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[ Wohnen im Alter ]

Die mitalternde Wohnung

Altern lebenswert gestalten: sicher und selbstbestimmt wohnen in sächsischen Wohnungsgenossenschaften. Wie das funktioniert, erklärt Dr. Axel Viehweger vom Verband Sächsischer Wohnungsgenossenschaften e. V.

Text: Axel Viehweger

Unsere Gesellschaft wird aufgrund der allgemein längeren Lebenserwartung und der bisher anhaltenden geburtenschwachen Jahrgänge immer älter. Der zu erwartende Pflegenotstand, die abnehmende Finanzkraft und der Wegbruch informeller Hilfesysteme werden in den nächsten Jahren vermehrt an Brisanz gewinnen. Den Menschen so lang wie möglich ein Leben in der gewohnten und vertrauten Umgebung zu ermöglichen, gewinnt damit an gesellschaftlicher Bedeutung – vor allem in Bezug auf die Sicherung von anforderungsgerechtem und komfortablem Wohnraum unter Beachtung der Wirtschaftlichkeit.  Die Wohnung entwickelt sich somit immer stärker zum Gesundheitsstandort, da die Konsequenzen des demografischen Wandels alle Lebens- und gesellschaftlichen Bereiche durchdringen.

Die Kreativität der Wohnungswirtschaft steht diesbezüglich vor neuen Herausforderungen, denn der Wunsch der Mieter und Mitglieder besteht in einer guten und altersgemäßen Versorgung mit Wohnraum und Dienstleistungen, auch bei physischen oder psychischen Defiziten sowie der autonomen Teilhabe an der Gesellschaft. Die Gewährleistung der Balance zwischen Abhängigkeit aus baulichen Gegebenheiten und technischer Assistenz sowie der Fürsorge für die Betroffenen ist eine solche. Was hier bereits heute bzw. in naher Zukunft Realität ist, trifft in etwa 10 bis 15 Jahren nahezu für alle Regionen Deutschlands zu.

Insbesondere die Wohnungsbranche übernimmt in Sachsen die Funktion eines Sozialbarometers, um den baulichen, technischen und sozialen Gestaltungsanforderungen an Wohnraum und Wohnumfeld gerecht zu werden. Schwerpunkt bildet dabei die Bündelung von Dienstleistungen in genossenschaftlich geprägten Wohn- und Lebensräumen zur Erhaltung der Selbstständigkeit, insbesondere der Senioren. Dienstleistungen unterschiedlicher Brachen und Lebensbereiche werden dazu in den Bereichen Komfort, Gesundheit, Sicherheit und Freizeit in dem Konzept der „Mitalternden Wohnung“ des Verbandes Sächsischer Wohnungsgenossenschaften e. V. kombiniert.

Konzept

Im verwirklichten Lösungsansatz der „mitalternden Wohnung“ in verschiedenen Wohnungsgenossenschaften in Sachsen, die der VSWG begleitet, wird ein mitwachsendes Konzept umgesetzt, dass durch seine modulare Gestaltung eine hohe Anpassungsfähigkeit an sich verändernde Lebens- und Leistungsanforderungen der Menschen ermöglicht.

Das Konzept geht von einem kombinierten Ansatz, bestehend aus wirtschaftlich vertretbaren bautechnischen Maßnahmen in der Wohnung zur Reduktion von Barrieren im Wohnungsbestand, von der Einbindung technischer Unterstützungssysteme zur Assistenz im Wohnalltag sowie von angekoppelten Dienstleistungen für die Mieter, aus.

Der Vorzug der „Mitalternden Wohnung“ ist, dass diese auf dem Ansatz basiert, wirtschaftlich vertretbare bautechnische Maßnahmen bedarfsgerecht mit technischen Unterstützungsleistungen zu verknüpfen. „Mitaltern“ bedeutet die altersübergreifende Ausgestaltung des Konzeptansatzes.  Der modulare Systemansatz verbindet dabei technische, soziale und wirtschaftliche Komponenten. Mit diesem multiperspektivischen Ansatz wird eine mittlerweile in der Praxis erprobte Antwort auf technische und bauliche Fragen in unterschiedlichen Beständen sächsischer Wohnungsgenossenschaften gegeben. Das Konzept wird jeweils auf die spezifischen Interessen der Zielgruppen zugeschnitten und in Netzwerken verschiedener Regionen entlang einer Dienstleistungskette etabliert.

