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Open-Mind-Places: Rastplätze für die Seele im Sauerland

In einer kleinen Gemeinde im Hochsauerland hat der Architekt Christoph Hesse eine Entwicklung angestoßen, die dem Landleben neue Perspektiven bietet – wörtlich und im übertragenen Sinn. Ungewöhnliche Räume, gemeinschaftlich errichtet, spielen dabei die Hauptrolle

Von: Christoph Gunßer
Christoph Gunßer ist für das DAB vor allem in Süddeutschland...

26.11.20257 Min. Kommentar schreiben

Arbeit auf dem Feld: Der „Kornfeld Pavilion“, in dem Getreideähren in ein Bewehrungsgitter eingeflochten wurden, soll die Themen Ernährung und Landwirtschaft ins Blickfeld rücken.
Christoph Hesse Architects

Dieser Beitrag ist unter dem Titel „Rastplätze für die Seele“ im Deutschen Architektenblatt 12.2025 erschienen.

Architektur kann so einfach sein. Wenn sich ein paar Leute mit vorhandenem Material an die Arbeit machen, genügen ein, zwei Wochen­enden, und ein Raum entsteht. In dem 213-Seelen-Ort Referinghausen hat die Ideen dazu Christoph Hesse – Bauernsohn, der einst auszog, um in Zürich und Harvard Architektur zu studieren. Heimgekehrt und seit 2010 mit seinem Architekturbüro im nahen Städtchen Korbach ansässig, kann der heute 48-Jährige immer noch gut mit den Leuten in seiner Heimat. Er findet, sie brauchen Orte, um sich zu treffen und den Kopf frei zu bekommen: „Open Mind Places“ eben.

Gebogen zur Skulptur: Die „Himmelstropfen“ aus Baustahlmatten sind ein beliebter Treffpunkt in der Landschaft.
Laurian Ghinitoiu

Himmelstropfen und Sonnenklang

Alles fing 2019 damit an, dass Christoph Hesse auf dem elterlichen Hof in Referinghausen ein paar Baustahlmatten fand. Hesse hat immer schon gern getüftelt, und so probierte er mit seiner Tochter eine Weile herum, wie sich aus dem Raster ein Raum biegen ließe. Am Ende standen die „Himmelstropfen“ in der flurbereinigten Landschaft: drei berankte Gittertürme, die ein Zeichen für Biodiversität setzen. Der vom Kind gefundene Name sei zwar etwas „cheesy“, findet Hesse, trifft aber die Figur genau. Der Platz sei bei den Leuten sehr beliebt, sagt er.

Aufstrebende Stahlplatten: Der „Sonnenklang“ markiert einen für Osterfeuer beliebten Ort.
Christoph Hesse Architects

Nicht kitschig, aber etwas weihevoll ist auch die Installation benannt, die Christoph Hesse als Nächstes mit Helfern auf einer Anhöhe über dem Ort errichtete. Dort trifft sich die Dorfgemeinschaft traditionell zum Osterfeuer. Der weithin sichtbare „Sonnenklang“ besteht aus zwei schräg aneinandergeschweißten Stahlplatten, die sie mit Gabelstapern so verbogen, dass zwischen ihnen eine Holzliege mit schönstem Talblick hineinpasste.

Die erhabene Form ist mehrdeutig, den einen erinnert sie an betende Hände (wir sind im katholischen Sauerland), andere an eine Flamme. Jedenfalls ein romantischer Ort, der selbst reservierte Mitbürger bezaubert.

Ein Dutzend „Open-Mind-Places“ gibt es bereits rund um Referinghausen im Sauerland.
Christoph Hesse Architects

Anpacken statt meckern

Hands-on, anpacken statt meckern, lautet Hesses Motto, das auch die Dörfler motiviert. Schon 2015 hatte er mit einem Freund im Nachbarort ein innovatives, auf Abfällen aus der Landwirtschaft basierendes Nahwärmenetz entwickelt, das inzwischen auch Referinghausen mit günstiger Wärme versorgt. Für langfristig garantierte vier Cent pro Kilowattstunde machten fast alle mit. Die Strohtherme, eine runde Installation aus Strohballen, in deren Mitte ein Becken mit heißem Wasser aus der Biogasanlage dampfte, erklärte zur Einweihung das Prinzip. „Hätten wir dabei auf Bosch oder Siemens vertraut, warteten wir wohl heute noch auf die Anschlüsse“, feixt Christoph Hesse. Also: selber machen.

