Interview: Marion Goldmann
Wenn es auf dem Bau ein Problem gibt, ganz gleich, welcher Art – immer klingelt das Telefon des Architekten zuerst.
Das ist seine Aufgabe. Er muss Dinge koordinieren, die andere von Berufs wegen besser wissen. Kein Architekt plant eine Heizungsanlage selbst; trotzdem muss er in der Gesamtverantwortung Systementscheidungen treffen und diese in das Gebäude integrieren. Die Aufgabe des Architekten besteht darin, mit Spezialwissen zu operieren, das eigentlich andere Experten haben. Davon muss er so viel verstehen, dass er die Nahtstellen erkennen und definieren kann.
Haben Sie in Ihrer Tätigkeit als Schadensgutachter und Sachverständiger viel mit Architekten zu tun?
Ich habe in meiner langjährigen Berufspraxis nur selten mit Architekten zu tun – das ist eine sehr erfreuliche Beobachtung.
Woran liegt das?
Ich glaube nicht, dass Architekten generell mängelfrei bauen; das wäre zu schön, um wahr zu sein. Doch in Rechtsstreitigkeiten sind sie relativ selten verwickelt, was meiner Meinung nach mit ihrer Fähigkeit zu tun hat, die Abwicklung von Mängeln zu managen. Ich möchte die Kollegen an dieser Stelle ausdrücklich ermuntern, ihre Selbstregulierungsfähigkeit Bauherren gegenüber weiter auszubauen. Was ja die Architektenkammern ohnehin propagieren.
Sollten Bauherren anders vorgehen?
Sie sollten den Architekten beauftragen, das Bauvorhaben komplett zu betreuen. In den von mir behandelten Schadensfällen waren Architekten oft nur bis zur Baugenehmigung tätig. Weitergebaut wird dann ohne Architekt und häufig mit einer Planung der ausführenden Firmen. Kommt es in diesem Fall zu Baumängeln, gibt es keinen unabhängigen Sachwalter des Bauherrn. Die Kontrahenten finden keine Lösung und die Sache wird vor Gericht ausgetragen.
Nehmen Ihrer Erfahrung nach die Schäden zu, haben sich Schwerpunkte verändert?
Sicher gibt es heute Schäden, die es früher nicht gegeben hat. Nehmen Sie das Beispiel energieeffizientes Bauen. Schon der Energieausweis birgt Konfliktpotenzial, wenn das Haus mehr verbraucht, als vorher errechnet wurde. Mit den neuen Techniken kommen eben auch neue Schadensbilder. Mittlerweile gehören Gutachten über Schimmelpilzbildung zum Standardprogramm eines jeden Bausachverständigen. Eine prinzipielle Verschiebung der Schadensschwerpunkte lässt sich allerdings nicht feststellen.
Gibt es insgesamt mehr Schäden als früher?
Die Zahl der Schadensfälle am Bau hat sich nicht erhöht, aber die Streitkultur hat sich massiv verschlechtert. Inzwischen lässt sich eine unglaubliche Verbissenheit feststellen, wenn es um die Regulierung eines Schadens geht. Da gibt es keine Kompromissbereitschaft, und selbst auf verlorenem Posten werden erbitterte Kämpfe ausgefochten.
In welcher Position befinden Sie sich in so einem Konflikt?
Das hängt von der jeweiligen Ausgangssituation ab. Als Gerichtsgutachter muss ich die Fragen beantworten, die mir dort gestellt werden, während ich bei privat beauftragten Gutachten dem Auftraggeber sagen darf, welche der von ihm beanstandeten Mängel auch tatsächlich Mängel im Sinne eines Planungs- oder Baufehlers sind und gegenüber den Beteiligten durchzusetzen sind.
Sind Sie überwiegend im Auftrag privater Hausbauer tätig oder eher im Objektbereich?
Sowohl als auch. Ich habe mit vielen Fällen institutioneller Auftraggeber wie Bauträgern, Körperschaften oder auch Bauunternehmen zu tun. Und gerade bei großen Bauunternehmen — sowohl auf Auftraggeberseite als auch auf Auftragnehmerseite — stehen sich häufig Vertreter des mittleren Managements gegenüber, die keine Entscheidungskompetenz besitzen, sondern nur die Anweisung haben, auf keinen Fall einzulenken. Weil sie gegenüber ihren Chefs unter Erfolgsdruck stehen, sind sie nicht kompromissfähig.
Gibt es klassische Mängelszenarien, mit denen Sie besonders häufig zu tun haben?
Mängel treten typischerweise immer dort auf, wo auch Wasser ist. Die Schäden, die aufgrund von Bodenfeuchte, Wasserdampf, eintretendem Regenwasser oder Leitungsleckagen entstehen, bilden einen Schwerpunkt, weil sie teure Reparaturen nach sich ziehen. Es muss aber nicht immer Schimmel auf Raufaser sein. Die Highlights eines Sachverständigen sind andere Fälle.
Was sind das für Fälle?
Das Versagen spektakulärer Konstruktionen ist sicher etwas Besonderes, zum Beispiel ganze Glasfassaden. Hier muss sich der Sachverständige in den Gesamtzusammenhang einarbeiten. Bei solchen Schäden gilt es, etwas zu erforschen. Man muss komplizierte Zusammenhänge aufklären, um der Ursache auf den Grund zu gehen. Ja, das sind zweifellos die Höhepunkte in unserem Berufsleben. In gewisser Weise ist es genauso wie im Architektenalltag: Da gibt es die normalen Bauvorhaben mit Wiederholungscharakter, aber den Spaß am Beruf bringen die nicht alltäglichen, spektakulären Projekte. Wie bei der Planung muss der Sachverständige dann die Beiträge hoch spezialisierter Fachleute in sein Gutachten integrieren und die Gesamtverantwortung für sein Gutachten tragen.
Bleiben wir bei den Glasfassaden. Was sind hier typische Schäden?
Es beginnt mit so banalen Dingen wie gerissenen Scheiben. Und zwar nicht nur einer, sondern gleich mehreren. Scheiben können auch eintrüben. In der Untersuchung fahndet man nach der Ursache für diese Defekte. Denn das ist ja das Spannende: Eine einzelne Scheibe kann immer mal kaputtgehen; hinter mehreren defekten Scheiben verbirgt sich aber ein systematischer Fehler. Und gerade bei Glas gibt es ganz charakteristische Mängel. So ist der Randverbund der Isolierglasscheiben außerordentlich empfindlich, wenn es um mechanische Einwirkungen während der Montage geht. Werden hier die Lagerklötze nicht richtig positioniert, entstehen Spannungen. Auch muss der Glasfalz richtig entlüftet und entwässert werden.
Was kann man da falsch machen?
Die Unterlagen der Fassadenhersteller enthalten für den Regelschnitt auf der Etage zahllose Detailvorschläge, ebenso für den vertikalen Regelstoß, für den oberen Abschluss der Fassade und für den seitlichen Anschluss. Doch für den unteren Abschluss der Fassade — also dort, wo es schwierig wird — wird oft keine Lösung angeboten. Dort muss der Falz so entwässert werden, dass er nicht einfriert, nicht verstopft und zum Beispiel nicht auf das Parkett tropft. Da ist der Architekt auf sich allein gestellt. Und in diesem Moment ist seine Entwurfsleistung gefordert. Dann reicht es nicht, das Problem durch bloßes Übernehmen von Hersteller-Angaben zu lösen. Das gilt natürlich auch für andere Baustoffsysteme. Dem Architekten muss man es am wenigsten sagen: erst planen, dann bauen.