Dieser Beitrag ist unter dem Titel „Schutzräume“ im Deutschen Architektenblatt 04.2020 erschienen.
Von Rosa Grewe
In Deutschland gab es 2018 678.000 wohnungslose Menschen. Das sind über eine halbe Million Menschen ohne ein Zuhause, ohne eigene Möbel und mit einem Haushalt, der sich auf etwas Gepäck reduziert. Eine halbe Million Menschen, von denen die meisten unsichtbar bleiben. Denn die Hälfte von ihnen wohnt nach Schätzungen der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe zeitweise bei Bekannten und Verwandten (1). Sie achten darauf, dass ihre Notlage nicht offensichtlich und zum Stigma wird.
Sie sind auch ohne Wohnung noch Teil einer Gesellschaft und haben, was das angeht, noch einmal Glück gehabt. Denn rund ein Fünftel der Wohnungslosen schläft auf Straßen, unter Brücken oder in Hauseingängen, ohne Adresse und Telefon, ohne Privatsphäre. Wer auf dem Treppenabsatz schläft, erfährt kaum mehr Wertschätzung durch andere, wird von Passanten ignoriert und aus der Gesellschaft gedrängt. Die Rückkehrchance in eine Bürgerlichkeit sinkt, ebenso wie die Lebenserwartung. Und jeder Winter wird zum Risiko.
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Notunterkunft für Wohnungslose im Frankfurter Ostpark
Für diese Menschen baute der Frankfurter Verein für soziale Heimstätten eine Notunterkunft im Frankfurter Ostpark. Eigentlich bestand diese schon seit den 1990er-Jahren, erst als Zeltstadt, zuletzt als Containersiedlung. Diese sollte nun einem festen Gebäude weichen, das die Mindeststandards für Wohnen erfüllt und zudem mehr Wertschätzung für die Bewohner und den Ort selbst zeigt.
Für die Architektur kooperierte der Architekt und Professor für künstlerisch-experimentelles Entwerfen Dr. Michel Müller (Studio MC) mit Heiner Blum, Künstler und Professor für experimentelle Raumkonzepte, und dem Künstler Jan Lotter. Vor allem aber involvierte das Team die zukünftigen Bewohner. Die Beteiligten grillten zusammen, lernten sich kennen und erfuhren dabei die Wünsche der Wohnungslosen. Was braucht eine Notunterkunft wirklich aus Sicht der Nutzer? Müller sagt: „Wichtig waren ihnen ihre Privatsphäre und Individualität. Serielle Grundrisse und gerasterte Modulbauweisen wollten wir daher vermeiden.“
Ein Mäander aus Beton
Das Team plante einen Mäander aus Beton, mit asymmetrisch geneigten Dachflächen und geknickten Fassaden. Grüne Innenhöfe bieten unterschiedliche Rückzugsorte und Ausblicke. Zum Park hin zeigt sich die Fassade mit grün-blau eloxierten Edelstahlschindeln und Rankpflanzen – ein grünes Gebäude im Park, ein Kunstwerk für die Augen der Passanten und die Seelen der Bewohner. Für mehr Wohnlichkeit sind die Rückseite des Mäanders und alle nach innen gerichteten Fassadenflächen mit Holzlamellen verkleidet. Laubengänge umschließen die Hofseiten, daran gliedern sich Wohngemeinschaften mit zwei bis drei unterschiedlich großen Zimmern und je einer gemeinsamen Toilette an.
So entstehen individuelle und in der Privatheit abgestufte Innen- und Außenräume. Individuell und privat – so hatten es sich die Gestalter bis in die Ausbaudetails gedacht, mit unterschiedlichen Fensterformaten, unterschiedlich geschnittenen Zimmern, Pflanzenbildern statt Zimmernummern und mit eingebauten Bettalkoven. In den meisten der 100 Zimmer schlafen zwei Menschen auf engstem Raum. Die Bettnischen sind daher als persönlicher Rückzugsbereich besonders wichtig, um die Enge gut zu ertragen. Die allerdings, ebenso wie andere Ideen des Teams, wurden teilweise vereinfacht oder nicht realisiert, um Kosten zu sparen.
