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[ Gesellschaft ]

Die Stadt im digitalen Biedermeier

Virtualität und Smartness lösen die bekannten Verhältnisse von Raum und Zeit auf. Die Gegenreaktion ist der Wunsch nach handfester Realität: nach Gemütlichkeit und Genuss, nach selbst geimkertem Honig, nach ländlicher Idylle oder schönen Stadträumen für gesellige Zusammenkünfte

Die Fortsetzung aus dem Heft beginnt mit dem Abschnitt 1. Die moderierende Moderne

1. Die moderierende Moderne
2. Verbindungen suchen
3. Der Raumwiderstand
4. Das Stadtschöne
5. Die Raumlust
6. Willkommen im digitalen Biedermeier
7. Ein millionenfaches Plädoyer

Von Wolfgang Christ

Schon 1995 hat der französische Architekt und Philosoph Paul Virilio unsere Lebenswelt als ‚Stereorealität’ charakterisiert, in der wir permanent zwischen physischer und virtueller Welt wechseln.[1] Politik, Wirtschaft und Wissenschaft scheinen heute in seltener Eintracht vor allem das Ziel zu verfolgen, die Herausforderungen der Urbanisierung, des Klimawandels, des demografischen Wandels, schwindender natürlicher Ressourcen, aber auch die der Medizin, Bildung und sozialen Beziehungen technologisch zu lösen. Daher ist es nur folgerichtig, dass die „Digitale Agenda“ auch den Schlüssel zur Stadt des 21. Jahrhunderts liefern wird. Zugleich wissen wir, dass auch die aktuelle technische Revolution interessengesteuert ist: Amazon und Google stehen mittlerweile weltweit an der Spitze der Unternehmen mit den höchsten Ausgaben für Forschung und Entwicklung. Ihr Geschäftsmodell umfasst den ganzen Menschen und das von ihm geschaffene Ökosystem. Sie arbeiten am digitalen Stadtschlüssel.[2]

So viel scheint sicher: Die Zukunft wird „smart“! Zu Hause sind wir dann in einer Wohngemeinschaft mit „Smart Kits“ im „Smart Home“. Vor der Tür befinden wir uns im Big-Data-Raum von „Smart City“ und „Smart Region“. „Smart“ steht heute für alle möglichen Komfortvorteile neuer Technologien, prototypisch beim Online-Shopping oder beim gleichnamigen Kleinwagen „für mehr Spaß in der Stadt“. Die etymologischen Wurzeln des englischsprachigen Begriffs deuten gleichwohl auf eine komplexere Botschaft hin als die, die uns das Marketing suggeriert. „Smart“ ist demnach nicht nur „intelligent“, sondern „smart sein“ zeichnet sich in erster Linie als „gewitzt“ und „schlau“ aus. Und das ist eindeutig eine Eigenschaft, die nur Menschen, vielleicht auch Tieren eigen sein kann. Vor allem „Gewitztheit“ würden wir kaum Maschinen oder technischen Infrastrukturen attestieren. Könnte es also sein, dass wir uns auf der Reise in das smarte Zeitalter zu sehr auf Technologie und Markt, aber zu wenig auf Kultur und Natur verlassen? Wie ausgewogen muss „Stereorealität“ sein, wenn wir Lebensqualität im 21. Jahrhundert definieren wollen?

Für eine Antwort auf diese Frage ist schon der Besuch einer Bahnhofsbuchhandlung durchaus aufschlussreich. Denn für eine Archäologie des Zeitgeistes ist das Großangebot an Mainstream-Publikationen stets eine reiche Fundgrube. Egal, wo ich hinkomme, schon beim Betreten des Ladens fällt die Vielzahl an Magazinen, Ratgebern, Bildbänden und eine auf einen Massenmarkt zielende populärwissenschaftliche Literatur ins Auge, die ganz offensichtlich einem dringenden Wunsch nachkommt: Raus aus dem digitalen Stress! Als Navigationshilfe bieten sich Zeitschriften wie „Flow“, „Daphne’s Diary“, „Happinez“, „Herzstück“ oder „Happy Way“ an. Die Nachfrage ist groß. Die gedruckte Auflage der „Landlust“ übertrifft die des Spiegels oder des Sterns. Allein der Begriff „Land“ erscheint in gut einem Dutzend Titel. Neben dem 2005 gestarteten Marktführer „Landlust“ finden sich ­heute „Land & Leute“, „LandKind“, „Landfreunde“, „Land­idyll“, „Land & Berge“, „Landgarten“, „Liebes Land“, oder, geradezu philosophisch ambitioniert, „Land-Idee“.

Zeitschriften zum Thema "Land"
Zeitschriften zum Thema „Land“ in einer Bahnhofsbuchhandlung

Die genannten Hefte wenden sich mit ihrem Fokus auf Körper und Gefühl, Schönheit, Gesundheit und Seele in der Tradition der Moderne ganz bewusst an eine weibliche Leserschaft. In dem mittlerweile wieder eingestellten Magazin „Cord“, „das neue Männer-Magazin fürs Wesentliche (…) Ein Heft voller Achtsamkeit mit dem speziellen Blick von Männern aufs Leben“ heißt es im Leitartikel des zweiten Heftes 2018 programmatisch: „Ständig was Neues: Wie es uns gelingt, gelassen mit dem Wandel umzugehen.“ Denn darum geht es: Auf der Suche nach Antworten auf die Zumutungen der digitalen Moderne ist „Achtsamkeit“ ein Fixstern, an dem sich alle orientieren können. Allein in deutscher Sprache ist das dazugehörige Bücherangebot kaum zu überblicken. Bei Amazon werden für „Achtsamkeit Bücher“ mehr als 3.000 Vorschläge angezeigt.