Mit einem „Design für alle“ (universal design) besitzen die Produkte und Lösungen eine verbesserte Gebrauchstauglichkeit, die sich positiv auf die künftige Nachfrage auswirkt und eine größere soziokulturelle Gerechtigkeit ermöglicht.

Ausbaustufen

Grundlage bildet eine bautechnisch ertüchtigte und mit ausreichend Anschlussmöglichkeiten ausgestattete Wohnung (Basisausstattung). Diese beinhaltet eine mind. barrierearme Gestaltung der Wohnung: Türöffnungen wurden verbreitert und schwellenlose Raumübergänge geschaffen. Die Duschen wurden bodengleich und mit viel Bewegungsfreiheit ausgestattet. Die Erweiterung der Bewegungsräume vor Sanitäranlagen und der Kücheneinrichtung erleichtern tägliche Routinen. Zusätzlich beinhaltet diese notwendige technische Aktivitäten (z.B. Verlegung von Kabeln und Anschlüssen) zur Schaffung technischer Voraussetzungen für weitere Ausbaustufen.

Für das „Grundmodul“ werden erste technische Systeme eingebaut, welche u. a. auch für den Vermieter von wirtschaftlichem Interesse sind, wie beispielsweise die automatische Wasserabschaltung bei Wassererkennung in der Wohnung. Die wohnungsinterne Steuerung arbeitet ohne Zutun des Nutzers. Herzstück ist ein Assistenzsystem, welches „unsichtbar“ in die Wohnung integriert ist, die vorhandenen technischen Systeme miteinander vernetzt und bei Bedarf steuernd bzw. regelnd eingreift, wenn es seitens des Nutzers nicht mehr möglich ist, selbst zu reagieren. Als sichtbares technisches Element wird lediglich pro Raum ein Multisensor eingesetzt, der entsprechende Daten erfassen kann.

Eine „erste Ausbaustufe“ zur Visualisierung von Systemzuständen innerhalb der Wohnung setzt die Installation eines Bedienpanels (als zentrale Steuereinheit) voraus. Im Rahmen dieser Ausbaustufe der „Mitalternden Wohnung“ ist die nutzerspezifische Anpassung vorhandener sowie die Einrichtung weiterer technischer Systeme und deren interne Vernetzung möglich. Die grafische Nutzerschnittstelle eröffnet den Nutzern erweiterte Kontroll- und Einstellmöglichkeiten für die wohnungsinterne Steuerung. Das technische Assistenzsystem arbeitet automatisch und unterstützend im Hintergrund, kann bei Wunsch aber auch durch Fingerdruck auf die entsprechenden Symbole des Bildschirmes einfach und komfortabel bedient werden.

Mit einer „zweiten Ausbaustufe“ werden die Voraussetzungen für eine Integration externer Leistungsangebote geschaffen. Im Rahmen dieser Ausbaustufe ist die technische Anbindung nahezu aller vor Ort verfügbaren Dienstleistungs- und Unterstützungsangebote möglich.

Wohnbegleitende Dienstleistungen, wie Beratung, Betreuungs- und Haushaltsdienstleistungen, Finanz- oder freizeitorientierte Dienstleistungen setzen zudem eine Präsenz der Dienstleister vor Ort voraus und bedürfen darüber hinaus oft auch einer Vernetzung der beteiligten Akteure bzw. Dienstleister untereinander. Die in die Wohnung integrierbaren technischen Systeme schlagen Brücken in das soziale Umfeld der Nutzer, die bei Bedarf somit schnelle und unkomplizierte Hilfe von außen ermöglichen. Das reicht vom einfachen Informationsaustausch über die Anbindung von Hilfen für den Wohnalltag bis hin zur Bewältigung von Notfällen.

