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Offenbach Kaleidoskop: Frischer Blick auf eine „Bausünde“

Das Gothaer-Haus in Offenbach ermuntert zu einem facettenreichen Blick auf ein dominantes, eigenwilliges und multifunktionales Gebäude der frühen Siebziger. Ein wertvolles Stück Stadtbaugeschichte „von unten“

 

Von Christoph Gunßer

„Keine Ahnung, wer das gemacht hat oder wie das entstanden ist“ – dieses Zitat eines Passanten stellen die Autoren ihrem Buch „Offenbach Kaleidoskop“ voran. Es erzählt Geschichten eines Hauses“ und macht dabei deutlich, wie sich die Wahrnehmung der jüngeren Baugeschichte, speziell der 1960er- und 1970er-Jahre wandelt.

Neue Wertschätzung für Bausünden

Was bisher eher pauschal als „Bausünde“ abgetan und darum allzu oft zum Abbruch freigegeben wird, nehmen gerade jüngere Architekturinteressierte zum Anlass, unbefangen nach der Geschichte hinter den schroffen Bauten zu fragen – und dabei deren oft erstaunlich gute Aneignung zu bemerken. Das schließt natürlich nicht aus, dass die Auswirkungen auf Stadtraum und Sozialstruktur der so brachial modernisierten Stadtviertel oft fatal waren. Doch vielerorts stellt sich heute die Frage, was mit den Ungetümen geschehen soll, nachdem sie abgeschrieben, sanierungsbedürftig und im heutzutage wieder wichtiger genommenen „Stadtbild“ nicht mehr ansehnlich sind (wenn sie das je waren).

Annäherung an das „Gothaer-Haus“

Das als Gothaer-Haus von der gleichnamigen Versicherung Ende der 1960er/Anfang der 1970er errichtete und nach einigen Verzögerungen (Stichwort Ölkrise) erst 1977 eröffnete Gebäude steht am Rande der Offenbacher Innenstadt und markiert in der Domstraße bis heute einen krassen Maßstabssprung: „Es wirkt wie ein Ufo, das in der Landschaft steht und aus der Umgebung herausragt“, findet ein Anwohner. Es sei ein „Spiegelpalast“, der in ein historisch gewachsenes Viertel gepflanzt wurde. Ein Anderer findet es trotzdem „megawichtig für die Stadt“, auch wenn es „nicht auf den ersten Blick schön“ sei.

Nicht die gewohnte Expertise

Wir merken schon, in diesem Buch steht nicht die gewohnte Expertise im Vordergrund. Die drei Autoren Jan Engelke sowie Lukas und Tobias Fink, alle um 1990 geboren, alle mit absolviertem Architekturstudium und an der TU München und der ETH Zürich forschend und lehrend tätig, wagen hier sozusagen einen Graswurzel-Blick auf eine landläufig eher unbeliebte Epoche.

Die Finks waren bereits 2019 mit ihrem Interview-Band „Berliner Portriats“ zur Berliner Nachkriegsbaugeschichte als originelle und beharrliche Nachforscher aufgefallen. Mittlerweile haben sie sich mit „ANA Architektur Narration Aktion“ weiter diesem fragenden Ansatz verschrieben, der in Text und Bild die breitere Rezeption von Architektur offenlegen will: eben ein „Kaleidoskop“, wie es im Buchtitel auch unter Anspielung auf die alternde Spiegelfassade eines Teils des Gebäudes heißt.

Buchcover Offenbach Kaleidsokop
Das Buchcover vermittelt bereits die collagenhafte und fantasieanregende Architektur des Gothaer-Hauses.

Gründliche Recherche, auskunftsfreudige Partner

Doch hier wird keineswegs planlos jedermann das Mikrofon unter die Nase gehalten. Die Autoren verbrachten einige Zeit vor Ort und machten Bewohner und Ladenmieter der ersten Stunde, kundige Anwohnerinnen, den damals jungen, inzwischen betagten Architekten Peter Opitz sowie den aktuellen Eigentümer ausfindig. Auch die heute für das Quartier zuständigen Planer bei der Stadt äußerten sich zur dortigen Lage.

Eigentümer steht zu seiner Immobilie

Bekanntlich lastet ein erheblicher Aufwertungsdruck auf den städtischen Immobilienmärkten, und gerade das lange verachtete Offenbach erlebt derzeit eine späte Gentrifizierung. Drum wurde immer wieder von einem Abriss des Gothaer-Hauses gemunkelt. Ein gewisser Investitionsstau ist am Gebäude offensichtlich. Läuft hier momentan die „Restnutzung“, wird es „heruntergewohnt“? Der derzeitige Eigentümer – der im benachchbarten Frankfurt in eigener Familientradition ein eher kleines Immobilienunternehmen führt – dementiert das und verteidigt sein Haus. Er findet, dass „alle Neubauten derzeit irgendwie gleich aussehen“.

„Ich hätte das Haus am liebsten sofort wieder abgerissen“

Das bekennt Architekt Peter Opitz im Gespräch freimütig und erzählt, wie improvisiert und eigenmächtig die damalige Planung ablief. Immer wieder gab es Änderungen, und das sieht man dem Gebäude ja auch an.

Als zeittypisch multifunktionales Projekt gab es für die Mieter zahlreiche Extras wie ein – bald aus wirtschaftlichen Gründen stillgelegtes – Schwimmbad. Von den Ausblicken auf die Umgebung schwärmen die Bewohnerinnen und Bewohner auch heute noch, die klobigen, hoch gestapelten Balkone bieten durchaus Wohnkomfort. Dass die Verhältnisse anonymer geworden seien, hörten die Interviewer von mehreren Seiten – sicher auch ein Zeitphänomen.

Immer noch beliebt und günstig

Dennoch lebt und arbeitet die Mehrheit der Befragten weiter gern in dem relativ günstig zu mietenden „Altbau“. Und auch wenn die Substanz des Ortbetonbaus robust ist, wird eine grundlegende Modernisierung wohl bald unumgänglich sein. Ob die ebenso brutale wie skurrile Architektur das übersteht? Wie man hier erfährt, ist nicht nur ihre „graue Energie“ es wert, bewahrt zu werden.

Gerade der Planerzunft vermag diese umfassende Perspektive auf Gebrauch und Wahrnehmung ihrer doch ziemlich ewig wirksamen Werke Anstöße zu geben zu einem reflektierteren Vorgehen.

 

ANA Architektur Narration Aktion
Gestaltung: Marion Kliesch und Sam Tyson
Offenbach Kaleidoskop. Geschichten eines Hauses
Spector Books, 2022
192 Seiten, 28 Euro

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