Begonnen hat alles mit dem amerikanischen Molekularbiologen Jon Kabat-Zinn Ende der Siebzigerjahre. Aus buddhistischer Meditation (Vipassana), Yoga und Zen formte er ein Programm, das Menschen ursprünglich einfach helfen sollte, besser mit Stress umzugehen. Und er gab dem Ganzen einen neuen Namen: „Stressreduktion durch Achtsamkeit“, kurz MBSR (aus dem Englischen: mindfulness-based stress reduction). Inzwischen gibt es in Deutschland acht Ausbildungsinstitute und rund 1.000 Achtsamkeitslehrer. Tendenz steigend. Sie alle werden gebraucht: Immer häufiger bieten auch große Unternehmen wie der Softwarehersteller SAP Achtsamkeitsübungen für ihre Belegschaft an, auch Krankenkassen übernehmen einen Teil der Kursgebühr“.[3]

Ist also die Titelflut unter dem Zeichen der Achtsamkeit ein Indiz für wachsende Widersprüche in der Gründerzeit der Digitalisierung? Sind Flow-Erfahrungen Ausdruck einer Flucht vor dem „Netz“, oder wirkt die analoge Auszeit geradezu systemstabilisierend? Achtsamkeit oder Amazon – ist das hier die Frage? Das digital-analoge Wechselspiel wird die Zukunft prägen. Doch welche absehbaren Folgen wird das für die Stadtentwicklung haben?

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1. Die moderierende Moderne

Wohnen und Arbeiten, Mobilität und Einkaufen, aber auch Bildung, Kultur und Freizeit – also die Routinen des Alltags – werden im 21. Jahrhundert in einer Weise zusammenrücken und wieder miteinander verflochten, die in vielerlei Hinsicht an das anknüpft, was das Leben in der vorindustriellen Stadt auszeichnet. Bis ins 19. Jahrhundert ist Stadt das Bindemittel für nahezu alle Funktionen und soziale Schichten. Ihr Aufbau als Ganzes spiegelt die Vielschichtigkeit ihrer einzelnen Bausteine, die nie nur einer Funktion dienen. Wie etwa das Zentrum: Dort ist der Marktplatz die merkantile Mitte, immer temporär sowohl öffentlich als auch privat nutzbar. Der Raum dient gleichermaßen der ökonomischen, kulturellen, politischen und gesellschaftlichen Repräsentation. Er ist Ort und Struktur personaler Kommunikation zugleich, ist stets ein Knoten des Verkehrs und institutionalisiert für alle und alles die konkurrenzlose Mitte.

Das historische Privileg der Stadt als integratives Medium nimmt nun zusehends das Internet ein. Vieles deutet heute darauf hin, dass die Digitalisierung der Informations- und Kommunikationstechnologie den Alltag in einer bislang noch traditionell analog verfassten Lebenswelt radikal verändern wird. Absehbar ist, dass der physische Raum als Medium der funktionalen, sozialen und symbolischen Integration in dem Maß an Bedeutung verlieren wird, in dem der virtuelle Raum zum integralen Bestandteil des Alltagslebens mutiert.[4]

Ein Leben in der digitalen Raum-Zeit-Kultur wird nicht ohne gravierende Folgen bleiben. Gerade auch für die Stadt. Denn Raum und Zeit werden neu codiert. Die folgenreichste Neuprogrammierung liegt 500 Jahre zurück. Als konstituierendes Element der Aufklärung befreit die Zentralperspektive den Menschen aus seiner religiös-mythologischen Wahrnehmung der Welt und begründet den anthropozentrischen Zugang zu Natur und Kultur. Die Geschichte der Europäischen Stadt ist ein Abbild des damit ausgelösten Prozesses zunehmender Technisierung, Rationalisierung und Verwissenschaftlichung.[5]

Zugleich lässt sich an der Entwicklung der Stadt ablesen, dass der Prozess der Moderne immer auch Abwehrreaktionen mit sich bringt und radikale Gegenentwürfe provoziert. Gleichwohl bildet sich  auf lange Sicht ein evolutionärer Prozess aus dem Wechselspiel von Versuch und Irrtum. Dessen Kennzeichen ist weder Sieg noch Ausstieg aus der Moderne. Im besten Fall finden technischer Fortschritt auf der einen und komplementäre, ihrem Wesen nach kompensatorische Elemente auf der anderen Seite, zu einer nachhaltig stabilen neuen Einheit zusammen.

An der Schwelle zum digitalen Zeitalter stellt sich die Frage, ob wir auch in Zukunft auf eine moderierende Moderne vertrauen können. Wir könnten uns an der wechselvollen Geschichte der Industriestadt orientieren: Tod bringende Epidemien, Wohnungselend der vom Land zuströmenden Massen und hohe Kindersterblichkeit suchen die Städte heim. Grund genug  Tabula rasa zu machen und die ‚Stadt der Zukunft’ jenseits der traditionellen Stadt völlig neu zu erfinden – das Bauhaus, Le Corbusier oder Frank Lloyd Wright liefern viel versprechende Konzept.[6]

Schild zur Geschichte der Sophie-Gips-Höfe
Früher Industriestadt, heute Lebensqualität

Die von kritischen Zeitgenossen nicht für möglich gehaltene Kultivierung der existierenden Industriestadt gelingt dennoch, nicht zuletzt dank des ausdrücklich als radikale Alternative konzipierten Gartenstadtmodells des englischen Parlamentsstenographen Ebenezer Howard.  Die darin angelegten Strategien einer sozialen Boden- und Baupolitik; des genossenschaftlichen Bauens; gesunder Wohnstandards; einer stadträumlich kontrollierten und künstlerischen Qualitäten verpflichteten Baukultur; einer großräumlichen Grüngürtel- und Grünzugsplanung; einer effektiv vernetzten Verkehrsinfrastruktur und  nicht zuletzt einer holistisch angelegten Planungskultur, die technische, städtebauliche, landschaftliche, verkehrliche, gestalterische und soziale Aspekte miteinander vernetzt, transformieren die verhasste ‚Mietskasernenstadt’ in eine ‚Wohnstadt’.[7] Zu Beginn des 21.Jahrhunderts werden die im Milieu von Boden- und Immobilienspekulation entstandenen Gründerzeitquartiere  schließlich mit dem höchsten Maß an Lebensqualität assoziiert: Urban und Mitte gibt es nun, befreit von allem was stören könnte, inklusive Grün, Hygiene, Sicherheit und Service.

