Text: Roland Burgard
Die Donaumetropole erlebt eine zweite Gründerzeit. Im Jahr 2013 zählte man Eindreiviertelmillionen Einwohner; für 2030 rechnen die Planer mit zwei Millionen. Jedes Jahr müssen 7.000 Wohnungen neu errichtet werden. Doch schon seit der Mitte der 1980er-Jahre steht ein mit Weitsicht geschaffenes Steuerungsorgan zur gezielten Bodenbevorratung und Bodenpreisdämpfung, der „Wiener Bodenbereitstellung- und Stadterneuerungsfonds“, bereit. 1995 wandelte der damalige Wohnbaustadtrat Werner Faymann, heute österreichischer Bundeskanzler, dieses Instrument zum Wohnfonds Wien um. Förderanträge für den Wohnbau werden seither einem Beirat vorgelegt und bei entsprechender Größe dem Bauträgerwettbewerb unterworfen, an dem sich Projektteams aus Bauträgern, Architekten und Sonderfachleuten beteiligen können.
In den letzten 20 Jahren sind so 53 Bauträgerwettbewerbe durchgeführt worden. Seit 2004 hat die Gemeinde Wien keine eigenen Gemeindebauten mehr errichtet, sondern sich auf Bauträgerverfahren mit kommerziellen und gemeinnützigen Bauträgern beschränkt. Zum Standardrepertoire dieser Wettbewerbe gehört das Wohnen in den Baulücken der Innenstadt, in den neuen Stadtteilen und an der Peripherie. Darüber hinaus wird auch nach Antworten auf gesellschaftlichen Veränderungen gesucht. Wichtige Erfahrungen wurden bei der Umwandlung von Brachflächen in große Wohngebiete gewonnen, wie bei der Wienerberg City, Monte Laa oder dem Kabelwerk. Zwei einstmals große Gleisfelder wandeln sich derzeit. Beispiele am Nordbahnhof und Südbahnhof Wiens zeigen Merkmale des aktuellen Wiener Wohnbauwesens auf. In mehreren Etappen entsteht derzeit am ehemaligen Nordbahnhof ein neuer Stadtteil mit 10.000 Wohnungen für 20.000 Einwohner und 10.000 neuen Arbeitsplätzen. Schon vor 1918 war der Bezirk um den Nordbahnhof das Ziel von Zuwanderern aus den Ländern der Donaumonarchie. Sicherlich ein gewichtiges Argument für einen Bauträgerwettbewerb „Interkulturelles Wohnen >com<“ an diesem Ort. Dabei ging es nicht mehr nur um soziale Durchmischung, sondern auf die Schaffung eines Raumangebots, das Begegnungen ermöglicht. Mit diesen Vorgaben fügten die Architekten des Büros Froetscher Lichtenwagner bei ihrem Siegerprojekt „Interkulturelles Wohnen >com<“ zwei Baukörper zu einem nach Süden offenen Block, der 96 Wohnungen aufnimmt. Im kleineren Bauteil mischen sich um das zentrale Treppenhaus elf Ateliers mit überhohen Räumen unter die Geschosswohnungen. Die Anmutung des größeren, L-förmigen Bauteils bestimmt eine längsgerichtete, 400 Quadratmeter große Eingangshalle mit dem Charakter einer Hotellobby. Ihre Decke schmückt in fünf Metern Höhe ein Kunstwerk der Gruppe „okcool“, die den Hauseingang mit den Wohnungstreppen und den Eingängen zu acht Mini-Offices für Start-ups zusammenbindet. Gerade das macht das „Interkulturelle Wohnen“ zu einem echten Haus der Begegnung. Im selben Quartier steht ein „Wohngebirge“, entworfen vom Architektenduo Anna Popelka und Georg Poduschka PPAG. Aus dem städtebaulichen Wettbewerb „Wohnen am Park“ hervorgegangen, beherbergt es auf acht Obergeschossen und zwei Dachgeschossen 272 Wohnungen. Die Front zur Straßenseite ist kubisch gegliedert – nicht regelmäßig, aber sie wirkt auch nicht zufällig. Zum Park hin ist die Ansicht homogener; rubinrote Glasbrüstungen steigern hier die Spannung. Wer das äußere Erscheinungsbild des Baus verstehen will, muss sich mit dessen Innenleben vertraut machen. In ihrem erbitterten Kampf gegen Monotonie und Schematismus der klassischen Wohnmaschine entwickelten die Architekten für diesen Bau ein striktes Regelwerk: Erstens dürfen sich die Flure nicht über die ganze Länge der Wohnanlage erstrecken. Zweitens sollen die Flure unterschiedlich lang sein und in ihrer Breite variieren. Und drittens erhalten übereinander liegende Flure Sichtbeziehungen.
