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[ Chemnitz ]

Masse und Klasse

Eine Route durch Chemnitz mit Überdimensionen, versteinerten Bäumen und einem Entwurf fürs Leben.

Wald im Tietz: Aus dem ehemaligen vornehmsten Geschäftshaus entstand ein Kulturtreffpunkt mit rätselhaften versteinerten Bäumen und Schriftinstallation von Bernhard Garbert im Innenhof.

Nils Hille
Es scheint, als warte diese Stadt auf einen Ansturm. Der Bahnhof hat 15 Gleise, die Hauptstraßen in der Innenstadt sind drei- oder gar vierspurig und auch die neueren Gebäude haben sich in ihren Maßen an den mächtigen Plattenbauten aus DDR-Zeiten orientiert. Wer daran entlanggeht, könnte leicht auf die Idee kommen, gerade durch eine internationale Metropole zu spazieren. Doch dafür fehlen die Menschen auf den Straßen. Auf dem Weg vom Hauptbahnhof zur Innenstadt wirken die „Boulevards“ wie ausgestorben.

Dieser Ort ist weit entfernt von einer Millionenstadt, gerade mal 245 000 Einwohner leben hier in Chemnitz.Die drittgrößte Stadt in Sachsen ist aber kontrastreicher, als die Dimensionen im Zentrum vermuten lassen. „Erst auf den zweiten Blick zeigt Chemnitz das, was ich mag. Wer ohne Vorbereitung hierhin fährt, der wird enttäuscht werden“, sagt Liane Remmler, Organisatorin des ersten Architektursommers Sachsen (siehe „Erlebenswert“). Die in den letzten Kriegstagen stark zerstörte Innenstadt lag bis Ende der 90er-Jahre weitgehend brach und wurde erst in jüngster Zeit neu belebt.

Zudem hat Chemnitz eine große Vorkriegstradition als „Stadt der Moderne“ – Grund genug für die sächsische Architektenkammer, den ersten Architektursommer hier zu veranstalten.

Auch am Fluss Chemnitz gibt es Kunst, hier von Georg Dick und Peter Kallfels.

Remmler, die Architektin mit „Ein-Frau-Büro“, führt durch die Stadt. Und sie beginnt gezielt in der mächtig wirkenden Mitte, wo zum Beispiel der Kaufhof mit einer enormen Glasfassade die Kunden anlocken will. „Ich hatte mich damals auf Helmut Jahn gefreut, doch es ist einfach viel zu gigantisch geworden“, sagt Remmler und zeigt auf das unübersehbare Dach, das weit über dem Bau hängt.

Die daran befestigte Werbung ist nur aus Richtung der Straße der Nationen zu sehen. „Das macht aber keinen Sinn, denn von dort kommt fast niemand“, wundert sich Remmler. Nur Straßenbahnen und Busse steuern von dort einen ebenfalls überdimensionierten Straßenbahn- und Buskontenpunkt an, an dem nur die Hälfte der Haltestellen angefahren wird. 1990 war die Verkehrsfläche sogar noch doppelt so groß. „Und das ist ja noch nicht alles! Wir haben auch noch einen großen Omnibusbahnhof“, stöhnt Remmler.

Neu gebaut: das Kaufhof-Warenhaus mit hervorkragendem Dach

Gegenüber dem Kaufhaus liegt die Galerie Roter Turm, eine von mehreren Einkaufszentren der Stadt. Erst bauten hier die Düsseldorfer Centerspezialisten Chapman Taylor Brune. Kurz vor der Fertigstellung im Jahr 2001 erschraken Bürger und Betreiber vor der nüchternen Gestaltung. Rasch musste noch eine Terrakottafassade von Hans Kollhoff und Helga Timmermann davor. Der Bau nimmt die Dimensionen des gegenüberliegenden Neuen Rathauses auf. „In dem Center funktioniert das Innere, aber das Äußere nicht.

Wie bei vielen Geschäften der Stadt kann man ringsherum gehen, aber es gibt einfach zu wenig Zugänge“, so die Architektin. Mit Kollhoff/Timmermann und Helmut Jahn (Kaufhof) begegnen sich hier nun dieselben Architekten wie an Berlins Potsdamer Platz. Und die beiden Center schafften den Start zur Wiederbelebung des in den 1990er-Jahren verödeten, über weite Strecken buchstäblich brachliegenden Stadtzentrums. Mit dem Peek & Cloppenburg-Haus von Christoph Ingenhoven kam ein weiterer Stararchitektenbau hinzu.