Funktionalitäten

Das System regelt alle eingebundenen technischen Geräte. Die Informationen werden an eine Steuerung geliefert, die auf die jeweiligen Anforderungen der Mitglieder und Mieter eingestellt ist und lassen sich auf einem Touchscreen-Monitor, dem Fernseher, ein Tablett, aber auch wahlweise über das Mobiltelefon bedienen. Funktionen der Wohnung werden über Sensoren gesteuert. Ein nicht ausgeschalteter Herd oder ein offenes Fenster werden an eine Zentraleinheit gemeldet. Warnungen und Informationen werden unaufdringlich auf einem Monitor oder akustisch wiedergegeben. Überwacht und gesteuert werden z. B. zentrale Daten wie Feuchtigkeit, Bewegung und Raumtemperatur oder die Stromversorgung der einzelnen Lichtquellen und der speziellen Küchengeräte. Darüber hinaus werden die Wassersysteme über Havariemelder in Bad sowie Küche kontrolliert und im Notfall abgestellt. Eingebunden in das Netzwerk ist als Dienstleister eine Notrufzentrale, die automatisch z. B. bei einer Wasserhavarie, bei Rauchentwicklung in den Räumen, Einbruch in die Wohnung u. a. alarmiert wird und entsprechende Maßnahmen veranlasst. Eine Vitalüberwachung ist in Erprobung und ein Notruf bei gesundheitlichen Problemen der Mieter installiert.
Die Anzeige und Eingabe von Daten erfolgt über ein selbsterklärendes Programmsystem, das so ausgelegt ist, dass alle Altersgruppen den technischen Anweisungen ohne Vorkenntnisse nachkommen können. Vielfältigste Funktionen sind in das Assistenzsystem eingebunden.

So sorgt für mehr Komfort und Sicherheit an der Eingangstür ein individueller elektronischer Schlüssel, der die Tür ohne motorischen Aufwand öffnet. In akuten Notsituationen oder bei Havarien stellt eine verschlossene Wohnungseingangstür somit kein Hindernis mehr dar. Eine einfach zu bedienende und zuverlässige Einzelraum-Temperaturregelung realisiert in jedem Raum automatisch die gewünschte Wohlfühltemperatur. Individuelle Parameter können auf jedem Endgerät eingestellt und angezeigt werden. Wird beispielsweise ein Fenster geöffnet, so wird die Wärmezufuhr zum Heizkörper oder Heizkreis unterbrochen. Beim Verlassen der Wohnung wird automatisch geprüft, ob der Herd oder der Geschirrspüler noch eingeschaltet sind oder das Fenster noch offen steht.

Erfolgskriterien

Seit 2010 und der Nutzung der ersten Wohnung mit technischen Assistenzsystemen in Sachsen ist die Entwicklung weitergegangen und die bestehenden Systeme wurden weiter angepasst.  Schwerpunkte sind u. a., den Umgebungs- sowie den Benutzungskontext robust zu erfassen und in Echtzeit zu analysieren, um aus vergangenen Situationen zu lernen und adäquat auf unbekannte bzw. unvorhergesehene Situationen zu reagieren. Da dies eine Erfassung von sensiblen Nutzerdaten erfordert, ist es besonders wichtig, eine angemessene Berücksichtigung der Privatsphäre und Entscheidungsautonomie der Nutzer zu gewährleisten.

Ein Erfolgskriterium für eine hohe Akzeptanz der Technik sind die „Modularität“ der Leistungen, deren „Nachrüstbarkeit“, „Bedienfreundlichkeit“ und die „Unaufdringlichkeit bzw. Kontrollierbarkeit“.

Weiterhin wichtig sind die beteiligungsorientierte Einbindung der Endnutzer, eine gutes Kooperationsgeflecht der Wohnungsgenossenschaft sowie geeignete Finanzierungsansätze. Die Erfahrungen der beteiligten Wohnungsgenossenschaften bestätigen, dass mit fortschreitender Entwicklung das Gesamtkonzept der „Mitalternden Wohnung“ finanzierbar ist und sich dieses für den Nutzer der Wohnung in einer Kaltmiete von 7,50 € je qm Wohnfläche bei Vollausstattung wider-spiegelt (Stand 02/2014). Die Kosten von etwa 30.000 € trägt die Genossenschaft, wobei die baulichen Veränderungen davon mit 20.000 € bis 25.000 € den wesentlichsten Anteil erbringen. Zur Refinanzierung wird der Nutzer über die Miete einen Anteil tragen, der je nach gewünschten Assistenzmodulen unterschiedlich sein wird.

In die Verwirklichung eines Dienstleistungsnetzwerkes ausgehend von der Wohnung sind die Partner der Wohlfahrt schon in der Phase der Konzepterarbeitung aktiv einzubeziehen. Assistenzsysteme wirksam für den Nutzer einzusetzen, bedingt den Ausbau der Dienstleistung nach Wunsch und Erfordernis für den Nutzer. Kostenersparnisse lassen sich aus Kooperationen erzielen.

Nicht außer Acht dürfen die sensiblen Fragen des Datenschutzes und des Haftungsrechtes gelassen werden. Dazu liegen erste Erfahrungen vor, die je nach den Landesrechten der Bundesländer übertragen werden können.

Auf der Grundlage der gewonnenen Erfahrungen aus der Pilotwohnung der Wohnungsbau-genossenschaft Burgstädt eG wurden in dieser und weiteren Wohnungsgenossenschaften, z. B. der Wohnungsgenossenschaft „Fortschritt“ Döbeln eG, LebensRäume Hoyerswerda eG, WG „eG“  Penig, WG UNITAS eG  Leipzig, Lösungen bedarfsgerecht weiter entwickelt, modifiziert und umgesetzt.

Ausblick

Unter Federführung des VSWG wurde ab Oktober 2014 ein neues Projekt in Angriff genommen, das auf den Erkenntnissen der „Mitalternden Wohnung“ aufbaut.

Gesamtziel des Projektes „Chemnitz+ – Zukunftsregion lebenswert gestalten“ ist die Entwicklung sowie Evaluation einer modellhaften Implementierungsstrategie zur „integrierten Versorgung“ der Menschen in der Modell-Region „Mittleres Sachsen“ mit unterstützenden und aktivierenden, am individuellen Bedarf ausgerichteten Gesundheits- und Dienstleistungsangeboten für ein langes und selbstbestimmtes Leben innerhalb und im Umfeld ihres gewohnten Wohnumfeldes. Die Wohnung wird durch die Vernetzung relevanter Akteure innerhalb der Region und deren intelligente Anbindung an den Lebensraum zum Gesundheitsstandort weiterentwickelt.

Die entstehenden bzw. weiterzuentwickelnden Versorgungs- und Dienstleistungsnetzwerke für ein selbstbestimmtes Leben verfolgen dabei

  • eine Sensibilisierung und Befähigung relevanter Akteure der Gesundheits- und Dienstleistungsregion durch vernetzte Informations- und Kommunikationsstrukturen vor Ort
  • die Sicherung der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben sowohl im Rahmen ihrer körperlichen und geistigen Mobilität als auch ihrer sozialen Einbindung ins Wohnumfeld
  • eine optimale Begleitung verunfallter bzw. plötzlich erkrankter Menschen aus der stationären Betreuung zurück in ihr vertrautes Wohnumfeld
  • sowie eine bedarfsgerechte Unterstützung bei eintretenden Funktionseinschränkungen für den Erhalt der eigenen Häuslichkeit und der eigenen Gesundheit innerhalb der Wohnung.

Die Erarbeitung bedarfsgerechter, regionaler und organisationsspezifischer Lösungsansätze führt sowohl durch die regionale Vernetzung als auch durch die Einbindung überregionaler Expertise zu einer weiteren Stärkung regionaler Unternehmen und Organisationen in der Gesundheitswirtschaft.

Dr. Axel Viehweger ist Vorstand des Verbandes Sächsischer Wohnungsgenossenschaften e.V (VSWG)

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