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[ Orientierungssysteme ]

Leitkultur

Thomas Geissert entwirft Orientierungssysteme – und wünscht sich, sie wären seltener nötig

Blau macht schlau: An 800 Bahnhöfen hat teamgeissert das Wegeleitsystem der Deutschen Bahn umgesetzt – nicht in dem Firmenfarben, dafür im international vertrauten Bahn-Blau.

Von Rosa Grewe

Am Servicepoint haben wir uns verabredet. Schließlich sei der Bahninformationsschalter der zentrale Anlaufpunkt für alle, sagte mein Interviewpartner Thomas Geissert vorab am Telefon. Er muss es wissen, als Architekt und Fachplaner für Leitsysteme. Ich warte also neben einem mannshohen Hinweisschild am Frankfurter Hauptbahnhof, im Ohr das Hintergrundtosen der fahrenden Züge und die hallenden, dröhnenden Bahnansagen. Aus der vorbeihastenden Menschenmasse lösen sich sekündlich Einzelne, um am Servicepoint zu warten – auf Züge, auf Durchsagen, auf Mitreisende. Ich stehe im Weg. Ich habe keine Ahnung, wie Geissert aussieht.

Also findet er mich, vermutlich weil er immer schnell findet, was er sucht. Das erklärt er: „Ich hatte schon immer eine gute Orientierung. Ich orientiere mich visuell, an Gebäuden, Hausfassaden und Straßenräumen.“ Aus dieser Fähigkeit resultiert seine Spezialisierung auf Leitsysteme. Nach seinem Diplom an der FH Mainz 1992 und einem Studium an der Städelschule Frankfurt arbeitete Geissert erst in verschiedenen Büros, „ganz klassisch, von Wettbewerben bis Bauleitung“. Der Zufall brachte ihn dann in eine Designagentur, wo er erstmals Leitsysteme plante. Nach sechs Jahren Agenturerfahrung gründete er schließlich eine Agentur, die sich auf Leitsysteme spezialisierte und für die Geschäftsidee 2003 den Gründerpreis der Stadt Frankfurt erhielt. Seit dem Jahr 2005 führt Geissert in Egelsbach bei Darmstadt sein eigenes Büro mit dem Namen teamgeissert, beschäftigt dort Grafik- und Kommunikationsdesigner und arbeitet im Netzwerk mit anderen Architekten und Designern. Sein erstes Projekt in diesem Fachgebiet war die Planung und Implementierung des neuen Wegeleit- und Informationssystems an deutschen Bahnhöfen. Sein damaliger Arbeitgeber hatte sich in einem Wettbewerb für den Auftrag qualifiziert. „Damals gab es viele verschiedene Generationen von Hinweisschildern.“ Geissert übernahm in einem Team die Ausarbeitung des neuen Leitsystems. In Berlin und Leipzig wurde es getestet und ab 1996 deutschlandweit installiert.

Geissert leitet mich zum Kopf der Bahngleise, vor die blauen Schilder, auf denen groß die Gleisnummern prangen. Mit diesen Schildern fing alles an, die Überarbeitung von Logos durch Grafiker, die Wahl, Klassifizierung und Anordnung der Informationen durch den Fachplaner. Was oberflächlich betrachtet nach einer rein grafischen Arbeit aussieht, ist das Ergebnis von logistischen, funktionalen und politischen Entscheidungen. „Die größte Herausforderung beim Entwurf eines Leitsystems entsteht, wenn, wie bei diesen Bahnhöfen, ein einheitliches System für sehr unterschiedliche Immobilien funktionieren muss.“ Was in Frankfurt fast untergeht, ist in Buxtehude überdimensioniert. Was hier regionalpolitisch gewollt ist, erscheint Besuchern aus anderen Städten unlogisch.

Allein die Entscheidung, die Hinweise in Weiß auf blauen Grund statt in Schwarz auf Weiß zu setzen, kam einer Revolution gleich, dabei bedeutete dies lediglich die Anpassung der Farbgebung an die anderer europäischer Länder und an eine bessere Lesbarkeit. „Ein Hinweisschild unterliegt immer auch einer Corporate Identity des Auftraggebers. Die Funktionalität und die CI, in diesem Fall das Rot des DB-Logos und die alten schwarz-weißen Schilder, sind aber nicht immer in Einklang zu bringen.“ Heute ist auch Blau wie selbstverständlich mit der Bahn-CI verbunden.

