Dieser Beitrag ist unter dem Titel „Comeback der Werkswohnungen“ im Deutschen Architektenblatt“ 08.2022 erschienen.
Von Simone Hübener
Fast eine halbe Million Werkswohnungen gab es in den 1970er-Jahren in Westdeutschland. Davon ist rund fünfzig Jahre später nur noch wenig übrig geblieben, der Großteil wurde in den vergangenen Jahrzehnten verkauft. Da sich zwischen 2006 und 2019 parallel die Anzahl der Sozialwohnungen fast halbiert hat, müssen sich die meisten Wohnungssuchenden auf dem freien Markt umschauen – mit seinen vielerorts unbezahlbaren Mieten, insbesondere für Menschen mit niedrigem Einkommen.
Das könnte Sie auch interessieren
Fachkräfte mit Wohnraum gewinnen
Durch den Fachkräftemangel wächst sich dieses ehemals private Problem zu einem wirtschaftlichen für die Unternehmen und letztlich einem sozialen für die gesamte Gesellschaft aus. In Anbetracht dieser Situation stellen immer mehr Firmen ihren Beschäftigten wieder Werkswohnungen zur Verfügung.
Mitarbeiterwohnen gesetzlich begünstigt
Der Gesetzgeber hat dafür die Weichen günstig gestellt: Seit Anfang 2020 ist die Miet-Differenz nicht mehr als geldwerter Vorteil zu versteuern, sofern die Miete mindestens zwei Drittel des ortsüblichen Mietspiegels beträgt. Das verstärkt diesen Trend hoffentlich weiter. Arnt von Bodelschwingh vom Forschungsinstitut Regio Kontext sprach in einem Interview mit dem Deutschlandfunk 2020 von „deutschlandweit 60 bis 70 neuen Fallbeispielen“.
Ostfildern: Wohnraum für soziale Berufe
Eines dieser Beispiele ist das Haus Liselotte der Erich-und-Liselotte-Gradmann-Stiftung in Ostfildern-Ruit. Die Stuttgarter Stiftung bietet mit dem Neubau mehr als 40 Menschen, die in sozialen Berufen arbeiten, Wohnraum in bester innerstädtischer Lage zu einem günstigen Preis. Dass eine Miete von acht Euro pro Quadratmeter anstatt der marktüblichen 14 Euro abgerechnet wird, ist der Unterstützung durch die Stiftung zu verdanken – in Höhe von rund 100.000 Euro pro Jahr.
Maximale Nachverdichtung
Die neuen Wohnungen befinden sich in der Nähe eines Pflegeheims der Stiftung in Ostfildern-Ruit bei Stuttgart. Sie liegen auf einem ursprünglich nur 400 Quadratmeter großen Grundstück, das aufgrund seines Zuschnitts und der Bauvorschriften als schwierig zu bebauen galt und deshalb für einen Investor unattraktiv erschien. Oberbürgermeister Christof Bolay dachte daher an ein nicht gewinnorientiertes Projekt – und bot seinem Vorgänger Herbert Rösch (mittlerweile Geschäftsführer der Gradmann-Stiftung) das Grundstück an.
„Gemeinsam gelang es uns zum einen, die bebaubare Fläche durch Zukäufe auf 750 Quadratmeter zu vergrößern, und zum anderen, den Gemeinderat dank des angedachten Konzepts von einer sechsgeschossigen Bebauung zu überzeugen“, beschreibt Rösch die entscheidenden Schritte. Der Bestand maß niedrige zwei Stockwerke plus Satteldach.
Abstandsflächen modellieren das Bauvolumen
Mit der Planung des Wohnhauses beauftragte die Stiftung das ebenfalls in Ostfildern ansässige Architekturbüro Kauffmann Theilig & Partner (KTP), mit dem man bereits bei einem vorhergehenden Projekt gut zusammengearbeitet hatte. Entstanden ist ein städtebaulicher Akzent, der ein Gegengewicht zum gegenüberliegenden Bestandsbau aus den 1970er-Jahren bildet.
„Die Form des Hauses leitet sich aus den Abstandsflächen und den Bauvorschriften her. Das lässt sich heute beispielsweise an der bereits über dem zweiten Obergeschoss ansetzenden, steilen Dachfläche und der Gliederung in zwei Baukörper ablesen“, skizziert Professor Andreas Theilig, Partner von KTP, die Entstehung des Gebäudevolumens. Die sich daraus ergebende Kubatur modellierte das Architektenteam zu einem überzeugenden skulpturalen Baukörper.
Mitarbeiterwohnungen auch für Familien und WGs
Unter dieser Hülle finden sich 60 bis 105 Quadratmeter große Wohnungen, jede mit eigener Loggia oder Dachterrasse und einem Tageslichtbad. Außerdem planten Kauffmann Theilig & Partner die Grundrisse so, dass sich die Wohnungen sowohl für Familien als auch für Wohngemeinschaften eignen. Grundlage dafür ist der jeweils großzügige Koch-Ess-Wohnbereich und ein zweites, separates WC. Um im straßenzugewandten Bereich des Erdgeschosses Wohnungen mit wenig Privatsphäre zu vermeiden und gleichzeitig den Stadtraum zu beleben, wurde dort unter anderem Raum für eine Bäckerei geschaffen.