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2. Verbindungen suchen

Ein weiteres Charakteristikum der Europäischen Stadt ist auf dem Weg in die Digitalisierung besonders wertvoll: Keine Initiative ist zu klein, um nicht am Ende doch erfolgreich zu sein. Auch das lehrt die Erfahrung im Laufe der gartenstädtischen Industriestadtentwicklung. Zu ihren vielfältigen und durchaus widersprüchlichen Wurzeln gehört eine Mischung aus Lebensreformbewegung, bürgerlicher, sozialistischer und christlich-reformerischer Kämpfer für humanes Wohnen. Beiträge liefern frühsozialistisch motivierte Verfechter idealer Wohngemeinschaften, paternalistische Unternehmer und sozialdemokratisch gesinnte Gewerkschaftler und Kommunalpolitiker. Sozialpolitisch  engagierte Architekten, Stadtplaner und Künstler, immer auf der Suche nach dem neuen Bauen und der Stadt von morgen, entwerfen alltagstaugliche Quartiere wie die des ‚Neuen Frankfurt’.[8] Was alle, die an der Reformagenda der Stadt im Industriezeitalter mitwirken eint, ist das Gespür für dringend notwendige gesellschaftliche Veränderungen zugunsten gesunder, sozial gerechter und kultivierter Lebensverhältnisse für die Masse der Bevölkerung.

Die Gartenstadtbewegung ist das Reformlabor des Industriezeitalters. Sie ist ein Seismograph für Konflikte und Widersprüche. Ihre Protagonisten starten in der Regel im Privaten als individuelle Weltverbesserer, nicht selten als Aussteiger aus einem bürgerlichen Leben.  Der eigene Körper wird oft zum ersten Gegenstand und Beweisstück des propagierten Wandels. Vegetarismus, Reformkleidung, Freikörperkultur, Ausdruckstanz und bis heute fortwirkend – Reformschulen – sind Zeichen des Aufbruchs zu einem besseren Leben.

Wer heute nach Konzepten für ein gutes Leben in der ‚Stereorealität’ Ausschau hält, wird vergleichsweise nicht viel Substanzielles entdecken. Unsere Zeit ist arm an konkreten Utopien. Eine im ursprünglichen Sinne ‚smarte’ Alternative zur ‚Big-Data-Stadt’ mit der Kraft der historischen Gartenstadtallianz, fehlt bislang. In dieser Lage könnte  Joachim-Felix Leonhards Postulat „weniger in Segmenten (zu) denken, als Verbindungen (zu) suchen“ bedeuten, zu den Quellen der Industriemoderne zurück zu gehen und  die Suche nach Lösungswegen aus offensichtlich systemimmanenten Konflikten in einer Zeit aufzuspüren, die erstaunlich viel ‚Verbindendes’ aufweist: in die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts, eine Epoche, die wir als ‚Biedermeier’ kennen.

Stadtlounge St. Gallen
Ruhe im Sturm der Beschleunigung: St. Gallen besitzt seit 2005 eine „Stadtlounge“ der Künstlerin Pipilotti Rist und des Architekten Carlos Martinez.

Was wir grundlegend teilen, ist die Erfahrung der Entgrenzung von Raum und Zeit. Die Antwort der Biedermeier-Zeit auf die Herausforderungen der industriellen Revolution ist der Rückzug ins Private, in das Häusliche, Bequeme und Gemütliche. Schon Zeitgenossen kennzeichnen durchaus abschätzig  ‚Biedermeier’ als Inbegriff einer kleinbürgerlichen Figur, die ‚schlafmützig’ im Windschatten des Fortschritts ihr kleines Glück finden will.[9] Die Rolle der Familie als Hort bürgerlichen Glücks und des Wohnzimmers als Salon und Fokus sozialer Beziehungen sprechen für die Sehnsucht nach Gemeinschaft von Gleichgesinnten und vor allem nach Reflexion und Ruhe im anbrechenden Sturm der Beschleunigung. Denn  mit Eisenbahn und Telegraphie, Heißluftballon und Fotographie, aber auch mit der neuen Glasarchitektur der Passagen, nimmt die Entgrenzung von Raum und Zeit deutlich Fahrt auf. In jeder Hinsicht wird Geschwindigkeit fortan zum konstituierenden Merkmal der Moderne.[10]

Nach der Eroberung und Ausbeutung der äußeren Natur steht heute die Industrialisierung der inneren Natur auf dem Programm der Moderne. Für die Stadtentwicklung heißt das: Die Informations- und Kommunikationstechnologie bewirkt eine totale Relativierung der leiblichen Erfahrung, nur an einem einzigen Ort in analoger Zeit anwesend sein zu können. Insbesondere die 2007 mit dem Smartphone von Apple in Gang gesetzte Medialisierung der Alltagswelt führt zu einem Zustand, in dem Nähe und Distanz, zuhause und unterwegs, innen und außen, ihre historisch konstante dichotomische Differenz verlieren. Damit verlöschen die historischen Kräfte, die Stadt als Form bilden.

