Von Roland Stimpel
Entgrenzung war eines der großen Anliegen der Architektur und des Städtebaus der Moderne. Im Haus sollten die Räume sich weiten und ineinanderfließen; der Übergang nach draußen sollte optisch unmerklich sein und dort die Stadt sich mit der Landschaft zu einem einzigen Kontinuum vermählen. Wie wir heute wissen, hat die Entgrenzung viel zu unseren ökologischen Sorgen beigetragen. All die privaten Säle wollen erwärmt, beleuchtet und oft gekühlt sein. Der ältliche Bungalow mit den bodentiefen Fenstern heizt den Garten mit und die ganze Welt. In der weder urbanen noch grünen Zwischenstadtlandschaft ist alles weit weg, nur das Auto immer nah.
Bei den meisten Städtebauern ist es längst Konsens, dass das Entgrenzen der Großfehler des 20. Jahrhunderts war. Doch in der Architektur geht es weiter wie gehabt. Leitbild in Ästhetik und Lebensstil ist nach wie vor das Großzügige, Weite, Offene. Das verantworten natürlich nicht nur Architekten, sondern mindestens so sehr ihre Bauherren und deren Verführer. Aber Architekten setzen dem wenig entgegen. Durch viele Büros und Entwurfsseminare schwebt nostalgisch der Geist der Frühmoderne. Und wenn es zum Beispiel die Moderne von Dessau ist, dann sind es natürlich die 250-Quadratmeter-Meisterhäuser, nicht die 57-Quadratmeter-Butzen von Törten.
So tun viele Architekten das Ihre dazu, dass wir immer großräumiger wohnen. Selbst in Zeiten scheinbarer Neubauflaute, wie wir sie etwa seit dem Jahr 2000 haben, legt der Durchschnittsdeutsche pro Jahr 0,35 weitere Quadratmeter zu. Das klingt bescheiden, bedeutet aber jedes Jahr ein neues Frankfurt, oder realistischer: jedes Jahr fast 700 neue Siedlungen und Dörfer für 1.000 Einwohner.
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Dichtere Städte mit weniger Menschen
Nun ist zwar das Neue besser gedämmt und effizienter beheizt; manchmal spendet es sogar Energie vom Dach. Aber meist ist auch das heute Gebaute noch ein Minus-Energie-Haus – erst recht, wenn man den Aufwand für das Bauen einbezieht. Und es ersetzt das Alte nicht, sondern ergänzt es. In all diesen Fällen bedeutet das Neue zusätzlichen Energiefraß. Direkt und mehr noch indirekt: Unsere Städte dehnen sich nicht nur aus, sie dünnen auch aus. Die Wege werden immer länger, die Netze immer weitmaschiger. Auch die Infrastruktur ist immer verstreuter und braucht Fläche und Energie. Soziale, wirtschaftliche oder energetische Verbundsysteme, Nachbarschafts- und Quartierlösungen umzusetzen, wird immer schwieriger. Die immer noch entgrenzende Architektur ist der Feind des konzentrierenden Städtebaus.
Zwar dient ein Großteil der aktuellen Architektur der Verdichtung und Innenentwicklung; die ist natürlich besser als das Zer- und Verstreuen. Und sie produziert Innenstädter, die meist auf weniger Flächen wohnen als Randmenschen. Aber selbst bauliche Verdichtung kann paradoxerweise mit demographischer Ausdünnung einhergehen: Wenn die Fabrik zu Lofts umgebaut wird, dann ziehen stolze Einzelne aus 100-Quadratmeter-Wohnungen aus und in die 200-Quadratmeter-Hallen ein. Und während im Kaiserzeitquartier eine Baulücke geschlossen wird, verschwinden aus der Gegend die letzten Familien mit drei Kindern; stattdessen kommen Paare und Singles. Am Ende ist das Viertel dichter zugebaut und dünner besiedelt. Wir können so energetisch raffiniert, so scheinbar umweltschonend bauen, wie wir wollen – es ist alles vergeblich, wenn wir dabei auch immer größer wohnen. Dass Nachhaltigkeit und großräumiges Wohnen vereinbar seien, gehört zu unseren Lebenslügen. Es geht nur eine Und wenn wir die Nachhaltigkeit wollen, müssen wir uns beim Wohnen beschränken.
