Von Nils Hille
Als echten Ruhrgebiets-Charme bezeichnen es die einen, gar keine bis hässliche Gestaltung nennen es die anderen. Wer durch den Hinterausgang des Bochumer Hauptbahnhofs tritt, muss erst einmal tapfer sein. Hier reiht sich ein graues Haus an das andere. Und selbst Häuser, die eigentlich in einer anderen Farbe gestrichen sind, wirken an diesem Ort irgendwie grau. Tristesse pur, die sich scheinbar so weiter bis zur Stadtgrenze zieht, wenn man die Straßen hinunterblickt. Doch der Gang zwei Ecken weiter bringt eine Überraschung: Wie eine architektonische Oase taucht auf einmal eine Art Dorf auf. Wo früher eine Industriebrache mit Halle, Schutt sowie Tauben, Ratten und deren Hinterlassenschaften das Klischeebild bestätigte, stehen heute die Claudius-Höfe als Hingucker.
Allein dieser Kontrast lässt einen selbst bei Regen mit bester Grundstimmung in das kleine Neubau-Viertel einbiegen. Dort sieht man keine spektakuläre Architektur, sondern eine solide Gestaltung, die vor allem den besonderen Zweck der Inklusion möglichst perfekt erfüllen soll. Der Blick auf die Details verstärkt dann den ersten positiven Eindruck: Auf rund 10.000 Quadratmetern konnte das Büro Heinle, Wischer und Partner nach einem gewonnenen Wettbewerb seine Idee vom integrativen Mehr-Generationen-Wohnen realisieren. Und das, ohne wie ein Fremdkörper innerhalb der gewachsenen Blockrandstruktur zu wirken. Edzard Schultz, neben Sibylle Stiehler einer der zwei verantwortlichen Architekten, erklärt: „Obwohl der Wohnungsbau in unserem Büro eher eine untergeordnete Rolle spielte, haben wir den Auftrag bekommen. Vielleicht hatte ich als gebürtiger Bochumer einfach den richtigen Bezug zu der Aufgabe.“
Dieses Kind des Ruhrgebiets lebt und arbeitet heute in Berlin und konnte mit seinen Ideen zur Inklusion punkten. Denn der Bauherr, die Matthias-Claudius-Stiftung, suchte nach geeignetem Wohnraum für Menschen mit Behinderung, für die sie schon Schulen hatte bauen lassen. Ihr Vorsitzender Willi Theodor Gründer erklärt: „Je älter unsere Schüler wurden, desto mehr rückte nicht nur der Aspekt der Integration in den Arbeitsmarkt in den Vordergrund, sondern auch die Frage, wo sie einmal möglichst eigenständig leben würden.“ Eines war für ihn von Anfang an klar: Auf keinen Fall sollte dies abgegrenzt am Stadtrand geschehen. Und da Gründers Leidenschaft beispielhafte Projekte sind, wie er sagt, wollte er nicht irgendein Wohnheim errichten, sondern ein „Dorf in der Stadt“ bauen, das Menschen mit Behinderung einbindet und verschiedene Alters- und Interessengruppen verbindet.
Der bauliche Aspekt ist dabei sehr gut gelungen. Das „Dorf“ gruppiert sich um den Marktplatz mit Gastronomie, kleinen Läden und Gewerbeeinrichtungen. Obendrüber sind Wohnungen mit schönen, großen Balkonen entstanden, dahinter liegen Unterkünfte für Studenten und gegenüber ein Haus mit mehreren Wohngemeinschaften, in denen die Menschen mit Behinderung hauptsächlich ihren Wohnraum gefunden haben.
Direkt daneben baute der Generalunternehmer fast komplett nach Vorgaben der Architekten 15 Einfamilienhäuser in drei Blöcken, die sich um einen Spielplatz formieren, aber auch eigene Gärten haben. „Die Bewohner parken ihre Autos in einer Tiefgarage, die nur von einer außen liegenden Straße befahren wird und somit den freien Raum und die gute Luft im Dorf den Menschen statt den Motoren überlässt“, sagt Schultz. Dafür haben Groß und Klein viele Fahrräder vor den Türen geparkt. Egal, in welcher Wohnform sie leben, sie alle können den Gemeinschaftssaal und Anwohnertreff nutzen oder Ruhe im Garten der Stille finden. Daran liegt wiederum ein kleines Hotel, das mit seiner Nähe von 300 Metern zum Bahnhof punktet.
Egal ob Wohnung oder Haus, Eigentümer ist kein Privater – und das wird auch so bleiben, sagt Gründer: „Dadurch haben wir besser in der Hand, wer hier einzieht. Denn die Menschen sollen schon Interesse an dem integrativen Gedanken haben.“ Das hatten viele Bochumer sofort, als der Plan der Stiftung publik wurde. Es folgten Informationsveranstaltungen, Diskussionsrunden sowie Kennenlernabende auf Brache und Baustelle. Die Beteiligung aller Interessengruppen, wie Architekten, Stadt und Nachbarschaft, schaffte Öffentlichkeit und ließ anfängliche Parkplatznot-Sorgen schwinden. Und sie siebte sozusagen die passende Mischung von Bewohnern aus, denn einige Interessenten sprangen wieder ab. Sie konnten oder wollten sich die angestrebte Vernetzung, je konkreter sie wurde, dann doch nicht vorstellen. Dagegen wollen die rund 200 Menschen gar nicht mehr weg, die im Dezember vor zwei Jahren in die Claudius-Höfe einzogen. So konnte Gründer die ursprünglich eingerichtete Warteliste für zukünftige Bewohner mittlerweile in den Schredder schieben.