Von Rudolf Stumberger
München gilt als eine der attraktivsten deutschen Städte: eine boomende Wirtschaft, die nahen Berge und viel Lokalkolorit machen die bayerische Landeshauptstadt zu einem begehrten Wohnort. So begehrt, dass das soziale und städtebauliche Gleichgewicht nun zu kippen droht.
„DNA des Erfolges. Stadt der Zukunft 2040. Investorenchance München“, so lautet der Titel einer 2017 erstellten Studie der Immobilienfirma Wealthcap (die Kapitalverwertungsgesellschaft ist der größte Investor am Münchner Gewerbeimmobilienmarkt) gemeinsam mit der Fraunhofer-Gesellschaft. Darin werden verschiedene Zukunftsszenarien entworfen, und eines davon nennt sich „die entfesselte Stadt“. Dabei wird davon ausgegangen, dass die bisherige soziale und ökonomische Ausgeglichenheit in der bayerischen Landeshauptstadt in eine Schieflage gerät, sich die Schere zwischen Reich und Arm weitet. Die Attraktivität der Stadt schlägt in das Gegenteil um: Die hohen Mieten führen zur Verdrängung der Normalverdiener. In der Folge werden drei Münchner Stadtviertel vorgestellt, die heute bereits der Entwicklungstendenz einer „entfesselten Stadt“ folgen.
Das könnte Sie auch interessieren
Paulaner-Areal: Das München der Reichen
Die Au und das Isar-Hochufer in München waren früher ein Arme-Leute-Viertel. Unten am Auermühlbach reihten sich in krummen Gassen Holzhütte an Bretterbude, bis alles in einer Bombennacht zum Opfer der Flammen wurde. Oben am Hochufer baute ein katholischer Siedlungsverein Wohnhäuser für die Arbeiter, damit diese nicht zu den Sozialisten überliefen. Schräg gegenüber zu diesen „Josephs-Häusern“ errichtete eine Wohnungsgenossenschaft in den 1920er-Jahren ihren Wohnblock. Das Viertel war eines der Arbeiter, die ihr Geld entweder bei der Paulaner-Brauerei, beim Pfanni-Werk oder in der Zündapp-Fabrik verdienten. Das war grundsätzlich so bis Ende der 1980er-Jahre, dann begann sich das Viertel zu ändern, die Tante-Emma-Läden verschwanden und die Kneipen begannen sich zu ändern. Jetzt können die Anwohner einem neuen Modernisierungsschub beiwohnen: Dem Bau von Luxuswohnungen.
Normalverdienern wird die Stadt zu teuer
„Die Wohnungen, die hier entstehen, kann sich keine normale Familie mehr leisten“, sagt Jörg Spengler und blickt auf den Rohbau, der gerade an der Regerstraße emporwächst. Spengler ist Vorsitzende des zuständigen Bezirksausschusses Haidhausen-Au, der sich schon einige Zeit lang mit der Bebauung des Paulaner-Geländes beschäftigen musste. Seit dem Wegzug der Brauerei schießen hier die Fantasien und die Quadratmeterpreise der Investoren in die Höhe. „Hoch der Isar“ preist eine Firma ihre hier entstehenden Nobelresidenzen – „Exklusive Lobby mit Concierge-Service“ – an, die Drei-Zimmer-Wohnung mit „City-Blick“ ist für rund drei Millionen Euro zu haben, das „Townhouse“ kostet dann schon fünf Millionen Euro. Die 80-Quadratmeter-Wohnung für rund eine Million Euro ist da fast schon ein Schnäppchen. Auch unten in der Au geht es hoch her, was die Immobilienpreise anbelangt. Dort entsteht am Auer Mühlbach das „Haus Mühlbach“: Das ehemalige Untersuchungsgefängnis wird derzeit zu Luxusappartements umgebaut.
Klar ist: Weder unten in der Au noch am Hochufer werden Busfahrer oder Altenpflegerinnen einziehen. Das Viertel wird seine soziale Zusammensetzung ändern und auch die umliegenden Wohnungen sind nun dem Preisdruck ausgesetzt. Hier, wie an vielen anderen Stellen der Stadt auch, ist München dabei, eine Stadt der Reichen zu werden.