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3. Der Raumwiderstand

Analoge und digitale Uhr veranschaulichen, worum es im Kern geht: Die Stadt europäischen Typs und die analoge Uhr haben eine gemeinsame Identität. Sie vermitteln Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft auf einen Blick. Der Zeiger der analogen Uhr beschreibt einen Weg und definiert dabei jeweils einen Ort im System einer Fläche. Relationen im Raum des Zifferblattes werden ablesbar.  Gleichwohl wandeln sie sich ständig. Die traditionelle Uhr entwickelt die Zeit aus dem Verhältnis von Zwischenräumen, die die Zeiger in ihrem Lauf beschreiben. Die Signets von traditioneller Stadt und analoger Uhr sind nahezu identisch.

Die digitale Zeit symbolisiert eine andere Welt. Sie ist Zahl, also präzise und unsinnlich. Ihre Zeitangabe zeigt immer nur das Jetzt, nicht das Davor und nicht das Danach. Es ist eine Zeit ohne Zwischenräume und ohne lebensweltliche Referenz. Die Digitaluhr negiert den Zusammenhang von Raum und Zeit. Mit dem Internet kommt die digitale Raum-Zeit-Kultur nun in die Stadt. Und verändert alles.[11]

In nur wenigen Jahren sind physische und virtuelle Welt zusammengewachsen. Zum Beispiel: Studenten hören eine Vorlesung und googeln parallel nach zur Sprache gekommenen Begriffen oder chatten zum Leidwesen des Vortragenden mit Freunden. Auch zu Fuß gehen, Rad fahren oder Auto fahren und dabei aufs Smartphone schauen ist mittlerweile üblich. Besonders aufschlussreich ist der Paradigmenwechsel des Einzelhandels. Für den stationären Handel gleicht das Smartphone in der Hand des Kunden einer permanenten Bedrohung des bis dato nie infrage gestellten Anspruchs, exklusiv Waren anbieten zu können und allein die entscheidenden Informationen hinsichtlich deren Ausstattung, Qualität und Preisgestaltung zu besitzen. Doch der Online-Handel kennt weder topologische Bindungen an Einkaufslagen, noch die Beschränkung von Ladenöffnungszeiten. Physische Grenzen sind obsolet. Der ubiquitäre Zugang zum Internet zerstört a priori  hierarchische Machtgefüge. Damit gerät auch die Beziehung von Produzent, Handel und Kunde aus den Fugen. Aus Kundensicht ist das Netz potentiell ein Medium der Emanzipation. Dann befördert es den unmündigen Konsumenten zum selbständigen Akteur in der Konsumkultur der Post-Warenhaus-Ära.[12]

Online-Shopping und die Implementierung des Smartphone und zunehmend  sprachgestützter Instrumente wie ‚Alexa’ von Amazon in alle möglichen Facetten alltäglicher Handlungsweisen, zeigen eine folgenreiche Wende im tradierten Gefüge von Raum und Zeit an: das Internet bricht den ‚Raumwiderstand’. In der Sprache der Verkehrswissenschaften wird damit das Maß der Erreichbarkeit eines Ziels definiert. Je höher der Raumwiderstand, desto geringer sind die Chancen von A nach B zu kommen. Und je schwächer der Raumwiderstand ausgeprägt ist, desto enger rücken A und B zusammen. Für die Stadt heißt das, Menschen können direkt, statt über den Umweg gebauter Netzknoten, wie etwa Bahnhof, Marktplatz, Kino, Café oder Shopping Center, oder materieller Medien wie Zeitung und Buch, miteinander kommunizieren.

Das Dilemma ist: die Identität der traditionellen Stadt, die bis heute unser Bild der Stadt entscheidend bestimmt, deren mittelalterlicher Kern wir in vielen Fällen immer noch als repräsentative Mitte anerkennen, gründet in einem Milieu des maximalen Raumwiderstands. Die Mauer der vormodernen Stadt signalisiert schon aus der Ferne das Zentrum des Handels und das Versprechen, dass dahinter Stadtluft ‚frei macht’. Öffentliche Bauten nutzen die  Kraft ikonografischer Architektur, angefangen mit der Stadtmauer, den Stadttürmen, Stadttoren, den Kirchen und Klosteranlagen bis zu Warenspeicher, Börse und Rathaus für ihre spezifischen Botschaften von Macht, Markt oder Mitte. Baukultur ist dabei ein entscheidender ökonomischer und politischer Standortfaktor. Schönheit und Sicherheit sind Attribute, die aus der Abgrenzung erwachsen. Die Stadt kultiviert den Raumwiderstand. Und Stadt ist ein knappes Gut: um 1800 leben nur etwa fünf Prozent der Bevölkerung im deutschsprachigen Raum in einer Stadt.

Stadtkultur ist a priori Raumkultur: Von der ummauerten Stadt bis zur einsetzenden Suburbanisierung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts – in den USA ist dort das Shopping Center die ‚Ersatzstadt’ – gleicht die Position der Stadt der einer (fetten) Spinne im Netz.  Die gebaute Mobilitäts- und Kommunikationsinfrastruktur ist stets auf Stadt und vor allem auf deren Mitte  ausgerichtet, auch wenn sie, wie in Suburbia oder der Zwischenstadt, am Rand liegt. Stadt ist der starke Knoten, der den Schienen- und Straßennetzen das übergeordnete Ziel bietet und dem ganzen Geflecht Sinn verleiht. Im raumordnungspolitischen Begriff der ‚Zentralität’  kulminiert Raumwiderstand zum strategischen Instrument der Stadtplanung. Die ‚Zentrale Orte Theorie’, in den 1930er Jahren von dem deutschen Geographen Walter Christaller entwickelt, macht die Nutzungen und Nutzer eines Raumes zu hierarchisch gewichtet und geografisch abgrenzbaren Kategorien. Dies ist bis heute die Praxis der Regional-, Infrastruktur- und Einzelhandelsplanung in Deutschland. Mit der sich beschleunigenden Transformation der analogen ‚Raumordnung’ in eine digitale ‚Zeitordnung’ wird nun Zentralität als Standortindikator prinzipiell unbrauchbar.

