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[ Digitale Vernetzung ]

Nachbarschaften in der App

Ob im Dorf oder in der Metropole: Das soziale Leben in Nachbarschaften wird immer stärker über Apps organisiert. Akteure der Wohnungswirtschaft beginnen, dabei mitzumischen, auch mit eigens kreierten Lösungen

Mann vor einem VW Bulli
Der Bürgermeister und die App: Dominik Schmengler sprach viele Meyenburger persönlich an, um die digitale Kommunikation in seinem Dorf zu etablieren.

Dieser Beitrag ist unter dem Titel „Netznachbarn“ im DAB 03.2020 erschienen.

Von Lars Klaaßen

Sämtliche Familien sonntags in der Kirche? Schon lange vorbei. Die bekannten Gesichter alle auf dem Schützenfest? Da war auch schon mal mehr los. Und die Dorfkneipe, in der man früher beim Bier zusammensaß? Gibt es nicht mehr. „Auch bei uns auf dem Dorf kennt nicht mehr jeder jeden“, sagt Dominik Schmengler, Bürgermeister von Meyenburg. Die Ortschaft in der Gemeinde Schwanewede, zwischen Bremen und Bremerhaven gelegen, hat rund 1.400 Einwohner. Viele, die hier wohnen, sind in den vergangenen Jahren zugezogen, kennen die Alteingesessenen also nicht. Und selbst von den schon lange hier Ansässigen pendeln die meisten frühmorgens zur Arbeit und kommen erst spätabends wieder nach Hause. „Da blieb kaum Zeit und Raum für den Austausch unter Nachbarn“, weiß Schmengler aus eigener Erfahrung. „Doch das hat sich im Laufe der vergangenen zwei Jahre wieder deutlich geändert.“

Nachdem Schmengler vom Portal nebenan.de erfahren hatte, setzte er sich dafür ein, dass ein Großteil seines Dorfes sich darüber miteinander vernetzt. 2015 gegründet, sind dort bundesweit mittlerweile rund 1,4 Millionen Nutzer aktiv. Wer sich auf dem Portal bei einer „Nachbarschaft“ anmeldet, muss nachweisen, dort auch wohnhaft zu sein. Private Haushalte können nebenan.de kostenlos nutzen. „Wir finanzieren uns aber nicht durch Abschöpfen der Nutzerdaten, wie andere kostenlose Angebote im Netz“, betont Geschäftsführer Christian Vollmann, „sondern garantieren Datenschutz.“ Das Portal finanziert sich zum einen über kostenpflichtige Accounts, die Gewerbetreibende in ihrer Nachbarschaft anlegen können; zum anderen zahlen auch Kommunen, die dort einen Account anlegen, um etwa Anwohner über das zu informieren, was im Amtsblatt kaum jemand wahrnimmt.

Dorfgemeinschaft in Social Media

„Wir ziehen klare geografische Grenzen, weil die Leute im echten Leben zusammenkommen sollen“, erläutert Christian Vollmann. Ob man sich nur mal eine Bohrmaschine ausleihen oder mit anderen sein Hobby teilen wolle: „Alle sind mit ihren Namen samt Adressen erkennbar, man kann sich auf der Straße begegnen. Wir wollen die Anonymität in der Nachbarschaft reduzieren.“ Deshalb seien auch die Probleme anderer sozialer Netzwerke wie Fake News oder Hate Speech kein Problem. Fällt jemand in einer Gruppe unangenehm auf, kann die Nachbarschaft sich an ein Team von nebenan.de wenden. Wer die Netiquette, „nett, ehrlich und hilfsbereit“ zu sein, nicht achtet, wird im ersten Schritt mit einer Woche Ausschluss verwarnt, beim wiederholten Mal komplett gesperrt. „Neunzig Prozent der Leute, die eine Gelbe Karte bekommen haben, waren danach friedlich“, sagt Vollmann. „Die Zahl derer, die in den vergangenen dreieinhalb Jahren eine Rote Karte bekamen, liegt im zweistelligen Bereich.“

Diese Verbindlichkeit, gekoppelt an klar gesteckte geografische Grenzen bei der Mitgliedschaft, hat Bürgermeister Schmengler gefallen: „Ich habe Vertreter von der Schule und von unseren Vereinen – Landfrauen, Sport, Schützen – zum Bier und zum Kaffee eingeladen und denen von nebenan.de erzählt.“ Danach wurden Flyer an die Haushalte ausgeteilt und Schmengler hat seinen alten Bulli mit dem nebenan-Logo beklebt. Die Lokalpresse wurde natürlich auch informiert. „Die ersten sechzig, siebzig Leute hatten sich dann schnell angemeldet“, erinnert sich der Bürgermeister, „und damit war die kritische Masse erreicht, das Netzwerk griff weiter um sich.“ Heute sind über 320 Nachbarn in Meyenburg aktiv, wobei einige ihren Account als ganze Familie oder mit Partner nutzen; insgesamt entspricht dies rund 35 Prozent der Einwohner. Zum Vergleich: In München kommt nebenan.de auf einen Anteil von rund zwölf Prozent.