Bald sollen die letzten Bauabschnitte stehen, darunter das Café, das die Nachbarschaft und die Bewohner einander näherbringen soll – der vielleicht wichtigste Baustein des Projektes. Denn die Bedenken, Auflagen und Hürden waren bei dem Projekt am Anfang enorm. Dass das Gebäude mit seinem mäandernden Grundriss und seiner schillernden Fassade nun so dasteht, auf diesem geologisch, geografisch und technisch schwierigen Grundstück, mit einer sensiblen, bürgerlichen Nachbarschaft und in relativ prominenter Lage – das ist eine kleine Sensation.
Gründe für Wohnungslosigkeit
Von Wohnungslosigkeit sind zu 73 Prozent Männer betroffen, die meisten von ihnen alleinstehend. Aber es trifft auch Frauen, Paare, Familien und circa 19.000 Kinder. Oft führen persönliche Gründe zum Wohnungsverlust, wie Konflikte in der Familie oder im Wohnumfeld, eine Trennung oder Scheidung, Verschuldung, Jobverlust oder Krankheit oder schlicht die Kündigung der Wohnung durch den Vermieter. Dagegen sind es oft strukturelle Gründe, warum Betroffene keine neue Wohnung mehr finden. Werena Rosenke, Geschäftsführerin der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe, erklärte Ende letzten Jahres in einer Pressemeldung: „Hauptgründe für die steigende Zahl der Wohnungslosen sind das unzureichende Angebot an bezahlbarem Wohnraum, die Schrumpfung des Sozialwohnungsbestandes und die Verfestigung von Armut.“
So haben sich zum Beispiel die Wohnungsmieten in Deutschland von 2000 bis 2018 um bis zu 60 Prozent verteuert, in einzelnen Großstadtvierteln sogar um noch mehr. Gleichzeitig sank der Anteil belegungsgebundener Sozialwohnungen um mehr als die Hälfte von 2,58 Millionen im Jahr 2000 auf geschätzte 1,07 Millionen im Jahr 2020. Außerdem fällt ein Teil der Wohnungslosen durch das soziale Netz, weil entweder Ansprüche sanktioniert oder nicht wahrgenommen wurden oder, wie bei Bedürftigen aus dem EU-Ausland, erst gar nicht bestehen. Es sind also der Bund, die Länder und Kommunen selbst, die Wohnungslosigkeit über Jahre mit schlechter Wohnungsbaupolitik und mit Lücken in den Sozialgesetzen forcierten.
Klare Kante: Die Essener Notunterkunft ersetzt wie ihr Frankfurter Pendant eine Containeranlage, hier jedoch mit eher seriellem Charakter.
Notunterkunft Liebrechtstraße, Essen von RKW Architektur
Die Stadt Essen will dagegenhalten und initiierte für den Neubau einer Wohnungslosenunterkunft nach Abriss der bestehenden Containeranlage ein offenes VOF-Verfahren mit Machbarkeitsstudie und Wettbewerb, den das Büro RKW Architektur+ gewann. Das 2018 fertiggestellte Gebäude unterscheidet sich im architektonischen Konzept trotz ähnlicher Bauaufgabe und ähnlichem Maßstab sehr von dem Frankfurter Projekt. Eine Gemeinsamkeit aber ist die überdachte Laubengangerschließung, die auch hier den Wohnraum ins Freie erweitert. Drei zweigeschossige Riegel reihen sich hintereinander auf einem durchgrünten Grundstück, darin liegen auf jedem Geschoss zwei Reihen mit je zehn Wohnungen, die sich Rücken an Rücken organisieren.
Die Architekten erreichen damit relativ flexibel schaltbare Wohneinheiten und eine kostensparende Flächeneffizienz. Die wiederum ermöglicht im Innern recht große Wohnflächen. Die Struktur ist zudem einfach und günstig erweiterbar, denn die Riegel bestehen aus seriellen Betonfertigteilen mit blau glasiertem Klinker und vorgefertigten Tür-Fenster-Elementen in einem Holzdekor. Die strenge, serielle Ordnung der Grundrisse und die Gradlinigkeit der Architektur sind nicht nur dem Kostendruck geschuldet, sondern zeigen auch eine grundsätzlich andere Haltung: Offenheit und Transparenz statt Rückzug und Individualität. Die daraus entstehende soziale Kontrolle unter den Bewohnern ist gewollt, als Schutz gegen Konflikte und Vereinsamung.