Lichtblicke

Eine besonders gelungene Entwicklung mit „Innenstadtflair“ sieht Remmler dagegen in der Inneren Klosterstraße. Hier sitzen die Chemnitzer mittags wie abends in den Restaurants (siehe „Kulinarisch“). Auf der einen Seite ist ein elfgeschossiger Wohnriegel abgerissen worden. Eine Arbeitsgemeinschaft aus den Büros C&E, Elling und Fischer und dem Architekturbüro Remmler plante gemeinsam das Wohn- und Geschäftshaus Rathaus-Passage. Nur die strengen Vor­gaben der städtischen Wohnungsgesellschaft GGG schränkten die Architekten in ihren Vorstellungen sehr ein.

Jetzt haben alle den gleich großen Balkon an der identischen Stelle der Wohnung, weder Maisonette noch offene Küchen durften realisiert werden. „Dadurch sind kaum junge Leute eingezogen, sondern vor allem ältere Menschen. Und gibt es eine Veranstaltung in der Innenstadt, beschweren die sich jedes Mal über den Lärm“, sagt Remmler. Erfreulicheres gibt es am Ende der Straße zu sehen. Ein Gebäude von Merheim und Richter mit ovaler Alu-Glas-Fassade bildet einen „wunderschönen versöhnlichen Abschluss“, so Remmler.

Umgenutzt: die in Wohn- und Gastronomieräume verwandelte Strumpffabrik Janssen

Unser Weg führt noch einmal quer durch die Fußgängerzone und über eine der großen Straßen hinweg zum ehemaligen Kaufhaus Tietz, das seit Ende 2004 nun „Das Tietz“ genannt wird (C&E Consulting und Engineering GmbH mit Büro Arnold + Dr. Barth). Für die Architektin ist es ein gelungenes Beispiel für Bauen im Bestand. Das im Jahr 1913 eröffnete, größte und vornehmste Geschäftshaus Sachsens beherbergt heute die Stadtbibliothek, das Museum für Naturkunde, die Neue Sächsische Galerie und die Volkshochschule.

Ein Kulturtreffpunkt, der durch die offene Gestaltung aller Einrichtungen zum überdachten Innenhof hin seinen besonderen Charme hat. Im Innenhof steht der 290 Millionen Jahre alte versteinerte Wald, der vor 300 Jahren entdeckt wurde und bis heute Rätsel über seine Entstehung aufgibt. „Hier neben den Kieselhölzern finden immer wieder Veranstaltungen statt. Als Manfred Krug aus einem seiner Bücher gelesen hat, standen die Menschen an den Galerien auf allen Etagen. Ein tolles Bild“, schwärmt Remmler. In der Nähe erfährt das ehemalige Kaufhaus Schocken momentan auch eine Umnutzung.

Das von Erich Mendelsohn geplante und bis 1930 realisierte halbrunde Gebäude gehört zu den bedeutendsten Bauhauszeugnissen. Bis vor wenigen Jahren wurde es noch als Warenhaus genutzt und soll jetzt zum Haus für Archäologie inklusive Restaurants, Cafés und Ladengeschäften werden. Für nächstes Jahr ist die Fertigstellung geplant.Begeistert ist die Planerin auch von der nächsten Station, an der sie nur kurz Halt macht, da das Gebäude ausschließlich für Mitarbeiter zu betreten ist. Die deutsche Bundesbank hat sich vom spanischen Architekten Josep Lluís Mateo ein Gebäude bauen lassen. „Die klare Sprache mit den durchscheinenden Alabastersteinen und den verrosteten Metallteilen gefällt mir richtig gut“, so Remmler. Auch ein älteres Gebäude, das sie als Nächstes ansteuert, hat für die Architektin seinen Reiz.

Das Stadtbad in Bauhausarchitektur präsentiert sich in gigantischen Ausmaßen. Das einst größte Hallenbad Europas bietet mehrere Schwimmbecken. Eines lässt sich auch von „Nichtschwimmern“ durch Glastüren im Foyer bestaunen. Es ist von einem Glasoberlicht und Rängen umgeben und bietet so eine sehr ansprechende Szenerie.

Ostalgie oder Gleichgültigkeit?