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4. Das Stadtschöne

Die Digitalisierung hebt den Raumwiderstand auf. Folgerichtig wird mit der Smart City aus dem analogen Stadt-Knoten das virtuelle Stadt-Netz. Deren multiplen Netze kennen keine Mitte. Doch die Botschaft der Bilder, mit denen die grenzenlose Zukunft der Stadt von morgen angekündigt wird, ist eigentümlich von gestern. Prototypisch demonstriert dies eine Computeranimation aus der von der Fraunhofer-Gesellschaft propagierten ‚Morgenstadt’: Ein Paar mittleren Alters lässt, auf einem Balkon vielleicht im 20. Stockwerk stehend, den Blick über eine großstädtische Stadtlandschaft aus üppig begrünten Hochhäusern schweifen. Die Stadt erscheint von Pflanzen überwuchert. Die Smart City gleicht einem vertikalen Garten. Beide Personen stehen mit dem Rücken zum Betrachter, sichtbar versunken in einer Atmosphäre, in der die Grenzen von Natur und Kultur endgültig aufgehoben scheinen – der Traum der Aufklärung! Es handelt sich hier um ein immer wiederkehrendes Motiv in der Bildwerbung für Premiumimmobilien. Die Inszenierung des Blickes leitet von innen nach außen. Die Perspektive der Betrachter wird vom Haus oder von der Wohnung auf die Stadt gelenkt und dies in der Regel von oben herab. Die Wohnung wird zum individuellen Belvedere. Die Eigentümer oder Mieter baden regelrecht im visuellen Meer der Stadt.[13]

Die Bildstrategie ruft die Raumkompositionen der deutschen Romantik auf, allen voran Caspar David Friedrich. Dessen ‚Wanderer über dem Nebelmeer’ wirkt wie ein Prototyp für die Bildkommunikation einer Komplementärwelt zur digital fragmentierten Raum-Zeit. Die Position der Figuren verspricht den uneingeschränkten individuellen Überblick und vermittelt eine entspannte Souveränität im Umgang mit der Außenwelt – diesmal der Stadt. Der endlose Stadthorizont ist wie bei Caspar David Friedrichs Meer- und Nebelbildern  auch lesbar als eine Metapher für das Grenzenlose des Raumes, dem das Individuum ausgesetzt ist und das es zugleich zu fürchten, wie zu bewundern scheint. Das ‚Naturschöne’ mutiert zum ‚Stadtschönen’. Die Ambivalenz des Lebens in der Moderne könnte kaum treffender zum Ausdruck kommen.[14]

Anzeige Wohnungsangebot in Paris
Maklerschaufenster in Paris 2011: 7 Quadratemeter im Marais für 83.000 Euro mit „superbe vue“

Auch Stadt wird aus der Distanz wahrgenommen, fernab vom Alltag. Die Werbeprosa der Immobilienwirtschaft für Hochhausprojekte in den deutschen Metropolen, allen voran Berlin und Frankfurt, versetzt die zukünftigen Bewohner gerne mitten ins Zentrum des Geschehens. Im Angebot ist die Stadt hinter Glas[15], die das jederzeit mögliche Bad in der Menge mit der Garantie  des schnellen Rückzugs aus dem urbanen Milieu in die sicheren Sphären eines ‚Vertical Suburbia’ vereint. Gerne wird vom Reiz urbaner Atmosphäre sowie von der Gegend als ‚fein’ gesprochen. In all das kann man sich einkaufen. Stadt erscheint als ein Ort, der alle gesellschaftlichen, ökonomischen, kulturellen und politischen Widersprüche überwunden hat und der in einen Zustand des ästhetischen und leiblichen Genießens eingetreten ist. Je deutlicher dieses Bild der Stadt vor Augen geführt wird, desto grotesker wirkt der Gegensatz zu den zerrissenen Raum- und Zeitstrukturen, die mit dem Internet zum prägenden Bestandteil der Alltagswelt geworden sind und dem Chaos an visuellen Reizen, dem der Mensch damit ausgesetzt ist.

Das Wohnen in der ‚Morgenstadt’ verspricht eine Auszeit aus der Komplexität und den Widersprüchen des Lebens in der Wissensgesellschaft. Die Wohnung, das Haus, der Garten bilden komplementär aufgebaute Parallelwelten. Alle Vorteile der urbanen Existenz können mit allen Vorteilen des suburbanen Lebensstils , entscheidend aber mit denen der Netzwelt des Internet, verknüpft werden. Man kann innen und außen, online und offline zugleich sein, ohne ‚ganz’ dabei zu sein, ohne ‚wirklich’ dazu zu gehören. Die Kunst der Projektplaner und Webdesigner besteht darin, die Dialektik von Nähe und Ferne, vom Eigenen und Fremden, von Integration und Separation, baulich und gestalterisch in eine gefällige, leicht konsumierbare Form des permanenten sowohl als auch zu bringen.

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5. Die Raumlust

Was dabei herauskommt, ist die narrative Architektur des analogen Widerstands. Die identitätsstiftenden Merkmale sind:  eine fußläufig erfahrbare räumliche Dimension; eindeutige gestalterische Fassung; erzählbare(n) Geschichte(n); städtebauliche Stabilität und baukulturelle Homogenität sowie eine ästhetisch aufgeladene Atmosphäre. Alles in allem handelt es sich materiell und vor allem gefühlt um einen äußerst widerstandsfähigen, ‚kompletten’ Raum im Unterschied zum zerstückelten virtuellen Raum im Netz. ‚Compleet’ ist denn auch gleichsam ein Zauberwort des zeitgenössischen ‚New Urbanism’ in den USA. Je kompletter ein Stadtquartier aufgebaut ist, desto attraktiver ist es für die ‚Digital Natives’. Das Maximum an Lebensqualität verspricht das Wohnen im urbanen Stadtquartier bei unbegrenztem Zugang ins ‚Netz’. Die Mehrzahl der Collegeabsolventen lebt heute in den Innenstädten der USA und akzeptiert einen dreifach höheren Mietpreis als in Suburbia, kleine Apartments und den Verzicht auf das Auto eingeschlossen.[16]

Diesseits und jenseits des Atlantiks können nur gründerzeitliche Großstadtquartiere mit einem maximalen Raumwiderstand gegen die permanenten Angriffe digitaler Zerstreuung aus dem Netzuniversum aufwarten. Insofern ist das, was soziologisch  als Gentrifizierung bezeichnet wird, urbanistisch gedeutet nichts anderes als das offensichtlich existenzielle Bedürfnis nach einer analogen Insel im digitalen Meer.

Aktuelle Stadtplanungen in den USA beginnen, dem Rechnung zu tragen: Suburbane Siedlungen der Nachkriegszeit erhalten eine neue Downtown im traditionellen Muster, oft im Zuge der Revitalisierung brachgefallener Shopping Center-Areale. Großstädtische Downtowns befinden sich seit der Jahrtausendwende in einem Prozess der Reurbanisierung. In Los Angeles  sind mehr als 40000 Menschen zugezogen, jährlich kommen 3000 bis 4000 hinzu.  Mit erstaunlichen Folgen: 2012 stimmen Zweidrittel der Bewohner in einer Abstimmung per Internet dafür, mit einer eigenen Steuerabgabe über einen Zeitraum von 20 Jahren zusätzliche Mio. 85 Dollar für den Bau einer Straßenbahnlinie bereit zu stellen. Was sie antreibt, ist der Wunsch nach dem urbanen Lebensstil der 1920er Jahre und dafür sind sie bereit, persönlich in den Umbau der Innenstadt unter dem Motto ‚Bringing back Broadway’ zu investieren.[17]

Neue Alstadt Frankfurt
Frankfurt: Bringing back Altstadt

In Deutschland folgt die Immobilienwirtschaft der Spur neuer Bedürfnisse und beginnt mit dem Bau sogenannter Stadtquartiere als mehr oder weniger kaschierte ‚Gated Communities’. insofern gewinnt Raumwiderstand noch einmal eine überraschend poetische Note, gleichwohl (kommunal)politisch brisant: Die neue Lust am schönen Raum demonstrieren bühnenreif die sogenannten ‚Heinrich Heine Gärten’ in Düsseldorf: In einem viereinhalb Minuten langen Image-Film, 2014 offen zugänglich im Internet, wendet sich der zu Lebzeiten stets mit Geldsorgen konfrontierte und mit den politischen Zuständen in seinem Vaterland hadernde Dichter scheinbar nebenbei an potentielle Käufer. Heine spricht zu seiner Geliebten mit altväterlich-gütiger Stimme, unterlegt mit sanften Klavierklängen und lädt zu einer Bilderreise durch seine Heimatstadt ein. Dann führt der Film mal fotorealistisch, mal künstlerisch in Bleistiftoptik animiert, ein Premiumwohnquartier vor, die ‚Heinrich Heine Gärten’. Das Quartier erscheint im momentan angesagten Retrostil großbürgerlicher Gründerzeitarchitektur mit Referenzen in Berlin, Paris und London. Die Interieurs der Wohnungen, die Hausfassaden, Innenhöfe, Gärten und Vorgärten, Bürgersteig, Straßen und Schmuckplätze wirken bis ins Detail als eine gestalterisch homogene, architektonisch und städtebaulich perfekt durchkomponierte Filmkulisse. Das Medium ist die Botschaft an die zukünftigen Bewohner, sich in einer großen Erzählung wiederzufinden und häuslich einzurichten. Wohnen wird in ein Drehbuch eingebettet.[18]

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6. Willkommen im digitalen Biedermeier

Je stärker die Kräfte der Digitalisierung in die Lebenswelt jedes Einzelnen eindringen und mit Hochgeschwindigkeit die überkommene Vorstellung von Raum und Zeit zertrümmern, desto stärker wächst das individuelle Bedürfnis nach einer Gegenwelt, die Entschleunigung und das analoge Ganze verspricht. Dabei sollen sich die fragmentarischen Bruchstücke des Alltags individuell wieder zu einem  Bild fügen. Dessen Konturen sind übersichtlich, dessen Aussagen verständlich und dessen Botschaft ist sinnstiftend angelegt: Willkommen in der Welt des digitalen Biedermeier!

Jenseits hochpreisiger Rauminszenierungen für eine begrenzte Nachfrage findet die Flucht aus dem digitalen Alltag vor allem im Kleinen statt. Weltweit etablieren sich Bewegungen, deren Ziel Glück und Gesundheit im ‚Stereoalltag’ der Moderne ist. Der Phantasie sind dabei keine Grenzen gesetzt und aus den Ideen und Initiativen Einzelner ist längst ein Massenphänomen geworden. Das verbindende Kennzeichen ist die Schaffung analoger Atmosphären. So sind auch die entsprechenden Magazine hochwertig gedruckt, oft mit kunstvoller Grafik und qualitätsvollem Papier ausgestattet, um nicht zuletzt eine handschmeichlerische Anmutung zu besitzen. Sie sind als Sammlerstücke angelegt. Andererseits findet sich in den Magazinen eine Fülle an Links zu den Homepages der Autoren und vorgestellten analogen Produktwelten. Das Biedermeier des 21.Jahrhunderts hat eine eigene Heimat in den sozialen Netzwerken des Internet. Die folgende Aufzählung biedermeierlicher Phänomene – unter den betreffenden Begriffen leicht zu googeln – ist bei weitem nicht vollständig:

