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[ Gemeinschaften II ]

Schwäbischer Gruppenfleiß

Nirgendwo bauen so viele Gruppen wie in Tübingen. Die Stadt fördert das nach Kräften – nicht mit Geld, aber mit viel gutem Willen

Richtfest: Das Gruppenprojekt „stadt.raum“ der ­Tübinger Büros Wied sowie Nassal + Wiehl soll das Französische Viertel komplettieren.

Von Michael Sudahl

Baugemeinschaften als solche seien für ihn gar nicht wichtig, soll Tübingens legendärer Stadtplaner Andreas Feldtkeller einmal gesagt haben. Der geistige Vater der individuellen und gemischten Stadtentwicklung wollte Kleinteiligkeit und Mischung, seit in den 1990er-Jahren die ersten Militärareale zur Revitalisierung anstanden. Und dafür erwiesen sich Baugemeinschaften einfach als bestes Mittel. Rund 150 gibt es bis heute, und Cord Soehlke hat die meisten von ihnen begleitet. Seit 15 Jahren arbeitet der gelernte Architekt für die Stadt Tübingen; seit 2010 als Baubürgermeister. Was hat die nicht einmal 90.000 Einwohner starke Gemeinde, um zur Metropole des gemeinschaftlichen Bauens zu werden?

Soehlke erklärt es so: „Wir wollten und wollen Wohnen und Gewerbe verbinden. Menschen aus allen Schichten sollen für ein Leben in der Innenstadt begeistert werden. Die Schlüssel dazu sind kleinteilige Parzellierung, transparente Preisgestaltung und Grundstücksvergabe nach Projektqualität. Das alles ist baugemeinschaftsfreundlich.“ So ist Tübingens marktüblicher Baulandpreis mit 800 bis 900 Euro zwar hoch, doch die von der Stadt verlangten Preise sind fix. Damit ist ausgeschlossen, dass sich Bewerber in einem Preiswettkampf überbieten – und womöglich nicht das beste Konzept, sondern der kapitalkräftigste Interessent das Rennen um die Grundstücke gewinnt. Ein Weg, der vor allem den Baugruppen entgegenkommt.

Auch haben Grundstücksinteressenten zunächst sechs Monate Zeit, um ein Konzept zu erarbeiten – und bei erkennbarem Fortschritt noch mehr. Das gebe Baugemeinschaften die nötige Zeit, für alle Wohnungen Mitmacher zu finden, erklärt Soehlke. „Das gesamte Entwicklungsverfahren ist auf ihre Dynamik zugeschnitten.“ Auch dient das Stadtsanierungsamt als zentrale Anlaufstelle für alles, was mit Behörden zu klären ist. Und generell wichtig sei Kontinuität: „Baugemeinschaften brauchen in besonderer Weise verlässliche Rahmenbedingungen seitens der Kommune.“ Schließlich koordiniert die Stadt zwischen den Gruppen: „Immer mehr Aufgaben wie Tiefgaragen oder Innenhöfe müssen gruppenübergreifend und simultan gelöst werden. Da spielen die richtige Taktung und eine gute Kommunikation eine große Rolle.“

Und so sieht es im Französischen Viertel heute aus: Die Häuser beherbergen eine bunte soziale Mischung.

Höheren Eigenaufwand nimmt Tübingens Verwaltung in Kauf: „Eine Melange aus 50 Einzelvorhaben ist nun einmal nicht so sicher für die Quartiersentwicklung wie drei professionelle Entwickler. Aber das lässt sich strukturieren.“ Auch vermittelt sie zwischen Projekten und Interessenten auf ihrer kommunalen „Stadthausbörse“. Denn auf lange Sicht „erhält Tübingen aus zeitlichen und strukturellen Anfangsinvestitionen in die Baugemeinschaften einen hohen Mehrwert – wirtschaftlich, aber auch sozial und kulturell“. Das Wichtigste ist für Soehlke, dass „öffentliche Hand und Bürger gemeinsam für die Stadt Verantwortung tragen“.

