzen Projekt: dass Boden und Wand auch wirklich zusammenpassen. Wir haben Materialien verwendet, die unterschiedlich altern und verschiedenen Anforderungen genügen müssen. Gleichzeitig sollten sie eine Einheit bilden“, erklärt Stephanie Sauer.

Das Taufbecken ist in den Boden des Chors eingelassen. Das neue Fenster am Ende des Raums dient als symbolischer Ersatz für das zuvor in dieser Sichtachse hängende Holzkreuz.
Constantin Meyer
Kirche aus Licht
Eine weitere sinnliche Komponente des Konzepts ist die Verwendung von Tages- und Kunstlicht. Ähnlich wie die fließenden Raumkanten trägt es zur Entmaterialisierung der Kirche bei. Am Ende des Chors ist ein neues zentrales Fenster mit halbkreisförmigem Abschluss angeordnet. Der Weg ins Licht soll hier als Metapher für die Auferstehung dienen.
Auch die Kirche selbst ist laut Brückner & Brückner ein „helles, lichtes Gefäß für den Glauben“. Ein wichtiger Bestandteil sind die vier Hauptfenster im Langhaus. Sie sind mit einem Gewebe bespannt, das durch LED-Leisten auf den schrägen Fensterbrüstungen hinterleuchtet wird. Die spezifische Webart erzeugt eine bestimmte Lichtabsorption, die das Kunstlicht gleichmäßig auf dem Stoff verteilt. Deshalb benötigt die Kirche keine zusätzlichen Pendel- oder Wandleuchten. Stattdessen werden die Kirchenfenster zu Laternen, mit denen sich verschiedene Lichtszenarien erzeugen lassen. Auf diese Weise kann etwa das Langhaus am Abend komplett in Dunkelheit getaucht werden, um den Chor als warme, bergende Höhle zu inszenieren.
Der Bau bietet so einerseits eine meditative Introvertiertheit, die durch verschiedene Kunstlichtanwendungen hervorgehoben wird. Andererseits erzeugt das einfallende Tageslicht unterschiedliche Stimmungen und schafft einen Bezug nach draußen. Die Farben der alten Kirchenfenster leuchten dann dezent durch das transluzente Gewebe hindurch. „Wenn man sich in die Kirche setzt und bewusst auf das Licht achtet, dann stellt man fest, dass sich der Raum immer wieder verändert“, erzählt Stephanie Sauer. „Die Stimmung wechselt mit den Tages- und Jahreszeiten und die Architektur gibt subtile Hinweise.“

Der Altar ist eine filigrane Stahlskulptur. Die Tiefe des Chores dahinter ist schwer abzuschätzen.
mju-fotografie, Marie Luisa Jünger
Sparsame Möblierung im Sakalraum
Weiche Kanten an den Wänden und Gewölben erzeugen zusammen mit den homogenen weißen Oberflächen einen abstrakten Rahmen, in dem sich die verschiedenen Lichtstimmungen optimal entfalten können. Dazu trägt auch die reduzierte Möblierung bei: Altar und Ambo sind als filigrane Stahlskulptur ausgebildet, durch die der Raum ungehindert hindurchfließen kann.
Ein weiteres Element ist das Taufbecken, das als Ausbuchtung kaum wahrnehmbar im Boden des Chors eingelassen ist. Das große Holzkreuz des Bestands mit der leidenden Christusfigur ist nun in der nördlichen Seitenkapelle untergebracht, die als Ort der Trauer genutzt wird.
Als symbolischer Ersatz dient das neue Fenster am Ende des Chors. Teilweise erinnert das Ganze an die Lichtinstallationen von James Turrell. Darauf angesprochen, erwidert Stephanie Sauer: „In den Ganzfeldräumen von James Turrell lösen sich die Kanten zwar auch auf. Das führt aber dazu, dass es keinen Raum mehr gibt. Das ist bei der Christuskirche anders. Sie ist eine begehbare Skulptur, die den Raum nicht negiert, sondern ihn durch das Zusammenspiel von Licht und Geometrie immer wieder verändert.“