Als Ergebnis finden sich im Innern abwechslungsreiche, den Kontakt unter den Bewohnern fördernde Wohnwege mit einem hohen Wiedererkennungswert. Aus der Überlagerung des variantenreichen Erschließungssystems mit drei Wohnungstypen entsteht dann das bewegte Äußere. Das „Wohnen am Park“ ist ein sehr großes Haus und steckt zugleich voller liebevoller, den Wohnwert fördernder Details. Wer hätte je daran gedacht, dass es in einer „Wohnmaschine“ nette Plauderecken für Bewohner geben würde und man, um die Abstellräume der Wohnungen zu erreichen, nur vor die Wohnungstür gehen muss!
Im benachbarten Bezirk Floridsdorf wurde schon Ende der 1990er-Jahre eine „Autofreie Mustersiedlung“ nach dem Entwurf von Cornelia Schindler und Rudolf Szedenik realisiert. Im Zeichen des Fahrrad-Hypes lag es jetzt auf der Hand, Radfahren einmal nicht nur verkehrspolitisch oder unter physiologischen Aspekten zu betrachten, sondern als Ausdrucksform eines Lebensstils. Unter dem Arbeitstitel „Rad und Wellness“ planten königlarch architekten ihren ursprünglichen Wettbewerbsbeitrag „Wohnen am Park“ um. Herausgekommen ist ein aus „Bike City“ und „time2live“ gebildeter Baukomplex, der direkt neben dem „Wohnen am Park“-Projekt von PPAG gut bestehen kann. Zwei Einschnitte öffnen die Anlage zur Nachbarschaft, sonst konzentriert sie sich auf ihren Innenhof.
Die Funktionsräume der „Bike City“ mit großem Fahrradraum, Reparatur- und Wartungsflächen für die Drahtesel sind im Erdgeschoss platziert. Daneben liegen der Fitnessbereich für die Biker und Räume für die Aktivitäten der Kinder, Teens und Twens. Doch die Hingabe der Radler zum Gefährt endet nicht im Erdgeschoss. Großzügig bemessene Aufzüge ermöglichen die Mitnahme ihrer Räder über üppige Erschließungsflure bis zu den Fahrradabstellplätzen an den Eingängen der nach Süden orientierten 99 Maisonette-Wohnungen.
Darüber hinaus gibt es eine abschließbare Box für besonders wertvolle Exemplare im Keller. Die Bike City ist ein wahres Paradies für Radfahrer, weswegen der Verkehrsclub Österreich sie als „Verkehrssparhaus“ mit dem Mobilitätspreis ausgezeichnet hat. Nicht zwingend erscheint aber, dass es neben den 330 Fahrradstellplätzen auch noch 56 Pkw-Stellplätze gibt.
Die zweite große Konversion eines Bahnareals in ein Wohngebiet befindet sich auf dem Gelände des ehemaligen Südbahnhofs. Um den europäischen Hochgeschwindigkeitszügen einen zeitraubenden Fahrtrichtungswechsel zu ersparen, wurde der neue Hauptbahnhof als Durchgangsstation konzipiert, was auch die Verkehrsbeziehungen zwischen dem X. Gemeindebezirk Favoriten im Süden und dem IV. Bezirk Wieden im Norden erleichtert. Der 2004 beschlossene Masterplan „Bahnhof Wien – Europa Mitte“ weist den beiderseits der neuen Bahntrasse frei gewordenen Gleisfeldern neue Nutzungen zu: Im Norden Büros, doch auf der Südseite entsteht auf 39 Hektar das Sonnwendviertel, das im Endausbau 2019 einmal 13.000 Einwohnern in 5.000 Wohnungen eine Heimat bieten soll. Die sieben Baufelder wurden 2009 im Rahmen eines Bauträgerverfahrens an sechs kommerzielle oder gemeinnützige Bauträger und deren Architekten vergeben. Beim siebten wurden private Baugruppen bedacht. Für das gesamte Gebiet ist ein gemeinsames Freiraumkonzept erarbeitet worden, was bei vielen anderen Bauträgerverfahren versäumt worden war.