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Ist die Nachkriegsmoderne noch zu retten?

Ist die Nachkriegsmoderne selbst schuld, dass sie so unbeliebt ist? Fehlen ihr Sinnlichkeit und Menschlichkeit oder kann sie Herzen gewinnen? Wir haben die Leserinnen und Leser des DAB nach ihrer Meinung gefragt.

31.10.20256 Min. Kommentar schreiben

Diese Beiträge sind unter dem Titel „Ist die Nachkriegsmoderne noch zu retten – und wollen wir das?“ im Deutschen Architektenblatt 11.2025 erschienen.

AOK-Gebäude in Kassel: Plötzliches Strahlen

Wenn man im späten Herbst, gegen Ende November, an der Südecke des Kasseler Friedrichsplatzes zwischen den Linden spazieren geht, kann man mit Glück etwas Besonderes beobachten. Manchmal, wenn die Sonne am Nachmittag durch die rollenden grauen Wolken bricht, erstrahlt plötzlich die gläserne Ecke von Konrad Prolls AOK-Gebäude. Man blickt in die hellen, hohen Räume und auf diese wunderschöne Treppe mit ihrem filigranen Geländer, die sich flach und ohne Eile nach oben schraubt, bis hinauf zur munteren, sonnengelben Decke.

AOK-Gebäude in Kassel, Konrad Proll, 1957
IMAGO / Panthermedia

Das Gebäude ist ein relativ unaufgeregter Verwaltungsbau. Die Vorstandsetage auf der Parkseite hat ein leicht gewelltes Vordach aus Stützen, der Rest ist ordentlich durchgerastert.  Ein Haus in der Provinz, keine Ikone, aber doch gut proportioniert, sauber detailliert, dabei aber trotzdem leicht und frei.

In Kassel, wie in vielen deutschen Städten, waren erst die Bomben und dann die Nachkriegsmoderne eingeschlagen und hatten gemeinsam die gebaute Umwelt geprägt – im Guten wie auch häufig im Schlechten. Erst mal ist es ja etwas merkwürdig, dass die Moderne nach dem Zweiten Weltkrieg einen so intensiven zweiten Frühling erlebte. Der Kulturkampf gegen sie war hart gewesen, und so richtig geliebt wurde sie außerhalb der Architektenblase vor dem Krieg wohl eher von wenigen. Aber vielleicht war es nach all dem Blut-und-Boden-Kitsch und obszönen Monumental-Klassizismen einfach wieder Zeit, die Fenster aufzureißen, das Licht hineinzulassen und den Muff gründlich auszulüften.

Eberhard-Ludwigs-Gymnasium in Stuttgart: filigrane Gartenschule

Im selben Jahr wie das AOK-Gebäude in Kassel vollendete 1957 Hans Bregler in Stuttgart den Neubau des altehrwürdigen Eberhard-Ludwigs-Gymnasiums, kurz und liebevoll Ebelu genannt. Das alte Schulhaus, ein sehr schöner, sehr repräsentativer historistischer Bau von 1903, war im Krieg zerstört worden.

Der Neubau an anderer Stelle sprach eine andere Sprache. Ein leichtes Vordach auf filigranen Stützen lädt ein in eine lichtdurchflutete Cafeteria mit Milchbar. Auch hier spielt eine Treppe eine wichtige Rolle, wenn auch nicht so prominent ausgestellt wie bei Proll. Vom Eingang aus schwingt sie sich leicht gebogen an einem Ziegelrelief entlang nach oben. Hier kommt ein bisschen mineralische Haptik ins Spiel, die bei Nachkriegsbauten selten prominent zum Tragen kommt.

Eberhard-Ludwigs-Gymnasium in Stuttgart, Hans Bregeler, 1957
Landeshauptstadt Stuttgart Hochbauamt

Das Hauptgebäude folgt dem Hanggrundstück nach oben. Ein langer Aufstieg über gerade Treppenläufe, die sich fast unmerklich immer weiter verjüngen, erschließt das Haus. Aber immer begleitet einen ein sanftes Hellblau an den geschlossenen Wänden oder geben filigrane Fenster den Blick auf Himmel und Wolken frei, sodass sich der lange Weg nicht beschwerlich anfühlt. Das Grundstück, eingefasst von einem schönen Baumbestand, tut sein Übriges. Auch wenn das Gebäude dicht gepackt ist, hat man in den Klassenräumen beim Blick durch die großen Schwingfenster immer das Gefühl, in einer kleinen Gartenschule zu sein.