Selbst die Immobilienbranche sorgt sich
Eine Entwicklung, die zum Bumerang werden kann. Denn irgendwo müssen auch diejenigen wohnen, die die notwendigen Dienstleistungen erbringen: Putzkräfte, Polizisten, Trambahnfahrer. So sorgt sich die Studie aus der Immobilienbranche um die abnehmende Attraktivität einer Stadt der Reichen: „Kümmern sich Städte nicht um die Daseinsvorsorge, erschweren sie es Gering- und Normalverdienern, dort zu wohnen. Deshalb sollte sich die Stadtpolitik nachhaltig für die soziale Gerechtigkeit stark machen und verhindern, dass gentrifizierte Viertel das Stadtbild prägen.“
Kann die Stadt leistbare Mieten nicht garantieren, werden sich Menschen anderweitig orientieren – und auch Unternehmen, die auf gut ausgebildete Fachleute angewiesen sind. Und: „Neben dem wirtschaftlichen Verlust verringert die Stadt auch ihre soziale und kulturelle Vielfalt. Das könnte ein Standortnachteil sein“, so die nicht uneigennützige Sorge der Immobilienbranche, die diese Verhältnisse ja mitverursacht.
Stadt München will künftig 50 Prozent des Bodens
Dabei unternimmt die Stadt schon einiges, um diese Entwicklung mit diversen Fördermodellen zu verhindern. 30 Prozent der Wohnungen auf dem Paulaner-Gelände sind sogenannte geförderte Wohnungen für „Normalverdiener“ (Hier schreiben wir über einige Münchner Wohnungsbauten im bezahlbaren Segment. Die Erhaltungsatzung soll generell die Wohnbevölkerung vor der Vertreibung schützen. Die Stadt stellt ihren Angestellten günstige Wohnungen zur Verfügung, damit diese weiter in München arbeiten. Doch damit nicht genug. Stadtbaurätin Elisabeth Merk: „Unser Ziel ist es, künftig 50 Prozent aller neuen Baulandflächen in städtische Hand zu bekommen.“ Zudem setzt sich die Landeshauptstadt bei stadteigenen Projekten, wie in Freiham, in Teilen der Bayernkaserne oder perspektivisch auch im Münchner Nordosten und Norden auf weitere Steuerungsmöglichkeiten: die stadteigenen Wohnungsbauprogramme und Grundstücksvergaben, die nicht nach Preis, sondern nach dem besten Konzept vergeben werden. „Dabei fördern wir aktiv Baugemeinschaften und Baugenossenschaften“, so die Stadtbaurätin, die weiter anmerkt: „Die Landeshauptstadt München steht an der Spitze der Bodenrechtsreformbewegung und wird sich hier, wie bereits im Vorfeld, auch über die entsprechenden Gremien in die fachliche Diskussion einbringen.“
Damit spielt sie darauf an, dass München eine Ausweitung des Umwandlungsvorbehaltes auf das gesamte Stadtgebiet sowie weitere (preislimitierte) Vorkaufsrechte anstrebt. beide Instrumente finden sich folglich auch im aktuellen Referentenentwurf zum Baulandmobilisierungsgesetz des Bundesbauministeriums, das sich noch im Gesetzgebungsverfahren befindet.
Ob all diese Maßnahmen wirklich ausreichen, ist fraglich, solange die Wertsteigerung des Bodens innerstädtisch mehrere Millionen in wenigen Jahren betragen kann. „Die Maßnahmen verlangsamen diese Prozesse nur“, meint etwa Brigitte Wolf, die auch im Bezirksausschuss Haidhausen-Au sitzt. Der hat nun quer durch alle Parteien hinweg einen Antrag gebilligt, mit dem die Erhaltungssatzung auch auf die Umgebung der neuen Luxusquartiere angewandt werden soll, um die Vertreibung der angestammten Bewohner zu verhindern.