Ortsansicht Meyenburg mit Noetbeook und Handy
Wenn der Schein trügt: Auch im idyllischen Meyenburg blieb in der Alltagshektik kaum Zeit und Raum für Austausch. Die digitale Kommunikation bringt nun viele Bewohner wieder näher zusammen.

Nachbarschaft vor Baubeginn

Auch ein Bauträger ist schon an nebenan.de herangetreten, lange bevor das Neubauquartier bezugsfertig war. In Ludwigsfelde, elf Kilometer südlich von Berlin, entsteht eine neue Siedlung rund um eine Grünanlage, der „Rousseau Park“. Um Leute über nebenan.de miteinander zu vernetzen, musste das Portal zunächst seine gewohnten Abläufe ändern, denn eine Nachbarschaft mit Adressen, die angemeldet werden können, gab es ja zunächst noch gar nicht. Die Idee dahinter: schon mal Nachbarn miteinander zu verbinden, die noch gar keine sind. „Die meisten derer, die hierherziehen wollten, waren neu in Ludwigsfelde und kannten noch niemanden“, erläutert Vinh-Nghi Tiet, Geschäftsführer der Rousseau Park GmbH. „Außerdem waren sie als baldige Eigenheimbesitzer alle in einer ähnlichen Situation.“ Dort entstehen 1.000 Einfamilienhäuser und bis zu 200 Wohnungen für insgesamt 5.000 Personen. Die Nachbarschaft hat in Teilen schon zusammengefunden, bevor man sich das Quartier teilt.

In den ohnehin als anonym verschrienen Großstädten sind noch ganz andere Akteure gefragt: Bei der „Schaffung lebendiger (digitaler) Nachbarschaften“ können Wohnungsunternehmen in Deutschland „eine wichtige Rolle als Vorreiter und Treiber“ einnehmen, so die vom Bundesverband deutscher Wohnungs- und Immobilienunternehmen GdW beauftragte Studie „Wohntrends 2035“: In der Wohnungswirtschaft werde die Onlinekommunikation mit dem Kunden zum Normalfall. „Gerade größere Wohnungsbauunternehmen haben zum einen die Fähigkeiten, Nachbarschaften im großen Stil auch per App einzubinden“, sagt Katrin Trunec, Mit-Autorin der Studie und Senior Beraterin der Analyse & Konzepte GmbH. „Des Weiteren haben diese großen Akteure auch oft ganze Quartiere in ihrer Obhut.“ Während die Bewohner über ihr Wohnumfeld informiert werden möchten, wollen die Vermieter sozialen Zusammenhalt fördern – auch im Eigeninteresse eines attraktiven Wohnumfelds. „Maßgeschneiderte Apps“, so Trunec, „bieten hierbei den größtmöglichen Spielraum.“

Luftbild einer Wohnsiedlung mit Noetbook, Tablet, Handy
Pilotprojekt mit 2.000 Teilnehmern: Die Hamburger Wohnungsgenossenschaft Schiffszimmerer motiviert ihre Mitglieder mit der eigens entwickelten App, zum ­Beispiel, zu Veranstaltungen ins Gemeinschaftshaus zu kommen.

Senioren vor die Tür locken

Ein Pilotprojekt mit solch einer App läuft derzeit in Hamburg. „Wir wollen mit den Bewohnern hier in Kontakt bleiben, sie zudem ermuntern, vor die Tür zu gehen und in der Nachbarschaft soziale Kontakte zu schließen – auch per App“, erläutert Sabine Brahms, Leiterin des Quartiers- und Freiwilligenmanagements der Schiffszimmerer eG. „Gerade weil die Bewohner im Schnitt immer älter werden, ist es wichtig, frühzeitig Unterstützung anbieten zu können – ‚Hilfe zur Selbsthilfe‘ ist schließlich auch ein Kerngedanke des Genossenschaftsprinzips.“