Das Architekturbüro LRO knüpfte mit einer Erweiterung und Sanierung an die nachkriegsmoderne gestaltung des Ebelu an.
Roland Halbe

Selbstbewusste Solisten der Nachkriegsmoderne

Das Ebelu ist umgeben von Grün, von gutbürgerlichen Häusern und Villen, wohingegen das AOK-Gebäude zwar brav eine Blockecke schließt, aber in seiner Ecklage stark vom Ausblick in die Auenlandschaft der Fulda und in das nordhessische Bergland profitiert. Es greift sogar noch weiter als das Ebelu und nimmt sich, wenig bescheiden, ein komplettes Landschaftspanorama als Kontext heraus und zeigt sich der Stadt gegenüber eher uninteressiert. In einigen dieser Punkte sind die beiden Nicht-Ikonen vielleicht doch sehr emblematisch für die Nachkriegsmoderne.

Beide Häuser sind eher Solisten, die sich in den Chor der Stadt schwer einbringen können. Sie sind sich ihrer selbst sehr bewusst und scheuen nicht vor der Repräsentation zurück. Mit Stadt, Fassade, Tektonik und Haptik taten sich in dieser Zeit viele schwer. Ein großer Teil ­dieser Bauten funktioniert besonders gut, wenn sie keine Nachbarn haben. Aber dennoch wären unsere Städte ohne die Bauten der Nachkriegsmoderne statischer, nüchterner und etwas weniger beschwingt. Hier verdienen besonders jene, die wir nicht aus den einschlägigen Büchern kennen, vielleicht etwas mehr Liebe.

Levin Koch, Architekt, Stuttgart


Gebäude müssen die Menschen wertschätzen, nicht umgekehrt

Ob wir das wollen? Nun, es kommt ganz darauf an, was WIR aus ihr machen. Ein Großteil der allgemeinen Öffentlichkeit hasst sie, lehnt sie ab. Ich meine, vollkommen zu Recht. Die geringe Wertschätzung gegenüber Nachkriegsbauten fußt auf der bestechend einfachen Logik, dass ihre Architektur uns Menschen nicht die Wertschätzung entgegenbringt, die uns zusteht. Ihre mangelnde Akzeptanz beruht schlicht auf Gegenseitigkeit. Anderes zu erwarten, wäre hoffnungslos naiv. Hier hilft kein Werben und noch mehr „Aufklärung“ für ein besseres „Verständnis“ durch die Architektenschaft.

Da hilft nur eines: Rettung in Form von mehr Wertschätzung und liebevoller Zuwendung, nicht durch die Nutzer, sondern durch die Gebäude selbst. Architekten und Bauherren stehen in der Bringschuld. Dies bedeutet eine (Um)Gestaltung zu mehr Menschlichkeit, Lebendigkeit und Schönheit.

Nichts anderes ist Schönheit – die visuelle Form der Wertschätzung. Hierbei muss an ein intuitives, ursprüngliches und klassisches Verständnis von Schönheit angeknüpft werden. Schönheit muss das Herz erreichen, nicht den Kopf. Sie muss empfunden, nicht verstanden werden. So paradox es klingt, die Nachkriegsmoderne lässt sich nur mit den Mitteln heilen, die sie selbst negiert.

Thomas Heiser, Architekt, Hamburg


Nicht alles muss gerettet werden

Die Nachkriegsmoderne ist nicht überragend, aber sie ist nun mal da und man sollte sie dort, wo sie schrecklich deplatziert erscheint und nicht wirklich passend zum Umfeld, renovieren, modifizieren oder auch komplett erneuern. Vielleicht lässt sich ja einiges auch noch zweitnutzen und muss nicht gleich komplett entfernt werden. Wir müssen aber nicht alle Nachkriegsmoderne retten, erhalten oder gar unter Denkmalschutz stellen.

Dr. Klaus Mross, Arzt, Quickborn


Die Nachkriegsmoderne war die Antwort, die mit den damaligen Mitteln gefunden wurde. Was können wir daraus lernen – und welche ­Antwort geben wir heute mit unseren ­aktuellen Möglichkeiten und Erkenntnissen?

Hans Renftle, Architekt, ­Heidelberg

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