Werksviertel: Das München der Kreativen
Das „Werksviertel“ in München heißt so, weil hier hinter den Gleisen des Ostbahnhofs einst so einiges produziert wurde – vom Kartoffelknödel bis zum Motorrad. In der anliegenden Friedenstraße warteten Prostituierte auf die Freier. Heute entsteht dort die Stadt der Zukunft, deren Rohstoffe nicht mehr Eisen oder Stahl, sondern Kreativität und Kultur heißen. „Das Werksviertel München verbindet Leben, Wohnen und Arbeiten auf einzigartige Weise“, so die Werbung der Bauträger. Die industrielle Vergangenheit wird symbolisch aufgegriffen, zum Beispiel mit der Benennung der Neubaublocks als „Werk 1“ oder „Werk 12“
Das ehemalige Areal der Firma Pfanni als „Werksviertel-Mitte“ mutet in einer kritischen Lesart als eine Art Legoland für die wohlhabenden Mitglieder des grün-alternativen Milieus an. Am Eingang erwarten den Besucher buntbesprühte Container, davor trinkt man auf Bierbänken eine Latte macchiato – ein städtebauliches Zitat, das an besetzte Fabrikgelände der 1970er-Jahre erinnern soll. Danach stößt man auf jene Zutaten, die in den Kreisen dieses globalisierten Sozialmilieus angesagt sind: „Mitte Meer“, nennt sich ein Laden für „Mediterrane Lebensmittel und Wein“, ein anderer für Kindermode bietet „Rebellious Elegance“, ein dritter „Body and Soul“. Im hinteren Geländeteil haben sich Kreative in alten Fabrikgebäuden niedergelassen und ziehen hier ihre Start-Ups hoch. Vor einer Backsteinmauer sitzt ein Angehöriger dieser Generation und macht Pause. „Ich glaube nicht, dass das hier abgerissen wird“, meint er.
Spaß als Treibstoff
Das Kreative der IT-Nerds verbindet sich hier mit der Kultur zu einem neuen gesellschaftlichen Treibstoff: Die Spaßgesellschaft scheint auf. Dafür steht unübersehbar mitten im Werksviertel ein Riesenrad, das sich „Umadum“ nennt, für zugezogene Menschen ist dieses bayerische Wort für „Rundherum“ freilich wohl kaum zu verstehen. Um die Ecke passt dazu der „Quatsch Comedy Club“ und im „Werk 7“ das Musicaltheater. Nur ein paar Meter davon entfernt liegt die große Baugrube der neuen Münchner Philharmonie: ein kulturelles und finanzielles Megaprojekt.
Das Werksviertel „steht exemplarisch für eine Entwicklung im Münchener Wohn- und Immobiliensegment, die auch in anderen Städten zu beobachten ist, jedoch in München besondere Renditechancen verspricht“, sagt dazu die Zukunftsstudie „DNA des Erfolgs“. Und: „Dabei entstehen innenstadtnahe, hochwertige Wohnquartiere mit kurzen Wegen zum Arbeitsplatz und zu kulturellen Angeboten, die im Grunde für eine bestimmte Zielgruppe, nämlich die ‚kreative Klasse‘ ausgelegt sind.“ Diese vor allem jungen, qualifizierten und zahlungskräftigen „Wissensarbeiter“ (häufig: „kreative Bohème“) achten auf ihre Mitmenschen und setzen sich für das Allgemeinwohl ein. Zugleich haben sie hohe Ansprüche und erwarten, dass diese erfüllt werden (beispielsweise von der Stadt oder den Arbeitgebern). Die Studie: „Sie genießen ihre Freizeit bewusst, gern geben sie für Komfort und Erlebnis mehr Geld aus.“ Im Werksviertel dürften sie alles finden, was sie brauchen, doch trotz des etwas alternativem immobilienwirtschaftlichen Ansatzes, wird es wohl auch hier keinen Platz für die Verlierer der Stadt geben.
Systemrelevante Berufe als Verlierer
In der Corona-Krise waren sie noch die Helden: Die Altenpfleger, Krankenschwestern, Busfahrer und Verkäuferinnen. Sie sind systemrelevant für das Funktionieren der Gesellschaft. Nicht aber für die Stadt der Zukunft und ihre digitalisierte Ökonomie. Dort sind sie die „Verlorenen“, also die Verlierer, wie sie die Studie von Wealthcap in einem Szenario beschreibt. Inzwischen ist München, die teuerste Stadt Deutschlands, die dem Szenario einer „entfesselten Stadt“, in der die Schere zwischen Arm und Reich sich weitet, wieder ein Stück nähergekommen.
„Eine weitere Polarisierung von Arbeit in Richtung hochqualifizierter und gut bezahlter Erwerbsarbeit in den hochproduktiven industriellen Dienstleistungsbranchen einerseits und in Richtung einfacher, personenbezogener und gering entlohnter Dienstleistungsarbeit andererseits ist folglich ein nicht unwahrscheinliches Szenario, das die Stadt München künftig noch stärker als heute prägen könnte – mit den Implikationen für die Sozialstruktur, aber auch für den Immobilienmarkt“, heißt es in der Zukunftsstudie.