Auffällige Form, zurückhaltende Fassaden
Die vollverglaste Fassade springt in diesem Bereich etwas zurück, um Blickbeziehungen innerhalb des Stadtraums zu erhalten. Die darüberliegenden Fassaden sind aufgrund der Untergliederung in zwei Baukörper unterschiedlich ausgeführt. Für das Vorderhaus wählten die Planenden horizontal gegliederte, hellgraue Faserzementplatten, die Fassaden des angrenzenden Hinterhauses sind mit einem ebenfalls hellgrauen Putz in handwerklicher Qualität ausgeführt. Die Fassaden wurden zurückhaltend gestaltet, weil der Neubau schon durch seine Form ausreichend auf sich aufmerksam macht. Im Sommer 2021 zogen die ersten Mieterinnen und Mieter in ihre neuen Wohnungen ein.
Regensburg: Wohnungen für Staatsforsten und Krankenhaus
Mit einem ähnlichen Ergebnis und gleichzeitig vor einem völlig anderen Hintergrund entstand in Regensburg das „Haus auf Stelzen“ der Bayerischen Staatsforsten. „Als wir uns 2017 erste Gedanken darüber machten, wie wir den großen Parkplatz neben unserer Firmenzentrale sinnvoller nutzen könnten, war der mehrgeschossige Holzbau in Deutschland noch weiter hinter seinen Möglichkeiten zurück als heute“, erläutert Thomas Feigl, der als Architekt bei den Bayerischen Staatsforsten tätig ist, den Projektstart. Das Unternehmen bewirtschaftet als Anstalt des öffentlichen Rechts den gesamten bayerischen Staatswald mit einer Fläche von mehr als 800.000 Hektar und es sorgt dafür, dass alle auf den Flächen befindlichen Gebäude, wie Jagd- und Betriebshütten, Kapellen, Burgruinen und natürlich die eigenen Dienstgebäude, instand gehalten und bestmöglich genutzt werden.
33 Wohnungen über Parkplatz
„Die Baulücke“, wie Feigl und seine Architektenkollegin Lisa Schex den Parkplatz in zentraler Lage in Regensburg bezeichneten, galt es deshalb für ein Exempel in Sachen Holzbau und innerstädtischer Nachverdichtung zu nutzen. Von den 26 hochwertigen Ein-Zimmer-Appartements und weiteren sieben Zwei-Zimmer-Wohnungen in den drei Wohngeschossen sollten zum einen die eigenen Beschäftigten und zum anderen jene des benachbarten Caritas-Krankenhauses St. Josef profitieren.
Intern bezeichneten die Bayerischen Staatsforsten ihren Parkplatz mitten in Regensburg als „die Baulücke“. (Klicken für mehr Bilder)
Holzhybridbau auf Stahlstützen
Der Neubau ist ein Holzhybridbau mit Stahlstützen im Erdgeschoss sowie einem Treppenhauskern aus Ortbeton. „Unsere Prämisse war es, jedes Material entsprechend seinen Eigenschaften bestmöglich einzusetzen und keine Verrenkungen anzustellen, nur um alles aus Holz zu bauen“, so Schex. Die Wände sind in Brettsperrholz realisiert, die Decken aus Brettschichtholz, und wo es aus statischen Gründen nötig war, wurde mit Buchenfurnierschichtholzträgern gearbeitet. Im Innern blieben alle Holzoberflächen – mit Ausnahme der Badezimmerwände – sichtbar und sind für ein gutes Raumklima lediglich geölt. Der mineralisch gebundene Spachtelboden erzeugt mit seiner mittelgrauen, matt schimmernden Oberfläche einen angenehmen Kontrast.
Selbst entworfene Möbel
Die kleinen Wohnungen sind mit einer Küche und einigen selbst entworfenen Möbeln, die viel Stauraum bieten, teilmöbliert. Als Sonnenschutz dienen manuelle Schiebeläden aus Lärche, die dem Haus eine gewisse Lebendigkeit verleihen, ergibt sich doch ein immer neues Fassadenbild. Die bisher auf dem Grundstück vorhandenen Parkplätze wurden in eine Tiefgarage verlegt. Im Erdgeschoss mit dem Zugang zum Treppenhaus befinden sich außerdem ein Technik- und ein Wäscheraum sowie Kellerersatzräume für die Mieterinnen und Mieter. Deren Parkplätze sind unter der fünf Meter tiefen Auskragung angeordnet.
Yaki-Sugi: Feuer sorgt für Wetterschutz
Seine markante schwarze Fassade erhielt das Haus dank der japanischen Yaki-Sugi-Methode. Dabei wird das Holz einer offenen, ungefähr 1.200 Grad Celsius heißen Flamme ausgesetzt, die Zellen verdichten sich und machen einen chemischen Holzschutz unnötig. Regen perlt fortan ab und Insekten, Pilze und Moose halten sich fern.
Auf dem Dach wurde dagegen ein Refugium für Insekten und natürlich auch für die Bewohnerinnen und Bewohner geschaffen. 170 verschiedene Pflanzenarten sind dort zu finden – von Sträuchern, Stauden, Gräsern und Zwiebeln bis zu insekten- und vogelfreundlichen Bäumen mit bis zu fünf Metern Höhe. Dazu gesellt sich ein Hochbeet, in dem eigenes Gemüse angebaut werden kann. Die Bewohner und Bewohnerinnen haben daran so viel Freude, dass sie in diesem Frühjahr gleich darum baten, ein zweites Beet zum Gärtnern nutzen zu dürfen.
Weitere Beiträge finden Sie auch gesammelt in unserem Schwerpunkt Wohnen.
War dieser Artikel hilfreich?
Weitere Artikel zu: