Nils Hille
„Wir sind keine Rekonstruktionsfreaks, die jedes alte Haus wiederhaben wollen“, sagt Dagmar Ewert-Kruse. Als Vorstandsmitglied der Bürgerinitiative Historisches Rathaus Wesel ist es ihr sehr wichtig, dies zu betonen. Denn von außen kann der Eindruck leicht entstehen: Durch das Engagement von ihr und ihren Mitstreitern ist das Bild der historischen Rathausfassade aus dem Jahre 1455 sehr präsent – nicht nur bei den Einwohnern der Stadt am Niederrhein.
Seit sechs Jahren wirbt die Bürgerinitiative damit für Spenden, um dieses Bild auch wieder in die Realität umzusetzen. Von der spätgotisch-flämischen Architektur am Großen Markt sind seit dem Bombenangriff vom 19. Februar 1945 allerdings nur wenige Fundamentreste übrig. Heute steht an dieser Stelle des Rathauses eins von fünf schlichten Geschäftshäusern der Nachkriegszeit. Älter wirkt an diesem Platz nur der ursprünglich spätgotische Willibrordi-Dom – auch er allerdings im Krieg schwer beschädigt und 1948 bis 1994 wiederaufgebaut.
Nun soll also das zweite Gebäude links des Kirchenbaus wieder so aussehen wie früher – zumindest äußerlich. Eine rekonstruierte Fassade wird dort vor einen Teil des Nachkriegsensembles gesetzt, wo früher das Rathaus stand. „Das ist das einzige Gebäude, das dann die Hansezeit symbolisieren kann. An diesem Ort standen immerhin Kaiser und Könige“, erklärt Ewert-Kruse. Das Gebäude selbst können und wollen sie nicht mehr errichten, möchten aber durch eine Umgestaltung der heutigen Büroräume an den alten Keller und Saal erinnern. Neben dem Fassadenbau mit Turm und Treppe ist daher das zweite sogenannte „Nahziel“ der Initiative, den ersten Stock als „repräsentativen Multifunktionssaal“ nutzen zu können.
„Wir erleben ein positives bürgerschaftliches Interesse an unseren Vorschlägen“, sagt Ewert-Kruse. Die Zahlen bestätigen sie darin: Rund 1,1 Millionen Euro konnten die Ehrenamtlichen der Bürgerinitiative sammeln. Gemeinsam mit Zuschüssen von Bund und Land steht die Finanzierung der Fassade. Nun sind die Beteiligten sicher, auch ein „Fernziel“ durch weitere Spenden zu erreichen: Sie wollen das Haus kaufen und komplett für öffentliche Veranstaltungen umgestalten.
Reanimation statt Rekonstruktion
Ihr zweites Fernziel: Gemeinsam mit der Interessengemeinschaft Domviertel wollen sie in vielen weiteren Schritten den Großen Markt optisch verändern und damit nach und nach beleben. Dazu sollen aber nicht die anderen Häuser am Platz ebenfalls in Vorkriegsgestalt erscheinen, sondern durch eine Gestaltungssatzung einen „Rahmen für die Weiterentwicklung vorgeschrieben bekommen“ – so erklärt es der in der Initiative engagierte Weseler Architekt Otfried Jaeger.
Er hat extra eine DVD unter dem Titel „Eine Stadt entdeckt ihre Mitte“ produzieren lassen. In einem elfminütigen Animationsfilm bekommt der heutige Große Markt eine historisch anmutende Bebauung – mit alt wirkenden Fassaden, die wie überdimensionale Rollläden vor neue rollen, unterlegt mit theatralischer Musik. „Dies dient aber nur als Vision“, betont Jaeger immer wieder.
Präsentationen vor Hunderten interessierten Weselern hätten zwar spontanen Applaus gebracht. Trotzdem gehe es nicht darum, die Visualisierung genauso umzusetzen. „Mit einer einfachen Zeichnung wären wir aus der Öffentlichkeit schnell wieder verschwunden. Die bewegten Bilder haben sich in die Köpfe gesetzt. Jetzt geht es darum, sich von dem Film wieder zu lösen und die Ideen dahinter weiterzuentwickeln“, erklärt Jaeger die Strategie.