Fragen der Grafik und Farbigkeit betreffen Geissert als Planer zunächst nur so weit, wie sie die Funktionalität ­beeinflussen. „Wenn ich ein erstes Konzept bei einem Kunden vorstelle, dann präsentiere ich keine Piktogramme, Farbkonzepte und hübschen Schilder. Ich zeichne Diagramme, Wegebeziehungen und Zusammenhänge auf. Erst wenn diese geklärt sind, Informationen, Orte und Wege eine Hierarchie haben, dann kann das konkrete Design der Hinweistafeln entstehen.“ Wer ein Leitsystem plant, muss in räumlichen Beziehungen denken – eine Architektenfähigkeit. Die meisten Orientierungssysteme kommen aber von Grafik- und Kommunikationsdesignern. Geissert als Architekt und Fachplaner überbrückt die Kluft zwischen Bauherrn und ­Designer.

Ein Blick für suchende Blicke: Thomas Geissert hat sich dem Zurechtfinden in komplexen Bauten und Stadträumen verschrieben

Seine spezielle Sichtweise überzeugt auch die Commerzbank und die Europäische Zentralbank in Frankfurt. Von manchen Architektenkollegen werde er misstrauisch beäugt, wohl wegen seines kritischen Blicks auf die Funktionalität ihrer Gebäude. Nachvollziehen kann er das nicht: „Ich bin kein Konkurrent und stelle die Projekte der Kollegen auch nicht per se infrage. Ich verstehe mich als Berater für Investoren und Bauherren und als Fachplaner für Architekten.“ Und er ist wohl auch Moderator, denn wenn Leitsysteme über Grundstücksgrenzen hinaus funktionieren sollen, müssen sie unterschiedlichste Anforderungen erfüllen. „Die größte Herausforderung liegt darin, alle Interessengruppen unter einen Hut zu bringen.“ Das Firmensignet auf dem Hinweisschild ist eben publikumswirksamer als jede Werbung.

Wir begutachten die weitläufige Bahnhalle mit den Stahlbögen von Johann Wilhelm Schwedler und der historistischen Fassade am Kopfende. Die Anzeigetafel für Abfahrten hängt zwischen grellen Werbebannern. „Besser wären unterschiedliche Bereiche für Hinweisschilder, geordnet nach Informationsart. Normalerweise hängt auch bei der Bahn Werbung auf einer anderen Ebene und entspricht bestimmten Richtlinien, die Größe und Farbigkeit regulieren. In Frankfurt wollte man das leider nicht in aller Härte durchsetzen.“

So wetteifern die Commerzbank, McDonalds und wechselnde Messebanner um die Blicke, die sich auf der Suche nach wichtigen Informationen verirren. Ein Wirrwarr aus bunten Schriftzügen und Logos, wohin man auch blickt – für den Planer und für viele Reisende ein Ärgernis. Manche Werbung bedient sich dabei der gleichen Sprache wie das Leitsystem, mit Richtungspfeilen und Wegeanweisungen. Eine Verwechslungsgefahr zwischen Werbung und Hinweisschild sieht Geissert nicht. Aber sich schnell orientieren, ohne nach den wichtigen Informationen suchen zu müssen, das wird immer schwieriger. Doch worin besteht letztlich der Unterschied zwischen Werbung und Hinweisschild, wenn Erstere auch leitet und Letzteres auch eine CI transportiert? „Tatsächlich sieht die öffentliche Verwaltung häufig in ihrer Gestaltungssatzung keinen Unterschied zwischen Hinweisschild und Werbung“, bemängelt Geissert. Dabei ist für ihn die Trennung klar: Werbung und Leitsysteme transportieren unterschiedliche Informationen, verfolgen andere Ziele und werden unterschiedlich wahrgenommen und gelesen. Während ein Leitsystem mit vielen kleinen Hinweisen funktioniert, wirkt ein Werbeschild über Größe und Gestaltung. Ein Dilemma, wenn für beides die gleichen Gestaltungsauflagen gelten.

Zwanzig Minuten im Zentrum der Bahnhofshalle, von visuellen und akustischen Reizen überflutet, dazu der muffige Geruch aus den U-Bahn-Abgängen und von Frittierfett – da schwindet die Konzentration. „Wir werden permanent berieselt. Es gibt einen regelrechten Informationswahn.“ Die wichtigen Informationen gehen darin unter. Und nicht nur wegen der Navigationsgeräte erlahmt der Orientierungssinn.