Wie kommen wir dahin? Mit moralischen Appellen nicht, mit Zwangsverwaltung à la DDR auch nicht. Mehr nachdenken sollten wir über Belastungen für großräumiges und Entlastungen für sparsames Wohnen. Die heutige Grundsteuer ist so niedrig und so altertümlich berechnet, dass sie wenig bewirkt. Eine Wohnkostenabgabe könnte an der echten oder einer fiktiven Miete orientiert sein oder an der Wohnfläche pro Kopf. Für große Flächen könnte es Belastungen, für kleine aus demselben Topf staatliche Gutschriften geben. Auch bräuchte es Puffer oder Kompensation von Unsozialem, etwa bei Familien und Witwen im angestammten Eigenheim.
Großräumig wohnen? Dekadent wie Ludwig XIV.
Zugegeben: das klingt bedrohlich – aber es soll ja weit Ärgeres bekämpfen. Besonders bedrohlich klingt es für Architekten. Weniger Wohnen hieße weniger bauen, jedenfalls neu bauen. Da steckt der Berufsstand im Dilemma: Einerseits will und muss er vom Bauen leben, andererseits weiß er am besten, was dessen Exzesse anrichten, und reklamiert hier sogar höhere Einsicht. Man nehme nur das Manifest mit dem hoch tönenden Titel „Vernunft für die Welt“, unterzeichnet von der Bundesarchitektenkammer, den Verbänden BDA, BfB und VfA sowie BDIA, BdLA und SRL. „Wir müssen den Einsatz von Boden um ein Vielfaches verringern“, heißt es darin. „Wir wollen die zukunftsfähige Stadt, die durch eine sinnvolle Verdichtung Flächen schont. Wir werden Anreize für ein nachhaltiges Bauen und eine klimagerechte Stadtentwicklung entwickeln.“
Alles voll korrekt. Aber wie kann man schonen und zugleich bauen? Eine Antwort gibt die deutsche Praxis, indem sie mehr als die Hälfte allen Bauens auf den Bestand verlagert hat. Architekten und Planer können noch eine bessere Antwort geben, indem sie die süßen Seiten pflegen, die der Verzicht auf große Fläche durchaus hat. Dieser Verzicht ist zwar ab und zu Thema in Architektur-Medien. Aber meist werden dann Versuche propagiert, neues Flächensparen mit der alten Entgrenzung zu vereinen. Gern besingt man den minimalistischen Bauherrn (vorzugsweise Japaner und selbst Architekt), der auf eine 20-Quadratmeter-Parzelle ein 60-Quadratmeter-Einraumhaus mit fünf Ebenen und offenen Strukturen gezaubert hat. Weit hinten in der Ode steht dann aber immer ein Satz wie „…verlangt der ganzen Familie viel Toleranz und Rücksichtnahme ab…“. Im Klartext: Des Raumflusses wegen quält der Kerl seine Kinder, seine Frau und sich selbst.
Entgrenzung auf geringer Fläche ist fein für frisch Verliebte, aber bald danach Scheidungsgrund. Nötig ist das Gegenteil: Architekten sollten die Qualitäten der Begrenzung pflegen und entwickeln. Auch kleine Räume haben etwas für sich. Viele Nutzerbedürfnisse sind im Begrenzten viel besser erfüllbar als im Weiten: die Bedürfnisse nach Schutz, Geborgenheit, Übersichtlichkeit, persönlicher Beherrschbarkeit und (sorry, aber das wollen die Leute) Gemütlichkeit. Dazu kommt ganz Banales: Das Kleinere ist leichter zu bezahlen, zu heizen und zu putzen.
Nun bietet ein Großteil der Wohnungen des 20.Jahrhunderts schon enge Grenzen, oft gezogen in der fragwürdigen Qualität vieler Sozialbauten, Reihen- und Siedlungshäuser. Da ist viel zu tun. Nehmen wir es mit der Nachhaltigkeit ernst, dann widmen sich unsere findigsten Entwerfer, die gewieftesten Statiker und die stringentesten Bauökonomen zuerst der Frage, was man mit den oft ungeschickt begrenzten und den verschwenderisch entgrenzten Häusern der Moderne machen kann. Das gäbe reichlich Arbeit für den Berufsstand. Wenn obendrein noch Neubau nötig ist, dann solcher mit kleinen Räumen in Höchstqualität. Und den Flächengroßverbraucher stellen wir mental und sozial in die Ecke Ludwigs des XIV.: Schön anzusehen sind seine Schlosssäle, aber ganz aus der Zeit gefallen, lebensfremd und unsozial. Begrenzen statt entgrenzen: Wird das zum Leitmotiv, dann geht alles auf einmal: Nachhaltigkeit propagieren, bauen und die eigene Existenz sichern.
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