‚StadtLesen’, ‚Slow Reading’, ‚Shared Reading’ und ‚Silent Reading’, bringen Menschen wieder zum Buchlesen – auch und gerade als Gruppenerlebnis. Wer ‚Urban Sketching’ betreibt, hält Bilder nicht objektiv mit der Digitalkamera, sondern subjektiv und  künstlerisch bearbeitet im Skizzenblock fest. ‚Urban Beekeeping’ hat einen entscheidenden Anteil an der wieder zunehmenden Zahl der Bienenvölker und der in der Stadt gewonnene Honig ist zudem noch schadstofffrei. ‚Saisongärten’ bringen junge Menschen dazu, wieder einen Nutzgarten anzulegen, und das oft mitten in der Stadt. Der Boom der Außengastronomie transformiert Bürgersteige und Plätze in den Zentren der Städte mehr und mehr zu öffentlichen Wohnzimmern. Straßen nehmen wieder die Rolle von Aufenthaltsräumen an und auf diese Weise werden sie zum urbanen Pendant der virtuellen sozialen Netzwerke. ‚Weiße Tafel’-Events bringen Hunderte Enthusiasten dazu, an langen Tischen, ganz in Weiß gekleidet, spontan zusammenzukommen und genussvoll zu brunchen. ‚Communal Eating’ lockt zum ‚Familiy Style Dining’ ins Table Restaurant’ zum zwanglosen Kennenlernen. Zusammen ist man weniger allein. Im FAZ-Magazin vom November 2016 erklärt Johannes Jung Sinn und Zweck: „Der Trend kommt, natürlich, aus Amerika und verbreitet sich über urbane Lokale…Gastronomen begannen schon vor Jahren, lange Tafeln einzuführen... Im Hamburger Drei-Sterne-Restaurant The Table ist der Name Programm. So werden auch Gäste, die einander unbekannt sind, durch die räumliche Nähe, Stuhl an Stuhl, zur Interaktion gezwungen“.

Veranstaltung "StadtLesen" in Bregenz
Veranstaltung „StadtLesen“ in Bregenz

Zum analogen Gegenentwurf zählen auch: Briefe wieder mit dem Füller schreiben; Tagebuch im ‚echten’ Papierformat führen; in ‚Handlettering’- Kursen wieder schön schreiben lernen; Obst und Gemüse verarbeiten und einkochen; gemeinsam Stricken; schweigend im Park lustwandeln und ab und zu einem vorgelesenen Text lauschen. Auch Dinge zu reparieren und verstehen zu wollen, wie etwas funktioniert, ist wieder angesagt. In einem Café den Laptop aufzuklappen und ins Netz zu gehen ist offensichtlich angenehmer, als alleine im Büro oder Zuhause online zu sein. ‚Coworking’ hat daraus eine Geschäftsidee entwickelt, die gerade dabei ist, auch die traditionelle Bürolandschaft in ein Küchen- und Wohnzimmerambiente zu verwandeln. Das „Training, wie man im Alltag zur Ruhe findet“ kann der ‚Achtsamkeitsabend’ bieten. Ausmalen ist mittlerweile eine weit verbreitete Entspannungstechnik, zum Beispiel mit Hilfe des Buchs „Die großen Meister – Anti-Stress-Malbuch für Erwachsene“. Discounter führen Ausmalbücher für Erwachsene im Programm. Der Einzelhandel ist seit jeher ein Seismograph neuer Bedürfnisse und erkennt schnell, wann und wo ein Markt entsteht.

Die Journalistin Maren Keller schreibt in der Online-Ausgabe des SPIEGEL: „Unser digitalisiertes Leben schürt die Sehnsucht nach Tradition. Und so ist Handarbeiten plötzlich hip. Nach Feierabend werden immer mehr Büroangestellte zu Bierbrauern, Näherinnen oder Zeichnern…Handarbeit ist Reinemachen in der Seele… Ausmalen ist Yoga mit Buntstiften. Eine Entspannungsübung, bei der es darum geht, dass alles überschaubar bleibt, nicht darum, ob es ansehnlich wird“.[19]

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7. Ein millionenfaches Plädoyer

Die Amazon- und Apple-Kultur markiert heute den Stand der technischen Zivilisation. Da ist es nur folgerichtig, dass alles zum Bestseller-Thema wird, was unmittelbar die Sinne anspricht und als Sinn stiftend gilt. Und erneut zeigt sich: es sind Einzelne, die Defizite der Digitalisierung zuerst spüren und individuell gegensteuern wollen. Obwohl die ‚Digitale Agenda’ mittlerweile nicht zuletzt die Debatte um die ‚Stadt der Zukunft’ beherrscht, festzumachen am skizzierten technikverliebten ‚Morgenstadt’-Konzept [19], das im wesentlichen von 11 kooperierenden Fraunhofer Instituten unter Abwesenheit von Urbanisten und Städtebauern erdacht wurde, ist eine auffällig rasch wachsende Zahl von Zeitgenossen auf der Suche nach Entlastung von den Zumutungen der ‚smarten’ Internetkultur.

Was ist also angesichts der ‚Stereorealität’ von Algorithmus und Atmosphäre für die Entwicklung der Stadt von morgen zu tun? Nach den schmerzhaften Erfahrungen mit der funktionalistischen Moderne des 20. Jahrhunderts ist zuallererst Skepsis gegenüber neuen Visionen der ‚Stadt der Zukunft’ angebracht, die stets bei Null beginnen, von oben herab verkündet, keinen Stein auf dem anderen lassen. Die ‚Zukunft’ war schon immer ‚smart’. Heute droht die ‚autogerechte Stadt’ von der ‚datengerechten Stadt’ abgelöst zu werden. Beiden gemeinsam ist der technokratische Zugriff auf den Bestand. Insofern sind Plattenbau und Satellitenstadt auf der einen, Smart Home und Smart City auf der anderen Seite, vergleichbar als Ausdruck einer offensichtlich tief verankerten Eigenart der Moderne, immer wieder und mit neuen Mitteln, das Wohnen und die Stadt den Kräften der Rationalisierung, Technisierung, ökonomischer Effizienz und autoritärer Kontrolle auszusetzen. Der Verlust von urbaner Komplexität, (bau)kultureller Vielfalt und nicht zuletzt von lokaler Eigenart und Identität, sind die bekannten Folgen eines eindimensional  technisch geprägten Fortschrittsglaubens.