Darauf ist auch die städtische Planung zugeschnitten. „Wer das Konzept einer gemischten Stadtstruktur in Verbindung mit den Baugemeinschaften verfolgen möchte, muss Spielräume schaffen – in architektonischer Hinsicht ebenso wie beim Bebauungsplan.“ Nur so könne daraus die gewünschte Vielfalt an Bewohnern und Gewerbe entstehen.“ Die Bebauungspläne für die einschlägigen Gebiete definieren Höhe und Baufenster, nicht aber die Parzellengröße. Denn wer weiß schon vorher, ob sich für einen bestimmten Streifen dreißig Haushalte gemeinsam interessieren oder je drei für ein Zehntel?

Cord Soehlke hat als Amtsleiter und Baubürgermeister weit mehr als 100 Tübinger Baugemeinschaften begleitet.

Die Stadt lernt ständig dazu

„Die Architekten haben ebenso wie wir mit der Zeit dazugelernt“, sagt Soehlke. Denn weil die Frage „Was bringt das jeweilige Projekt dem Viertel?“ immer im Vordergrund stehe, habe sich die Alltagsarchitektur von Jahr zu Jahr verbessert. Und das, obwohl teils unterschiedlichste Gebäudetypologien in einem Quartier Wand an Wand stehen. Etwa ein türkisches Mehrfamilienhaus neben einem ökologischen Niedrigenergiehaus. Oder der moderne Architekten-Entwurf neben dem rustikalen Wohnprojekt für gemeinsames Leben im Alter. Möglich sei das Gedeihen auch, weil die Verwaltung in ihrer Rolle als Regisseur auf die Akteure höre. „Die Stadt hat immer gefragt: Was können wir beim nächsten Baugebiet besser machen?“, verdeutlicht der Baubürgermeister.

Auch freie Architekten mögen einen sicheren, aber nicht zu engen Rahmen, so etwa der Baugruppen-Experte Matthias Gütschow: „Die Kommune sollte klare Spielregeln für das Bebauen definieren.“ Bei früheren Projekten habe die Verwaltung noch viel architektonischen Freiraum gelassen, akzeptiert, ihn sogar bewusst gefördert. Doch jetzt herrsche die Einsicht, dass gewisse Vorgaben Sinn machen. „Statt alle möglichen Dacharten zu erlauben, sind etwa in den neueren Quartieren Flach- beziehungsweise Pultdächer vorgeschrieben“, sagt Gütschow.

Das Ergebnis kann sich sehen lassen – gestalterisch und auch sozial. Anders als in anderen Städten gibt es in Tübingen nicht nur Mittelschicht-Baugemeinschaften. Auch Ex-Jugoslawen mit Erspartem und Handwerkskenntnissen bauen mit. Den Vielfalts-Rekord stellte das Gemeinschaftsprojekt „stadt.raum“ im Französischen Viertel auf: In den 34 Wohnungen leben Menschen aus acht Nationen; die Wohnungsgrößen reichen von 38 bis zu 207 Quadratmetern. Auch Behinderte sind integriert. Im Quartier Stuttgarter Straße schuf die „Baugemeinschaft Ayyildiz“ Miet- und Eigentumswohnungen. Die Gemeinschaft „Casa Pueblo“ wurde unter anderem vom Spanischen Eltern- und Kulturverein initiiert. Nachbar ist der Eritreische Verein Tübingen. Ein Eritreer nannte als Motiv für das Gemeinschaftsbauen, in solch einer Gruppe werde er nicht übers Ohr gehauen.

Doch heute wird das Bauen vor allem für Schwellenhaushalte zusehends schwieriger. Vor vier Jahren kosteten die von Gütschows Büro geplanten Häuser im Schnitt 1.850 Euro pro Quadratmeter, heute sind es bis zu 2.750 Euro. Hintergrund ist zum einen eine EU-Verordnung, die Tübingen hinsichtlich der Erdbebengefährdung höher einstuft und entsprechend mehr Stahlbeton verlangt. Zum anderen gibt die Stadt eines nicht: Geld oder Gruppenrabatte beim Grundstückskauf. Auch im reichen Tübingen ist die Stadtkasse klamm – und für Soehlke sind, wie für seinen Vorgänger Feldtkeller, Baugemeinschaften kein Selbstzweck: „Die Arbeit mit ihnen ist nur sinnvoll, wenn ihre Stärken und Qualitäten in die städtebauliche Entwicklungsstrategie passen.“ Aber da sie das in Tübingen tun, rechnet Soehlke für die kommenden Jahre mit 40 bis 70 weiteren Projekten.

Michael Sudahl ist freier Fachjournalist in Stuttgart.

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