Und weiter: „Im Jahr 2040 ist München geprägt von sozio-ökonomischen Transformationsprozessen, die das soziale Konsensmodell, das auf hoher Wirtschaftskraft und hoher Lebensqualität für alle Münchner basierte, mehr und mehr unterspült haben.“ Treibende Kräfte seien Digitalisierung und Ökonomisierung. Und: „Dabei ist die Schere zwischen denjenigen, die von diesen Entwicklungen profitieren, und denjenigen, die in einem wirtschaftlich harten und zuweilen feindlichen Lebensumfeld den Traum der Möglichkeiten träumen, ohne diesen jemals verwirklichen zu können, stetig größer geworden.“
20 Prozent Verlorene
Diese Gruppe der „Lost“ (Verlorenen) wird mit 20 Prozent der Stadtbevölkerung angegeben. Sie sind zwischen 50 und 65 Jahre alt und empfinden die Digitalisierung nicht als Chance, sondern als Bürde. Sie sind nicht gut ausgebildet und haben den Anschluss verpasst bei der Umstellung auf digitale Medien und Infrastrukturen. Sie machen gerade eine Umschulung und nehmen immer wieder befristete, gering bezahlte Jobs an. Aus der Innenstadt wurden sie an den Stadtrand gedrängt.
Dieses Zukunftsszenario beschreibt Menschen, die bereits in der heutigen Realität an den Münchner Stadträndern wohnen: Zum Beispiel in Ramersdorf-Neuperlach im Osten oder im Hasenbergl im Norden. Dort liegt auch der Entsorgungsbetrieb „ConJob“, der 60 Langzeitarbeitslose im Rahmen eines geförderten Arbeitsmarktes beschäftigt. Glück gehabt hat Lagerist Thomas Möller, der feste Arbeitsplatz des 34-Jährigen wird vom Jobcenter finanziert.
Diese Viertel zeichnen sich durch gemeinsame Merkmale aus: In ihnen leben die meisten Familien mit Kindern, die meisten Arbeitslosen und die meisten Hartz IV-Bezieher. Und charakteristisch ist auch das politische Verhalten: In diesen Vierteln ist die Wahlbeteiligung am niedrigsten und der Anteil der AfD-Wähler am höchsten – ein seit Jahren anhaltender Trend.
Jetzt werden die Trabantenstädte gentrifiziert
Baulich zeichnen sich diese Stadtteile durch den sozialen Wohnungsbau der 1950er-, 1960er- und 1970er-Jahre aus: Blocks, Zeilen und Hochhäuser, eine eher unterentwickelte Infrastruktur, was etwa Schwimmbäder und weiterführende Schulen anbelangt. Aber auch diese Viertel sind längst nicht mehr gefeit gegen Gentrifizierung. Viele der ehemaligen Sozialwohnungen sind aus der Sozialbindung gefallen und die Folgen einer kapitalgetriebenen Stadtentwicklung sind auch hier zu sehen. So wird in der Trabantenstadt Neuperlach jetzt für einen Neubau nicht mehr für Wohnungen, sondern für „Logen“ geworben, die Zweieinhalb-Zimmer-„Loge“ mit 66 Quadratmeter kostet eine halbe Million Euro – geradezu ein Schnäppchen in der Landeshauptstadt.
So ist das Szenario der Immobilienstudie – die sich öffnende Schere zwischen Arm und Reich – in den ehemaligen Sozialwohnungsviertel der Stadt längst Realität geworden. Dort erwarten sich die „Verlorenen“ von der Politik nicht viel. Die prosperierende Stadt der Zukunft wird für sie zunehmend zu einem feindlichen Umfeld, in dem sie nur durch staatliche Hilfen überleben können.
So mehren sich in bestimmten Münchner Stadtviertel die Anzeichen, dass es eine Entwicklung hin zum Szenario der „entfesselten Stadt“ gibt. Die aber ist selbst für die Immobilienwirtschaft bedrohlich, von einer sozial verträglichen Stadtentwicklung für die Zukunft ganz zu schweigen.
Dr. Rudolf Stumberger ist Privatdozent an der Universität Frankfurt am Main und arbeitet als freier Journalist in München für internationale Zeitungen und Magazine
War dieser Artikel hilfreich?
Weitere Artikel zu: