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[ Geschmack ]

Die Stadt als Geschmacksverstärker

Entwürfe auf Facebook, Grenzen für Einzelhändler und Clusterquartiere im Eigenheimgebiet: Wie der Baubürgermeister für ein ansehnliches Biberach kämpft

Foto: Christoph Gunßer
Geschmack ist kein guter Berater: Für Christian Kuhlmann gründet Haltung auf Wissen (Foto: Christoph Gunßer)

Text: Christoph Gunßer

Zugegeben: Biberach ist reich, sehr reich. Gut 2.000 Euro Gewerbesteuer pro Kopf und Jahr rücken die Stadt bundesweit auf Platz 2 zwischen die Autostädte Wolfsburg und Sindelfingen. Doch gerade diese beiden doch eher unschönen Nachbarn an der Tabellenspitze zeigen, dass Geld allein auch Städte nicht glücklich macht. Vitalität, und vielleicht auch Geschmack, erwächst aus anderen Quellen. Das lässt sich in Biberach studieren.

„Stadtgestaltung ist ein Schlüssel“, meint Christian Kuhlmann. Der gebürtige Westfale, Jahrgang 1958, ist seit den 1980er-Jahren im Biberacher Baudezernat tätig und seit 2008 Baubürgermeister der württembergischen Stadt mit ihren rund 32 000 Einwohnern südwestlich von Ulm.

Wie kommt man aber im stockkonservativen Oberschwaben zu so einer qualitätvollen Stadtgestaltung? Und vor allem: Wer definiert, was Qualität ist?

„Wir mussten den Biberachern erst mal klarmachen, wie bedeutend ihr Stadtbild ist“, erklärt Kuhlmann. Während Besucher stets schwärmten, das sei ja „Wahnsinn, was ihr da habt“, nehme der Biberacher das gar nicht mehr wahr. „Aber verändern darf man auch nix.“ Appelle – „Liebe Gemeinderäte, bitte enttäuscht mich nicht, wir wollen doch alle eine schöne Gestaltung“ – führten nicht weiter. Es ging um Grundlagenarbeit.

Baufibeln, Beiräte und Social Media

Um das Jahr 2000 war eine gewisse Laxheit in die Genehmigungspraxis eingezogen – mit unübersehbar schlechten Ergebnissen. Als 2005 eine Neuauflage der aus den 1970er-Jahren stammenden Gestaltungssatzung anstand, zog Kuhlmann durch alle Fraktionen, um für mehr Grundlagenarbeit zu werben. Am Ende bekam er 30.000 Euro für eine Stadtbildanalyse bewilligt. Auf ihr basiert die detaillierte Stadtbildsatzung, die 2013 in Kraft trat. Unlängst kam noch eine anschauliche Baufibel mit dem Titel „Biberach weiterbauen“ hinzu. Beides taugt nach Kuhlmanns Worten indes nur dazu, in der historischen Altstadt „das Schlimmste zu verhindern“.

Darum erbat sich Kuhlmann als aktiv beratende Instanz einen Gestaltungsbeirat. Berufen hat er die vier Experten in Eigenregie. Derzeit sind es der Schweizer Jürg Ragettli aus Chur sowie Wilhelm Huber aus Betzigau, Leonhard Schenk aus Stuttgart und Andreas Meck aus München. Holt er sich so gleichsam durch die Hintertür Verstärkung für den eigenen (von ihm beiläufig als „eher reduziert“ bezeichneten) Geschmack?

Weit gefehlt. Geschmack ist für Kuhlmann „ein ganz schwieriger Begriff“. Seine „Haltung“ ist eine „Frage des Wissens, Erkennens und Daraus-Ableitens“. Mit den vierteljährlich stattfindenden Sitzungen des Beirats will er im Gegenteil die Transparenz der Entscheidungen verbessern. Zuvor habe man bei den Bauherrengesprächen im Baudezernat wie in einer „Blackbox“ gesessen und entschieden. Nun lenken und begründen die Experten öffentlich und nachvollziehbar. Dafür wird ihm inzwischen, nach anfänglicher Skepsis, sogar aus der FDP-Fraktion Lob gezollt. Das erfüllt Kuhlmann mit Genugtuung. Er selbst ist übrigens bewusst parteilos geblieben: „Für mich steht die Sache im Vordergrund.“ Trotzdem (oder gerade deshalb) wurde er 2012 als aussichtsreicher Kandidat für den OB-Posten gehandelt. Er aber trat nicht an, weil er bei seiner Sache bleiben wollte.

Foto: Biberach-Riss.de/Presse
Wohngebiet Sandberg: Das Quartier erhielt die Auszeichnung „Beispielhaftes Bauen“ der Architektenkammer Baden-Württemberg (Foto: Biberach-Riss.de/Presse)

Die Kommunikationsoffensive geht indes weiter: In der Volkshochschule erläutern der oberste Baufachmann und sein Team regelmäßig aktuelle Projekte; daneben gibt es Führungen und Schau(bau)stellen, die auf breite Resonanz stoßen. Ein Online-Architekturführer zeigt und erläutert neuere Bauten in der Stadt. „Wir erreichen so nicht alle, aber immer mehr Leute“, bilanziert Kuhlmann, der dafür an vielen Abenden in der Woche unterwegs ist. „Ich kann begeistern, weil ich selber begeistert bin.“ Ästhetik und Ethik sind für ihn untrennbar, er institutionalisiert gewissermaßen nur sein Engagement.

„Wir fördern und fordern in einem kreativen Mix unterschiedlicher Werkzeuge und Methoden, die in offenen kommunikativen Prozessen ablaufen“, hat Kuhlmann das mal im Planerjargon ausgedrückt. „Diese sind Garant für eine hohe Gestaltqualität. Nur so kann ein Umfeld entstehen, das den Blick für Schönheit sensibilisiert und diese wie selbstverständlich einfordert.“ Die Stadt als Geschmacksverstärker.

Angespornt durch die Aufnahme in das ExWoSt-Programm „Baukultur in der Praxis“ des Bundesbauministeriums, wagte man unlängst, noch kreativere Wege zu gehen. Der Neubau eines Jugendzentrums stand an, und um die wahre Zielgruppe zu erreichen („nicht nur die Gymnasiasten“), startete die Verwaltung ein neuartiges Kooperationsverfahren. Zeitgleich und immer wieder abgestimmt mit der Arbeit der vier beauftragten, einschlägig erfahrenen Architekturbüros, konnten die Jugendlichen auf Facebook die Entwurfsprozesse kennenlernen, beeinflussen und kommentieren. Die Resonanz war überwältigend: 850 Jugendliche beteiligten sich. Nach Workshops und Jurysitzung wählten schließlich auch die Jugendlichen ihren Favoriten: Es war der Entwurf, den auch die Stadtverwaltung wollte. Also wird nun ein maßgeschneidertes Haus gebaut, und auch hier lässt man die jungen Leute teilhaben nach dem Motto „Wie wird aus dem Plan ein Haus?“.

Selbst in der guten Stube der Stadt, auf dem Marktplatz, wagt die frisch gekürte „Baukulturgemeinde“ in diesem Sommer ein Experiment, das provoziert: In Kooperation mit dem Master-Studiengang der örtlichen Hochschule soll der Baukörper des alten Schuhhauses als temporäre Installation im Umriss wiedererstehen. Das Gebäude stand im späten Mittelalter nachweislich mitten auf dem Platz, wurde aber im 17. Jahrhundert abgerissen. „Das Ding ist damals gegen den Willen der Patrizier entstanden, weil die Bürgerschaft das wollte, aber später entfernt worden – Stuttgart 21 gab es damals schon …“ Theatergruppen, Jugendkunst- und Musikschule werden den Bau an drei Tagen im Juni bespielen, eine Podiumsdiskussion ist geplant. „Die Stadt ist kein Museum“, entgegnet Kuhlmann auf die Proteste einer Bürgerinitiative, die den Bau verhindern will. „Die Stadt hat sich stets verändert, sie muss sich entwickeln können.“

Stadtentwicklung steuern

Dass Christian Kuhlmann seinerzeit an der TU Dortmund bei Peter Zlonicky und Franz Pesch Stadt- und Regionalplanung studiert hat, merkt man nicht nur an den hübsch systematischen Schaubildern und Diagrammen, die er einem – durchaus etwas selbstironisch – präsentiert. Gestaltung reicht bei ihm weit über Stadtraum und Design hinaus. So steuert die Verwaltung seit langem mit großer Konsequenz die Einzelhandelsentwicklung. Indem sie dem innenstadtrelevanten Handel schlicht keine Alternativen am Stadtrand anbietet und Lebensmittel-Discounter sogar ganz aus der Stadt verbannt, erhält sie die Altstadt am Leben.

Foto: Biberach-Riss.de/Presse
Neues im historischen Kontext: Das moderne Gebäude schließt sensibel und maßstabsgerecht eine Lücke im Altstadtbereich (Architekten G.Schmitt, P. Lukaschek, Biberach) (Foto: Biberach-Riss.de/Presse)

Während andernorts die Innenstädte „ausbluten“, ist Leerstand in Biberach kein Thema. Allein die Größe der Nachfrage stellt die Stadt vor Probleme. Renommierte Filialisten wie H+M drängen derzeit hinein. Die weit überdurchschnittliche Kaufkraft der hiesigen Kundschaft spielt da gewiss eine Rolle – ein unlängst neu eröffnetes C&A-Kaufhaus erzielt hier die bundesweit höchste Umsatzrendite pro Quadratmeter für die Ladenkette. Doch das stimmige Ambiente ist für die Investoren mindestens ebenso wichtig. Dafür geht die Bauverwaltung auch Kompromisse ein. Da der Handel immer größere Flächen verlangt, zieht man vermehrt die Zusammenlegung von Altstadtgrundstücken in Betracht. „Wir müssen Ventile öffnen“, formuliert es Kuhlmann.

Jüngstes Beispiel für diese Strategie ist ein Sportartikelkaufhaus, das an einem Standort in einer Seitenstraße expandieren wollte. Zwei benachbarte denkmalgeschützte Häuser konnten – nach schwierigen Verhandlungen mit dem Denkmalschutz – erworben und entkernt werden. Heute markiert ein zeichenhafter dunkelblauer Giebel den Zugang zum Geschäft. Dass sich hinter kleinteiligen Ensembles in Wirklichkeit großflächige Shoppinglandschaften verbergen, mögen Puristen kritisieren. Es entspricht jedoch den Realitäten im Einzelhandel, wo „Wachsen oder Weichen“ die Maxime ist. „Die Stadt muss sich entwickeln können“, betont Kuhlmann – und liegt regelmäßig mit dem Denkmalamt im Clinch. Die Bauherren danken ihm indes den Einsatz. Spätestens hinterher, wenn das Ergebnis des oft zähen Ringens steht, sind eigentlich alle zufrieden. Biberachs Straßenräume wirken intakt, die Quartiere durch einen hohen Anteil an Kleingewerbe und Wohnungen belebt.

Eine Messe für mehr Wohnvielfalt

Während im Zentrum kaum ein größeres Bauvorhaben mehr ohne die Vorlage und frühzeitige Diskussion konkurrierender Entwürfe genehmigt wird, griff die Verwaltung bei ihrer letzten Wohnbauoffensive auf das bekannte (und standesrechtlich umstrittene) Mittel der Architektenmesse zurück. Tatsächlich wächst die reiche Stadt seit Jahren rasant auf der „grünen Wiese“, und um auch in diese Expansion gestalterische Ambition zu bringen, lud man im Jahr 2007 zwanzig Architekten ein, im Rathaus Musterentwürfe vorzustellen. Das Neubaugebiet „Talfeld“ war zu diesem Zweck in 60 mal 60 Meter große Clusterquartiere eingeteilt, die jeweils einem Bautyp vorbehalten blieben. Diese Methode hatte der Westfale Kuhlmann vom niederländischen Wohnungsbau gelernt. Eine weitblickende Bodenvorratspolitik gehört so auch zum kommunalen „Werkzeugkasten“.

Bemerkenswert viele Bauherren ließen sich auf der Messe zu neuen Wohnvorstellungen anregen und beauftragten einen der Planer, wofür ihnen die Stadt im Gegenzug ein Grundstück garantierte. Heute stehen bereits einige gelungene Atrium-, Winkelhof-, Ketten- und Punkthäuser im Gebiet und drängen die klassischen „Hundehäuser“ aus dem Blickfeld. Auch Christian Kuhlmann, der bereits im Rahmen seiner Diplomarbeit den individuellen Flachbau erforschte, hat sich am Rande des Gebiets einen bescheidenen Bungalow gebaut und fährt von hier meist mit dem Fahrrad zur Arbeit. Die kurzen Wege in seiner Stadt schätzt er auch im übertragenen Sinn: Unbürokratisch und direkt geht es hier zu, ideal für einen Kommunikator wie ihn.

Beispiel geben, überzeugen, fördern und fordern ist seine Strategie, und er hat damit Erfolg. Speziell die Zugezogenen, oftmals gut ausgebildete Fachkräfte, schätzen seine Haltung. „Die meisten wollen nie mehr weg“, bemerkt Kuhlmann.

Christoph Gunßer ist freier Fachautor in Bartenstein.

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