Große Schmiedearbeit: Der „Pflug“ deutet das Ortswappen in eine begehbare Skulptur um.
Christoph Hesse Architects

Interkonfessionelle Besinnungsorte

In diesem Sinne der Unterstützung der Dörfler gewiss, trieb er die Planung weiterer Treff- und Besinnungsorte voran. Ein gutes Dutzend sind es inzwischen. Bei der Realisierung half, dass viele Flächen zum elterlichen Hof gehörten oder ohnehin ungenutzt ­waren. Baurechtlich gehen die Plätze in der Regel als öffentlich zugängliche Wanderraststätten durch, die genehmigungsfrei sind.

So ist der „Pflug“ am Waldrand eine begehbare Stahlskulptur, die dem Ortswappen nachempfunden ist. Hesse hat sie vom örtlichen Schmied fertigen lassen. Die „Offene Kapelle“ im Nachbarort Hillershausen ist indes schon ein „richtiges“ Bauwerk mit kalksteinverkleideten Betonstelen und Dach. Auch hier wirft die Form Fragen auf: Bezieht sich der linsenförmige Grundriss auf den Fisch als Symbol des Urchristentums oder einfach auf schützende Hände? Ganz ohne religiöse Bezüge kommen solche „Seelenorte“ wohl nicht aus. Für Christoph Hesse ist nur wichtig, dass sie offen und interkonfessionell angelegt sind.

Verbunden durch Erinnerungen: „Ursprung“ markiert den Ort der ersten Besiedlung der Gegend.
Christoph Hesse Architects

Archaische Bezüge

„Ursprung“ heißt eine Gruppe hochkant gestellter Hausformen aus geschwärztem Holz, die am Ort der ersten Besiedlung der Gegend errichtet wurden. Sie bilden inmitten der weiten Landschaft eine dicht gedrängte Raumsituation, wie sie die frühen Siedler wohl ähnlich in der Wildnis empfunden haben. „Heidentempel“ wiederum nannte man einen offenen Schutzpavillon an der Heidenstraße, einem alten Fernhandelsweg, frei geformt aus Käferholz, wie es hier seit Jahren wegen der Waldschäden in Unmengen anfällt.

„All diese Plätze sind als allgemein zugängliche, inklusive Orte angelegt“, betont Christoph Hesse und grenzt sich klar ab gegen eine mögliche neu-rechte Vereinnahmung im Sinne von „Blut und Boden“ und Neuheidentum. Archaische Formen, wie sie Hesse teilweise verwendet, oder das „landschaftsgebundene Bauen“, waren ja bekanntlich auch bei einigen Architekten der NS-Zeit beliebt.

Halt am Weg: An der sogenannten Heidenstraße, einem alten Handelsweg, entstand der „Heidentempel“.
Laurian Ghinitoiu

Land Art im Sauerland

Im angelsächsischen Raum, durch den Christoph Hesse geprägt wurde, gibt es da weniger Berührungsängste. Er hat dort aber auch manch modisches Entwerfen im luftleeren Raum mitbekommen: „Ich belegte damals in Harvard auch Kurse bei Greg Lynn über parametrisches Entwerfen, doch das überzeugte mich nicht.“ Er brauche den Ortsbezug.

Das geht bis zur „Land Art“. So gruben sie gemeinsam an der Station „Wurzeln“ unter einem abgestorbenen Fichtenstamm eine vier mal vier Meter große Grube, die die flachen, tellerförmigen Verästelungen freilegt – eine Ursache für das Verschwinden dieser Baumart.

Wir können etwas ändern!