Das Engagement von gaupenraub für Wohnungslose
Weil günstige Wohnungen in Ballungsräumen rar sind, verlängert sich die Aufenthaltszeit in eigentlich temporären Unterkünften. Für die Bewohner bedeutet das eine Etablierung des Lebens auf einem Mindeststandard, der Notfall wird zum Alltag. Für andere Hilfesuchende bedeutet es, dass sie wegen Platzmangels an den Notunterkünften abgewiesen werden. Was also fehlt, sind langfristig angelegte Wohnkonzepte, auch für Menschen aus existenziellen Notlagen. Denn die andauernde Lebensbedrohung durch zum Beispiel Gewalt, Hunger oder Kälte verursacht und fördert häufig psychische Erkrankungen und Suchtverhalten.
Der Wiener Architekt und Professor für soziales Bauen Alexander Hagner befasst sich schon lange mit dem Thema. Er sagt dazu: „Das bestehende Wohnangebot von Notunterkünften oder Sozialwohnungen geht meist an den Bedürfnissen dieser Menschen vorbei.“ Hagner und seine Kollegin, die Architektin Ulrike Schartner, planten mit ihrem Büro gaupenraub +/- schon viele Unterkünfte für Wohnungslose. Er kritisiert zum einen realitätsfremde Wohnheimregeln wie ein absolutes Alkoholverbot in Einrichtungen, denn „die Menschen geben ihre psychischen Probleme ja nicht an der Garderobe ab“. Die Bewältigung der Probleme und Süchte auf der Straße aber ist fast aussichtslos. Auch die Wohnsituation selbst kann ein Problem sein, wie er sagt: „Viele Langzeitwohnungslose können Innenräume, die Einsamkeit oder die Abgeschiedenheit im Privaten gar nicht mehr aushalten. Der Außenraumbezug einer Unterkunft ist deshalb ganz wesentlich.“
Das VinziDorf in Wien: Eine Perspektive für Langzeit-Wohnungslose
Seit Jahren untersucht das Team, wie sich Obdachlose auf der Straße einrichten und welchen Raum und welche Form eines sozialen Miteinanders sie wählen. Diese Erkenntnisse ließen sie in ein 2018 fertiggestelltes Projekt für Langzeitwohnungslose einfließen. Im sogenannten „VinziDorf“ der „Vinzenzgemeinschaft Eggenberg – VinziWerke“ bewohnen 14 wohnungslose Männer einen eigenen, geschützten Rückzugsbereich in kleinen Doppelhäuschen inmitten eines großen Gartens. In einem Altbau entstanden weitere Wohnungen.
Insgesamt 24 Männer dürfen hier selbstbestimmt leben und erhalten auf Wunsch Unterstützung durch Freiwillige und Sozialarbeiter. „Es geht ja für die Bewohner vor allem darum, einen Platz zu finden, wo sie einfach sein dürfen“, sagt Hagner. Die Hütten sind mit unterschiedlichen Eternit-Fassadenplatten verkleidet und jeweils anders ausgerichtet, sodass jeder Bewohner viel Privatsphäre und einen individuellen Außenraumbezug erhält. Zugleich bieten der Garten und ein Gemeinschaftsraum die Möglichkeit, an einem sozialen Leben teilzuhaben.