Wieder draußen, fällt der Blick auf Plattenbauten – innenstadtnahe wurden oft modernisiert, in Randgebieten wie der Fritz-Heckert-Siedlung aber auch viele abgerissen.  Liane Remmler grübelt über die Motive von Bewohnern, die trotz eines überbordenden Wohnungsangebots hier bleiben: „Ist es Tradition, Protest oder eine Gleichgültigkeit gegenüber individuelleren Wohnmöglichkeiten?“ Sie selbst wohnt nach mehrmaligem Umziehen nun in Kaßberg. Der westlich vom Zentrum gelegene Stadtteil ist der große Gegensatz zum Plattenbau. Der bevölkerungsreichste Teil von Chemnitz zählt zu den größten Gründerzeit- und Jugendstilvierteln Deutschlands. „Die Gebäude mit ihren alten schönen Holztüren und -treppenhäusern stehen für mich für eine hohe Lebensqualität. Eine echte Alternative zum Eigenheim im Grünen, da sich das Gebiet wunderbar entwickelt hat.“

Ein besonderes Einzelgebäude aus Jugendstilzeiten ist die Villa Esche im Stadtteil Alt-Chemnitz. Henry van de Velde, ein Mitbegründer der klassischen Moderne, entwarf nicht nur das Gebäude, sondern auch alle anderen Bereiche des Wohnumfelds für den Textilfabrikanten Hubert Eugen Esche.

Ob Lampen und Teppiche oder Porzellan und Silber – alles war Teil seines „Entwurfs fürs Leben“. Auch den großzügigen Garten ließ er funktionell wie gestalterisch nach seinen Vorstellungen bauen. Bis 2001 wurden all diese Bereiche unter Leitung von Werner Wendisch und Kerstin Bochmann umfassend restauriert. Mit viel Liebe zum Detail haben sie dabei versucht, den damaligen Zustand anhand von Bildern und Skizzen zu rekonstruieren. Weitgehend original möblierte Räume im Erdgeschoss vermitteln einen guten Eindruck davon.

Im ehemaligen Schlaf-, Kinder- und Badezimmer im Obergeschoss zeigt eine Dauerausstellung die verschiedensten Werke van de Veldes. „Die Villa Esche ist Denkmalpflege pur. Die 100 Jahre alten Fenster zum Hochschieben funktionieren heute noch perfekt“, so Remmler.

Zurück in der Innenstadt endet die Tour an einem ebenfalls „perfekten“ Platz für die Architekten, dem Restaurant Janssen in der Schlossstraße. Es ist Teil eines Beispiels gelungener umgenutzter Industriearchitektur. In den Etagen darüber sind moderne, individuelle Wohnungen entstanden,  nur durch die Bäume kann man die großen Wohnbauten nebenan erkennen – ein Ort in richtigen Dimensionen ohne Stillstand bis zum Ansturm.

Kulinarisch

Restaurant Janssen Mitten in der Stadt, aber idyllisch gelegen, mit Terrasse direkt am Fluss.

La bouchèe Französisches Restaurant auf der Inneren Klosterstraße, mitten in der Innenstadt.

Panoramarestaurant Mercure In der 27. Etage des Mercure Ho­tels mit Blick über die Dächer von Chemnitz.

Kulturell

Museum Gunzenhauser Neue, hochkarätige Sammlung mit Werken der klassischen Moderne und Kunst aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Ehemaliges Sparkassengebäude, das nach Plänen von Volker Staab zum Museum umgebaut wurde. Er ließ es bis auf die tragenden Teile entleeren, um dann mit einfachen Eingriffen die Qualitäten des denkmalgeschützten Altbaus herauszuarbeiten.

Kulturhaus „Das Tietz“ Kaufhaus, das zum Kulturhaus um­funktioniert wurde. Sächsische Kunst, Urgeschichte und Läden unter einem Dach mitten in der Innenstadt.

Deutsches Spielemuseum Schau der Chemnitzer Tradition in der Spielzeugherstellung. 30 000 Exponate der letzten acht Jahrhunderte aus aller Welt – und teilweise zum Selbst-ausprobieren.

Entspannend

Schlosshotel Klaffenbach Viersternehotel, im Wasserschloss­areal gelegen. Gewölberestaurant mit Vinothek.

Hotel an der Oper Das frisch renovierte Haus bietet moderne Gästezimmer mit direktem Opernblick.

Günnewig Hotel Chemnitzer Hof Direkt neben Opernhaus, Kunstsammlungen und Petrikirche. Viersternehaus im Bauhaus-Stil mit Marmor, Sandstein, Holz und Messing.

Erlebenswert

Architektursommer Sachsen Vielfältige Veranstaltungen und Aktionen sollen das öffentliche Bewusstsein für Baukultur und die Diskussion um Architekturqualität fördern. Bis 28.9.

Kulturfestival Begegnungen Veranstaltungen unter dem Thema „Nahe Ferne – ferne Nähe“. Kunst, Kultur, Wirtschaft und Wissenschaft im Spannungsfeld. 3. bis 19.10.

Chemnitzer Jazzfest Die Stadt swingt in der 16. Auflage an unterschiedlichsten Orten. 13.9. bis 17.10.

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