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[ Wohnungsumbau ]

Alltagsarchäologie

Jenseits des Denkmalschutzes wird alltägliche Architektur oft totsaniert. Ein Stuttgarter Architekturbüro beschritt den gegenteiligen Weg und verwandelte eine ganz normale Wohnung mit archäologischem Geschick und Liebe zum Detail in eine faszinierende Zeitkapsel.

Putzklumpen, Dübel, Lichtschalter, brüchige Holzleisten, Kabelstücke, Zeitungspapier von 1923 – nichts war zu alt, zu kaputt, zu banal für Oliver und Dianne Sorg. Das Konzept ihres experimentellen Umbaus: Alles sollte in irgendeiner Form wieder Verwendung finden.

Von Amber Sayah

Time capsules“ nannte Andy Warhol seine Pappschachteln, in die er alle möglichen Dinge für die Nachwelt packte: Christbaumschmuck, Fotos, kunsthandwerklichen Krimskrams, tote Ameisen, Zeitungsausschnitte, Postkarten … An den Inhalt dieser Wunderboxen erinnert die Materialsammlung, die Oliver Sorg auf einem Brett wie auf einem übergroßen Objektträger ausgebreitet hat: Putzklümpchen, Lichtschalter, Dübel, brüchige Holzleisten, Kabelstücke, zerknülltes Zeitungspapier aus dem Inflationsjahr 1923 – nichts war zu alt, kaputt oder banal. Aber der Architekt blieb bei diesem Sammelsurium nicht stehen. Aus der Wohnung im Hochparterre eines Hauses im Stuttgarter Stadtteil Heslach (zu sprechen mit langem e und scharfem s), aus der diese Gegenstände allesamt stammen, hat er eine begehbare „Zeitkapsel“ gemacht.

So betitelt Oliver Sorg ein Transformationsexperiment, bei dem die mehr als hundertjährige Geschichte des gründerzeitlichen Hauses mit geradezu archäologischen Mitteln herauspräpariert wurde. Zur Straße hin verrät das Gebäude wenig von seiner Vergangenheit: ein unscheinbarer Bau schwer definierbaren Alters in einem noch merklich von der Kleinteiligkeit dörflicher Strukturen geprägten Quartier. Die Zeiterzählung beginnt auf der Hofseite, wo früher, wie im ganzen Stadtteil üblich, ein Handwerksbetrieb angesiedelt war und heute SFP Architekten mit Sorg als Partner ihren Sitz haben. Zu diesem Rückgebäude und dem begrünten Innenhof hin öffnet sich das Wohnhaus mit einem breiten, raumhohen Fenster – als nachträglicher Eingriff erkennbar an den ausgefransten Backsteinrändern des Fassadendurchbruchs.

Ein Wanddurchbruch konnte nicht mit Bauteilen aus dem Bestand abgefangen werden. Dies übernehmen nun 300 Jahre alte Balken von einer Bauteilbörse.

Zeitschichten

Auf den Lifestyle-Zug der Shabby-Ästhetik wollte der Architekt damit jedoch keineswegs aufspringen. Sein Konzept war überhaupt kein vordergründig ästhetisches, sondern vielmehr ein historisches, das die Zeitschichten und Gebrauchsspuren offenlegt, das Material, das Handwerkliche zu Ehren kommen lässt. Bei jedem noch so scheinbar unbedeutenden Stück hat Sorg überlegt, was sich damit noch anfangen ließ. Und so wurden die Fassadenziegel für das große Fenster sorgfältig aus dem Backsteinverband herausgelöst und zu einem neuen Ofen vermauert, der herausgebrochene Fenstersturz zu einer Sitzbank im Hof umfunktioniert. Denn darum ging es bei diesem Experiment auch: alles Vorgefundene zu belassen oder wiederzuverwenden, nichts wegzuwerfen, nicht zwischen wertvoll und wertlos zu unterscheiden.

Die leicht vergilbte Fototapete mit New-York-Motiv, die ein Vormieter zurückgelassen hat, durfte ebenso bleiben wie die Rasterleuchten an der Decke und der ausgediente Kachelofen aus den Fünfzigerjahren, die Spur einer verschwundenen Kabeltrasse ebenso wie der verfärbte Epoxidharzboden. Teile alter Heizleitungen haben einen neuen Daseinszweck als Lichtobjekt gefunden, Planrollen aus Sorgs Architekturbüro und dem seines Vaters stapeln sich im Flur zu einem Raumteiler, und die von einem Wanddurchbruch im Inneren – dem zweiten großen Eingriff in die Substanz – übrig gebliebenen Fachwerkbalken haben sich in einen rustikalen Küchentisch verwandelt.

Planrollen aus zwei Architektengenerationen werden zum Raumteiler

Weichen musste die Wand, weil die Sorgs Platz für Veranstaltungen schaffen wollten, die in den multifunktional als Büro, Gästewohnung und Galerie genutzten Räumen dann und wann stattfinden. Ersetzt wird sie durch einen Träger aus dreihundert Jahre alten Eichenbalken, der nun die Last der drei oberen Geschosse abfängt. Und an dieser Stelle kommt dann doch Design in die Zeitkapsel, denn die Konstruktion gehörte nicht zum Bestand, sondern stammt aus dem Bauteilhandel. Man kann das als konzeptuellen Webfehler betrachten, gestalterisch ist der wuchtige Holzbock jedoch zweifellos ein Gewinn, da er dem sonst allzu Verschossen-Blassgelben und -Blassgrünen der Räume Kraft gibt. (Für die Zimmerleute waren die Balken aus dem 17. Jahrhundert eine eigene Zeitkapsel, weil sie extra für das steinharte Holz ihre alten Maschinen hervorholen mussten.)

Auch die alte Fototapete eines Vormieters durfte bleiben.

Bei geöffneten Fenstertüren dehnt sich der Allzweckraum ins Freie unter die Glyzinienranken aus. Man kann dann auf den Stufen aus Holzplanken vorm Haus sitzen, die auf ausklappbaren Stahlwangen aufliegen und bei Bedarf weggeräumt werden können. Das hat baurechtliche Gründe, weil an dieser Stelle keine solide Treppe erlaubt ist. Doch auch diese einfache Konstruktion zeugt vom tüftlerischen Erfindergeist der Architekten und von der Liebe zur Improvisation, zum unperfekten, abgenutzten Detail, die hier das große Ganze bestimmt hat. Die „Zeitkapsel“ ist daher auch ein Kontrastprogramm zur Arbeitsbiografie von Oliver und Dianne Sorg, die beide Erfahrungen aus dem Büro von Zaha Hadid mitbringen, er auch als Architekt bei Norman Foster. Ein Versuch, das Gedächtnis der Architektur zu schärfen, gegen die großen „zeitlosen“ Projekte (wie Krankenhäuser, Verwaltungs- und Behördenbauten), um die es im planerischen Alltag von SFP Architekten meistens geht, ist sie sowieso.

Zeitungsschnipsel erzählen von der Inflation der 20er.

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