Diese „Follies“ sind eindeutig mehr als pure Dorfverschönerung oder Highlights zur Förderung des regionalen Tourismus (der nicht weit von hier im riesigen Center Parc Hochsauerland durchaus boomt). Sie sollen die Menschen zur Selbstreflexion führen, die Veränderung der Landschaft verdeutlichen und zeigen, dass sie selbst Anteil haben können am Wandel.

Achtsamkeit und Selbst­ermächtigung sind die Themen, die hier vermittelt werden. Wir können etwas ändern! So hat etwa eine Gruppe Jugendlicher zuletzt 10.000 Baumsetzlinge gepflanzt, um die sterbenden Wälder der Gegend zu retten. Andere haben das Dorfarchiv digitalisiert, um Erinnerungen wachzuhalten.

Abwanderung und Leerstand gestoppt

Als Zeichen ihrer Verbundenheit errichtete die Bewohnerschaft den „Turm der Einheit“, ein filigranes Stabwerk aus ebenso vielen Elementen, wie es Menschen in Referinghausen gibt. Der Effekt solcher Aktionen bleibt nicht aus: Dank Zuzügen von weither scheinen inzwischen Schrumpfung und Leerstand gestoppt. Und die Leute gehen zu den Stationen, treffen sich zum Nölen, wie man hier sagt. Mancher Ort, wie das anstelle eines abgebrochenen Gasthauses aus alten Bahnschwellen errichtete Pavillon-Duo „Ober-/Unterholz“ hat sich geradezu zum Treffpunkt der Dorfjugend entwickelt.

Geschichtet aus Bahnschwellen: „Oberholz“ steht an der Stelle eines alten Gasthauses und wurde zum Hangout der Dorfjugend.
Laurian Ghinitoiu

Plädoyer für die Dekarbonisierung

Christoph Hesse selbst hat bereits etliche Gruppen den rund viereinhalb Stunden langen Stationenweg entlanggeführt und viele Vorträge gehalten. Ausstellungen, unter anderem in der Galerie Aedes in Berlin, machten den „Rural Rebel“ überregional bekannt. Längst verwendet der weit gereiste Architekt für die Plätze zumeist die englischen Namen.

Im nahen Kassel erregten die Open Mind Spaces das Interesse der documenta-Macher. 2022, auf der documenta 15, konnte Christoph Hesse gleich eine Reihe temporärer Installationen an prominenten Plätzen errichten, darunter das Kohlemuseum, einen mitten auf dem Friedrichsplatz platzierten Pavillon aus Kohlebriketts, durch dessen Ritzen grüner Bambus herauswucherte. Ein Plädoyer für die Dekarbonisierung: „Wir müssen die Kohle jetzt ins Museum verbannen“, sagt Hesse. Inzwischen hat er Teile davon in das Referinghausener Wegenetz integriert.

Ort der Besinnung:  Die Installation „Waldbrand“ bestand aus 2020 massenweise vorhandenen abgestorbenen Bäumen.
Laurian Ghinitoiu

Sehnsucht nach Einfachheit

Lehr- und sogar Bauaufträge von Rom bis Beijing folgten. Auf einer Halbinsel am Edersee koordiniert Hesse 19 international bekannte Architekten aus seinem Studien-Netzwerk beim Bau von Einzelhäusern, die sich einmal zur Gemeinschaft „ways of life“ fügen sollen. Und in diesem Sommer konnte er zur Architekturbiennale auf der Gemüse-Insel San Erasmo eine simple Struktur aus Gewächshausbögen und Leinensäcken schaffen – als Ort der Begegnung und Diskussion.

Offensichtlich hat der Architekt mit seinen innovativen No- oder Low-Budget-Bauten einen Nerv getroffen. Jenseits von Landlust und -liebe gibt es seit Jahren vielerorts eine Sehnsucht nach dem Einfachen, Bescheidenen, Authentischen, die auch Hesse bedient, aber auf seine Weise aktivistisch zu lenken weiß – er bringt Menschen zusammen. Man darf gespannt sein, was der noch immer gut geerdete, sehr zurückhaltend auftretende Vater von drei Kindern, der im Vortragssaal schon mal in Wanderstiefeln auftritt, noch aushecken wird.

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