Die ansatzweise versuchte Phänomenologie des Zeitgeistes bringt individuelle Überlebensstrategien im alltäglichen Umgang mit den Entfremdungserfahrungen eines fragmentierten Raumes und einer ortlosen Zeit zum Vorschein. Es deutet noch wenig darauf hin, dass dies als Anspruch auf eine Korrektur des ablaufenden Umbaus der Lebenswelt in eine datengerechte Umwelt gesellschaftspolitische Relevanz gewinnen könnte. Weder das, was viele Einzelne in ihrer Freizeit als Auszeit vom Internet unternehmen, noch das, was darüber in bunt aufgemachten Magazinen  massenhaft publiziert und öffentlich sichtbar im Netz ausgetauscht wird, wird von den planenden Professionen als existenzielles Bedürfnis wahrgenommen.

Die neue Lust an allem, was nicht digitalisierbar ist, ist kein Angriff auf die Moderne, sondern ein millionenfaches Plädoyer für deren bislang nicht zur Kenntnis genommene komplementäre und kompensatorische analoge Seite.

 

Prof. Wolfgang Christ ist Architekt und Stadtplaner in Heidelberg sowie Gründer des Urban INDEX Instituts. Sein Essay erscheint in Kürze auch in: Helmut Knüppel, Julius Leonhard (Hrsg.): „Natur – Bildung – Kultur. Versuch einer Verbindung“, Quintus Verlag, 2019

 

[1] Virilio, Paul: Alarm im Cyberspace, 1995. Zugriff: http://monde-diplomatique.de/artikel/!1259127

[2] zeit online: Amazon gibt am meisten für Forschung aus. (16,1 Mrd $ und Alphabet (Google) auf Platz 2: 13,9Mrd $), Zugriff: https://www.zeit.de/wirtschaft/unternehmen/2017-10/forschung-entwicklung-amazon-volkswagen-abstieg-budget

[3] Klein, Mechthild: Hör mir auf mit Achtsamkeit, zeit online, Zugriff: https://www.zeit.de/wissen/gesundheit/2018-03/meditation-achtsamkeit-hype-anti-stress-depression-psychologie.

[4] Christ, Wolfgang: Mitte_Mall_Media: Architektur und Städtebau des Handels im Prozess der Moderne, in: Ringel, Johannes; Korzer, Tanja; Niemann, Beate. (Hrsg): Innenstadt Handel/n – Retail Urbanism. Detmold 2014. S. 110–142.

[5] Virilio, Paul: Alarm im Cyberspace, a.o.a.O.

[6] Conrads, Ulrich: Programme und Manifeste zur Architektur des 20. Jahrhunderts, Gütersloh, 1964.

[7] Stern, Robert A.M.; Fishman, David; Tilove, Jacob,: Paradies Planned. The Garden Suburb and the Modern City. The Monacelli Press 2013.

[8] Dreysse,DW (Hg): Das neue Frankfurt, 2011.

[9] Böhmer, Günter: Die Welt des Biedermeier. München 1968.

[10] Schivelbusch, Wolfgang: Die Geschichte der Eisenbahnreise. Zur Industrialisierung von Raum und Zeit im 19.Jahrhundert, München 1977, S.51 ff.

[11] Christ, Wolfgang, 2001: Öffentlicher versus privater Raum, in: Werner Rietdorf (Hrsg): Auslaufmodell Europäische Stadt? Neue Herausforderungen und Fragestellungen am Beginn des 21. Jahrhunderts. Berlin 2001, Seite 188ff.

[12] Christ, Wolfgang: Konsumkultur und Raumstruktur. Aktuelle Entwicklungen in  den USA und Großbritannien, in: Informationen zur Raumentwicklung, Heft 1.2014, Stuttgart. S. 67ff.

[13] Christ, Wolfgang: Im Zentrum Wohnen: ALLEIN. Thesen zur Zukunft von Haus , Straße und Stadt, in: Internationales Städteforum in Graz (Hg): Im Zentrum Wohnen, Graz 2015. S.18ff.

[14] Böhme, Gernot: Für eine ökologische Naturästhetik. Frankfurt 1989. S.19ff.

[15] Christ, Wolfgang: Konsumkultur und Raumstruktur, Aktuelle Entwicklungen in  den USA und Großbritannien. a.o.a.O.

[16] Zugriff: https://bringingbackbroadway.com/info/

[17] Christ, Wolfgang: Im Zentrum Wohnen: ALLEIN. Thesen zur Zukunft von Haus, Straße und Stadt, a.o.a.O

[18] Keller, Maren: Warum wir plötzlich alles selber machen wollen, in: spiegel online, 5.2016. Zugriff: http://www.spiegel.de/spiegelwissen/handarbeit-die-welt-begreifen-a-1090785.html.

[19] Zugriff: https://www.morgenstadt.de/

1 Gedanke zu „Die Stadt im digitalen Biedermeier

  1. Nun, wir schreiben den 12.04.2020 Ostersonntag, jetzt ist uns dank Corona das digitale Biedermeier auferlegt worden. Ein Virus schafft es, dass die Menschen Reduzierung & Rückzug praktizieren müssen. Die Nachhaltigkeit dieses „Virenkrieges“ bleibt abzuwarten.
    Claudia Königsmann, KREATIVMANUFAKTUR

    Antworten

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