Die Schiffszimmerer eG hat 9.000 Wohnungen in mehreren Quartieren. Allein im Rübenkamp leben etwa 8.000 Menschen, davon ungefähr 2.000 in derzeit rund 900 Wohnungen der Genossenschaft. „Um möglichst direkten Kontakt zu einzelnen Bewohnern und sozialen Zusammenhalt in der Nachbarschaft herzustellen, bedarf es dort verschiedener Mittel“, sagt Brahms. So ermöglichen erst barrierefreie Häuser und Wege im Quartier, dass Senioren vor die Tür gehen können. Ein Gemeinschaftshaus, in dem regelmäßig Veranstaltungen angeboten werden, dient als Anlaufstelle. Dort lernen einerseits Nachbarn sich kennen, andererseits Mitarbeiter und Ehrenamtliche der Genossenschaft die Bewohner. „Ein wichtiger Baustein beim Entwickeln eines inklusiven Quartiers ist unsere App ‚Meine Nachbarn‘“, betont Brahms. „Hiermit können wir eine Reihe ganz bestimmter Zielgruppen punktgenau erreichen, auch Menschen, die schon älter sind.“ So motiviere man etwa über Ansprache via App Menschen, zu bestimmten Veranstaltungen ins Gemeinschaftshaus zu kommen.

App als Forschungsprojekt

Um die Kosten für das inklusive Quartier samt App stemmen zu können, holte sich die Genossenschaft Unterstützung von außen: als Partner des EU-geförderten Forschungsprojekts „AGQua – Aktive und Gesunde Quartiere“. Die Universität Hamburg wurde hierbei mit der Konzipierung, der technischen Entwicklung sowie der Evaluation eines digitalen Nachbarschaftsnetzes betraut. „Dafür haben wir bereits im Jahr 2016 mit ersten Vorüberlegungen zu einem digitalen Nachbarschaftsnetz begonnen und einen nutzerzentrierten Entwicklungsansatz gewählt“, erläutert Pascal Vogel vom Arbeitsbereich IT-Management und -Consulting der Universität Hamburg. Wichtig sei dabei gewesen, alle relevanten Akteure aus den Pilotquartieren des Projekts, wie die Nachbarinnen und Nachbarn, das Quartiersmanagement sowie lokale Organisationen und Institutionen, von Beginn an in die Entwicklung einzubeziehen – etwa im Rahmen von Gesprächen, Workshops oder Sprechstunden im Quartier. „Unser Ziel war es, herauszufinden, welche Aktivitäten dieser Gruppen im Quartier sich durch ein Nachbarschaftsnetz digital abbilden, unterstützen und verstärken lassen“, sagt Vogel. „So entstand eine ganze Reihe von Prototypen unterschiedlicher Güte, von papierbasierten Varianten über interaktive Demos bis hin zu einer funktionalen App.“

Nachdem die erfolgversprechendsten Funktionen und eine geeignete technische Grundlage identifiziert waren, ging die App „Meine Nachbarn“ im Sommer 2019 an den Start und wurde allen Bewohnerinnen und Bewohnern der Pilotquartiere zur Verfügung gestellt. Um den Zugang zu erleichtern, kann „Meine Nachbarn“ nicht nur als App genutzt, sondern auch über den Browser aufgerufen werden, eine Vorinstallation ist nicht nötig. Die Nutzer haben die Möglichkeit, persönliche Profile anzulegen und sich mit anderen über private Kanäle auszutauschen. Im öffentlichen Bereich kann man bislang unbekannte Nachbarn kennenlernen, dort informiert auch die Schiffszimmerer eG über Veranstaltungen im Quartier, unter anderem über einen Kalender. Auch über relevante lokale Angebote mit Fokus Gesundheit kann man sich informieren lassen. Benachrichtigungen lassen sich nach persönlichen Interessen aktivieren.

„Im laufenden Betrieb wollen wir jetzt herausfinden, ob ein digitales Nachbarschaftsnetz sich positiv auf die soziale Teilhabe, Verbundenheit und das Wohlbefinden der Nachbarinnen und Nachbarn auswirkt“, so Vogel. „Wir untersuchen diese Faktoren mithilfe von Interviews, Umfragen, Fokusgruppen und der Analyse des Nutzungsverhaltens.“ „Meine Nachbarn“ wird ständig, basierend auf dem Feedback der Nutzerinnen und Nutzer und insbesondere auch des Quartiersmanagements, weiterentwickelt. Aufgrund der großen Nachfrage aus anderen Hamburger Quartieren sollen zudem 2020 noch mindestens acht weitere Nachbarschaften auf der Plattform vertreten sein, jeweils von einem ­eigenen Quartiersmanagement betreut.

Alle Beiträge zum Thema finden Sie in unserem Schwerpunkt Vernetzt

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