Spenden von rund einer Million Euro und ein Darlehen von 500.000 Euro flossen in das Projekt. Trotzdem dauerte die Realisierung mehr als 15 Jahre – „nicht, weil Spenden oder Freiwillige fehlten“, betont Hagner, „sondern weil sich die Nachbarschaft gegen das Projekt wehrte. Oft sagen die Leute: ,Ein tolles Projekt, aber nicht hier.‘ “ Hagner erlebte auch bei anderen Vinzi-Bauten für Wohnungslose viel Widerstand, bis hin zu Morddrohungen. Er sagt: „Es ist ein Albtraum. Die Menschen haben irrationale Ängste, die sich in keinem der gebauten Projekte bewahrheitet haben. Erst wenn man die Wohnungslosen aus der Stigmatisierung herausbringt, verschwinden diese Vorurteile.“ Für ihn eine klare Aufgabe an die Architektinnen und Architekten und die gebaute Architektur. Und eine Frage des persönlichen Kontaktes zu den Nachbarn: „Knotenpunkte“, wie er sagt, an denen sich die Bewohner und Nachbarn begegnen. Das kann ein Café sein, wie im Frankfurter Projekt, oder, wie in Wien, die Mithilfe von jungen Freiwilligen beim Bau der Häuser.
Neunerhaus in Wien: Auf dem Weg in die bürgerliche Normalität
Für den Aufbau einer individuellen Lebensperspektive müssen Betroffene aus der gesellschaftlichen Isolation kommen, mitunter in vielen kleinen Zwischenstationen. Eine solche, fast letzte Station auf dem Weg in die bürgerliche Normalität ist das Neunerhaus in Wien, gebaut von pool Architektur und initiiert von WBV-GPA und dem Verein Neunerhaus. Das Neunerhaus bietet 73 kleine, individuell geschnittene Wohnungen mit hochwertiger Ausstattung und eine Arztpraxis, Versammlungsräume, Essensausgabe und Sozialbetreuung im Erdgeschoss. Es entstand ein mehrgeschossiges Boardinghouse für Wohnungslose, mit bürgerlicher Fassade inmitten der Stadt, inmitten der Gesellschaft.
Perspektiven für Wohnungslose schaffen
Bei kaum einer anderen Bauaufgabe klaffen Bedürfnis und gebaute Realität so weit auseinander, kennen Planende die Nutzerinnen und Nutzer so wenig, ist die Zielgruppe selbst so heterogen und erfahren Projekte so viel Widerstand wie beim Bauen für Wohnungslose. Ob ein Wohnungsloser mit einem Dach auch eine Lebensperspektive findet oder nicht, hängt nicht nur von der Quantität, sondern noch viel mehr von der Qualität und Lage der Unterkünfte ab. Ob diese nur ein Dach bieten oder mehr, ist eine Frage, die neue Perspektiven bringt und braucht. Und eine Frage, ob Architektinnen und Architekten, Nachbarn und Kommunen sich darauf einlassen.
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(1) Die hier genannten Zahlen basieren auf Schätzungen der BAG Wohnungslosenhilfe. Die Jahresgesamtzahl berücksichtigt alle Menschen ohne eigene (Miet)Wohnung. Nach Angaben der BAG W steigt die Zahl der Wohnungslosen. Schwankungen in der Statistik ergeben sich durch verschiedene Schätzverfahren. Erst seit September 2019 gibt es einen Bundesgesetzesentwurf zur u.a. Zählung der Wohnunglosen. Gezählt werden sollen die Menschen, die z.B. in Notunterkünften oder Wohnheimen unterkommen. Siehe: Pressemitteilung BAG Wohnungslosenhilfe, 11.11.2019, https://www.bagw.de/de/themen/zahl_der_wohnungslosen/index.html
Statista, Anzahl der Wohnungslosen: https://de.statista.com/statistik/daten/studie/36350/umfrage/anzahl-der-wohnungslosen-in-deutschland-seit-1995/
(2) Mietpreisentwicklung: https://www.deutschlandinzahlen.de/tab/deutschland/finanzen/preise/immobilienpreisindex
(3) Bestand Sozialwohnungbau: https://de.statista.com/infografik/12473/immer-weniger-sozialwohnungen-in-deutschland/
(4) https://taz.de/Psychisch-krank-und-obdachlos/!5651808/
(5) BAG W-Position: Tiny Homes als Substandard-Lösung für Wohnungsnot und Wohnungslosigkeit, Sept 2019, https://www.bagw.de/de/themen/wohnen/position_wohnen.html
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