Werden unsere Städte wirklich immer komplexer, lauter und unverständlicher, oder warum verlieren wir ohne Wegweiser zunehmend den Überblick? Geissert klagt: „In der Stadt gibt es keine Orientierungspunkte mehr.“ Um das zu überprüfen, bahnen wir uns den Weg auf den windigen Bahnhofsvorplatz. Die Frankfurter Hochhausskyline ist jetzt ganz nah. Den Vorplatz dominieren Firmenlogos an den abgasverrußten Fassaden, S- und U-Bahn-Schilder und die Straßenflucht in Richtung Innenstadt. Eigentlich doch genug Orientierungspunkte, oder? „Nein, die Gebäude verlieren ihre Eindeutigkeit. Ob Oper, Bürogebäude oder Rathaus: Seit der Moderne erkennt man es nicht mehr zwangsläufig. Zudem sind viele Gebäude multifunktional.“

Unser Blick geht in Richtung Westendtower, der nur wenige Fußminuten vom Bahnhofsvorplatz entfernt steht. Hier offenbart sich ein weiteres Problem: Der Weg zum Hochhaus ist unklar. Als Landmarken wirken die Banktürme nur aus der Ferne. Aber bei der Annäherung werden sie zu Scheinriesen wie Herr Tur Tur aus Michael Endes „Jim Knopf“, die in der dichten Stadtmasse immer weniger den Eindruck von Größe vermitteln. „Die moderne Architektur bricht mit alten Wahrnehmungsgewohnheiten. Der Eingang zum Beispiel ergibt sich oft weder aus dem Stadtgefüge noch aus einer monolithisch gestalteten Fassade.“ Der Eingang braucht also ein Hinweisschild, sonst findet man ihn nicht. Hier setzt Geissert an: „Wenn die Architektur zu Ende ist, fange ich an.“

Minimal-exklusiv: Das Orientierungskonzept für eine Gartenschau im österreichischen Schlosspark Grafenegg will sich zurücknehmen und die Besonderheit des Ortes widerspiegeln

Das System soll klar sein – aber bitte unauffällig

Entwerfer eines Gebäudes wünschen sich aber ein möglichst unsichtbares Leitsystem – doch das würde nicht wirken. Es ist ein Spagat, bei dem das Leitsystem auch in der Gestaltung zur Architektur passen muss. Auch hier hilft der Blick des Architekten. Die Grenzen zwischen Leitsystem und Architektur sind fließend. Eine gute Architektur leitet, und ein gutes Leitsystem macht Architektur: Wie in dem vom Team Geissert gestalteten Informationssystem im Schlosspark Grafenegg, das für den Designpreis der Bundesrepublik Deutschland 2010 nominiert und mit dem DDC-Award „Gute Gestaltung 09“ ausgezeichnet wurde.

„Bei der Konzeption eines Leitsystems gibt es einen großen Gestaltungsfreiraum“, berichtet Geissert. „Also fühle ich mich auch hier als Architekt.“ Schließlich ist der Anspruch an ein Leitsystem eher ein architektonischer als ein grafischer: Ein gutes Leitsystem bleibt lange bestehen. Es muss funktionieren, zeitlos sein und gut lesbar für verschiedene Zielgruppen; im besten Fall wirkt es subtil.

„Über die Materialität der Architektur lässt sich im Vorfeld schon viel bewirken. Unterschiedliche Zonen, Hochhausebenen und Gebäudetrakte sollten unterschiedliche Materialien, Fußbodenbeläge und Wandmaterialien erhalten.“ Das hilft auch denen, die sich visuell nicht orientieren können. Wir gehen wieder in den Bahnhof; Geissert weist auf den steinernen Fußboden: Rillenplatten im Boden leiten Sehbehinderte zu den Bahngleisen. Doch am Übergang zu den Bahnsteigen enden die Leitplatten; der Blinde wird einfach stehen gelassen. Für die Umgestaltung der Bahnsteige reichte das Budget nicht.

Sich in andere Menschen hhineinzuversetzen und ihre Bedürfnisse kennenzulernen, ist die größte Herausforderung beim Entwerfen von Orientierungssystemen. „Was ist sinnvoll? Manches überfordert oder ist nicht praktikabel. Zum Beispiel, wenn Firmen hochtechnisch erscheinen wollen und statt einer Klingel mit Gegensprechanlage ein IT-gesteuertes Empfangssystem mit Touchscreen aufstellen, für das ich dann als Besucher auch noch ein Passwort brauche.“ Ein optimales Orientierungssystem funktioniert über kulturelle und sprachliche Unterschiede hinweg, für Menschen mit unterschiedlichen Fähigkeiten gleichermaßen gut, und es funktioniert auch auf hoch verdichteten, komplexen und stark frequentierten Flächen mit eiligen, fremden Besuchern ohne Sprachkenntnisse. „Flughäfen bieten das oft beste Beispiel für gute Leitsysteme.“

Thomas Geissert hat aber einen Wunsch: „Ich hoffe, dass in Zukunft die Funktion der Architektur wieder klarer ablesbar ist und dass Architektur und Orientierungssysteme wieder mehr im Einklang stehen.“

Rosa Grewe hat Architektur studiert und betreibt das Fachpressebüro quer-streifen in Darmstadt und Barcelona.

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