In ihrem Vorschlag zur Gestaltungssatzung, der jetzt den städtischen Gremien vorliegt, sind daher auch nur Kernpunkte formuliert. Die Fensterachsen der Platzfassaden sollen einem bestimmten Rhythmus folgen, senkrechte Traufen und Arkaden entstehen. Jedes Haus soll einzeln erkennbar sein, wobei aus einem Gebäude optisch zwei gemacht würden. „In der Fassade würde ein Auf und Ab entstehen, damit der Blick wieder daran hängen bleibt. Wir schreiben kein Bild vor und wir reden hier gar nicht von der großen Architektur. Unsereins kann sich auch einmal zurücknehmen“, sagt Jaeger.
Zum Tragen käme die Satzung auch erst, wenn die jeweiligen Eigentümer umbauen, sanieren oder wenn sie verkaufen. Bei letzter Option stehen, so Ewert-Kruse, Weseler Geschäftsleute Schlange, die sich nicht nur am Platz ansiedeln wollen, sondern auch die Gestaltungsvorgaben „direkt umsetzen würden“. Von den momentan sechs Eigentümern hat sich bisher nur einer für eine neue Fassade ausgesprochen. Jaeger entwickelte für ihn einen Vorschlag – ebenso wie für ein Bankgebäude, das den Platz in Richtung Fußgängerzone begrenzt. Vor der nach außen verspiegelten Glasfront sollen Lisenen aus Sandstein angebracht werden. Der Eigentümer habe Interesse gezeigt, habe sich allerdings noch nicht entschieden.
Der Weseler Architekt Professor Wolfgang Deurer sieht die langsame Entwicklung gelassen: „Denken Sie doch einfach mal nicht an die Zeitfrage. Es kann doch ruhig etwas dauern, bis alle Gebäude dieses vorgeschlagene Erscheinungsbild haben.“ In seiner Funktion als Weseler Dombaumeister kennt er sich mit langen Zeitspannen aus. 25 Jahre war der Dom wegen des Wiederaufbaus geschlossen. Das Tempo mag mit niederrheinischer Bedächtigkeit zu tun haben, aber nicht mit Opposition: Bei unserer Recherche unter örtlichen und regionalen Architekten fanden wir keine Gegensprecher.
Marketing per Fassaden
Nicht nur die Gebäude an den Seiten des Großen Markts, auch die Platzfläche könnte im Laufe der Zeit eine Wandlung erfahren. Bis 2010 – dem Jahr, in dem die historische Rathausfassade fertiggestellt werden soll – unterliegt sie noch einer Veränderungssperre, da sie mit Fördergeld gestaltet wurde. Danach können Änderungsanträge berücksichtigt werden. „Sie könnten hier nur Blumen und Bänke hinstellen, doch das würde nicht funktionieren“, sagt Ewert-Kruse.
In der Vorstellung der drei Engagierten wäre es dagegen eher ein Fortschritt, wenn in den bestehenden Pflastersteinboden Strahlen eingeschnitten und diese mit einem anderen Stein gestaltet würden.
Sie sollen zu den einzelnen Gebäuden führen und in der Mitte an einem Wasserspiel zusammenlaufen. „Wir wollen bei einem konkreten Vorschlag auch die anstehende Umgestaltung der angrenzenden Fußgängerzone gestalterisch berücksichtigen“, sagt Jaeger.
Einen Wirtschaftsaufschwung für Wesel soll der altneue Große Markt ebenfalls bringen. Momentan kämen immer wieder Reisegruppen per Bus, um sich den Dom anzuschauen.
Danach gehe es aber direkt weiter in einen der Nachbarorte, um dort zu speisen. Das soll sich ändern. „In Kempen zum Beispiel zieht eine stringente Gestaltung die Besucher aus Holland an“, erklärt Deurer das Vorbild. Und Ewert-Kruse ergänzt: „Unser Großer Markt könnte einer der meistbesuchten Plätze werden. Wenn man das passende Ambiente schafft, ist das nicht nur eine Vision.“