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[ Baukultur in den Niederlanden ]

Hochlande

Debattenzentrum, Verlag, Kunsthalle, Museum und Archiv: Wie das Niederländische Architekturinstitut die Baukultur voranbringt.

Baukulturbau: der NAi-Komplex in Rotterdam von Jo Coenen aus Maastricht.

Kerstin Schweighöfer

Bedeutungsvoll schwenkt Karel van Kessel seinen Schlüsselbund, um dann die Tür zum Heiligsten zu öffnen: „Hier werden mehr als 1 200 Modelle aufbewahrt!“, erzählt der Chefaufseher mit ehrfürchtig gesenkter Stimme beim Betreten des Archivs. „Die blauen hier rechts aus Styropor kommen aus dem OMA-Büro, das ist typisch für Rem Koolhaas.“ Daneben macht sich der Entwurf von Bolles + Wilson für das Rotterdamer Luxor-Theater breit, „und das hier ist das Naturmuseum von Erick van Egeraat, das steht nur einen Steinwurf entfernt!

“Van Kessel spricht von den Modellen, als wären es seine Kinder. „Ich arbeite hier ja auch schon seit mehr als 15 Jahren!“, erzählt der 61-Jährige. So kennt er auch den Gebäudekomplex, in dem das Niederländische Architekturinstitut NAi seit Oktober 1993 untergebracht ist, wie seine Westentasche. Stolz wie ein Hausherr schreitet er durch die Eingangshalle. Unzählige Besucher aus dem In- und Ausland hat er im Laufe der Jahre durch das NAi geführt, um ihnen die Ausstellungssäle zu zeigen, das Auditorium, die Bibliothek mit ihren fast 40 000 Büchern und – nicht zu vergessen – die „Banane“, wie das elegant geschwungene, 200 Meter lange und elf Meter breite Archiv im Volksmund genannt wird. „Der Maastrichter Architekt Jo Coenen hat alle Funktionen in einem eigenen Gebäudeteil untergebracht“, doziert van Kessel. „Dieses Bauwerk hat ihm den Durchbruch beschert!“

Andrang: Der Rückblick auf die Hochmoderne zieht auch in Rotterdam – etwa bei der Corbusier-Ausstellung 2007.

Natürlich hat er Coenen längst persönlich getroffen: „Und auch Renzo Piano, Richard Meier oder Daniel Libeskind“, zählt er ohne falsche Bescheidenheit auf. Denn die Stars der internationalen Architekturszene kommen beim NAi regelmäßig über die Schwelle für Lesungen und Debatten oder, um Solopräsentationen ihres Œuvres zu eröffnen.

Auch nehmen sie an der Architekturbiennale teil oder an Manifestationen wie dem „Architektursymposium 2.0“ im November 2007: Damals gelang es dem NAi, die Crème de la Crème der heimischen Baumeister für einen Tag ins Rotterdamer Kongresszentrum de Doelen zu holen, um vor 1000 Zuhörern zusammen mit jungen Talenten über die Zukunft ihres Metiers zu diskutieren – angefangen bei Winy Maas von MVRDV und Francine Houben von Mecanoo über Ben van Berkel, Willem Jan Neutelings und Wiel Arets bis hin zu Altmeister Koolhaas: Der ließ Publikum und Kollegen zwar gut eineinhalb Stunden warten, aber auch er rückte an.

Diskussionen auslösen, Visionen für die Zukunft ausarbeiten, Bestandsaufnahmen zu aktuellen räumlichen Entwicklungen liefern, Bücher herausbringen und gleichzeitig das kulturelle Erbe in Ehren halten – das alles gehört zu den Aufgabenbereichen des NAi. Dieser Mix an Funktionen macht das 20 Jahre alte Institut weltweit einzigartig: „Wir sind Archiv, Museum, Verlag, Kunsthalle und Debattenzentrum zugleich – und das alles im Zeichen der Architektur“, sagt Ole Bouman, der das NAi seit April 2007 leitet. „Ich glaube nicht, dass es das sonst noch irgendwo gibt!“ ­Finanziert wird das NAi zu 60 Prozent von der Regierung und zu 40 Prozent von Sponsoren, „aber wir sind eine Stiftung und damit völlig unabhängig“.

Anonyme Vorstadtidylle in den Niederlanden.

Der 49-jährige Kurator und Kulturhistoriker ist der dritte NAi-Direktor – nach dem US-Autor und Architekten Aaron Betsky und der Berliner Kritikerin und Kuratorin Kristin Feireiss. „Ein einmaliges Institut!“, betont auch sie. „Und ein großartiges Vorbild!“ Dass es so etwas bislang nur in diesem Land gibt, ist kein Zufall. „Erstens ist Architektur hier Teil der nationalen Identität“, erklärt Feireiss.

Sie erinnert an die großen sozialen Wohnungsbauprojekte vor und nach dem Zweiten Weltkrieg, mit denen die Niederländer in aller Welt bekannt geworden sind: die Arbeitersiedlungen in Amsterdam, Rotterdam und Utrecht von Johannes Pieter Oud, Michel de Klerk oder Gerrit Rietveld. In dieser Tradition steht Architektur in den Niederlanden noch heute. Zweitens darf der jahrhundertelange Kampf gegen das Wasser nicht vergessen werden, dem die Niederländer auch immer wieder neues Land abgerungen haben.

Der Begriff „Architektur“ umfasst in diesem Land deshalb nicht nur Gebäude, sondern auch die Umgebung und das Interieur, also die gestaltete Umgebung als Ganzes – und in den Niederlanden ist fast alles gestaltet. Nicht zufällig hat das niederländische Wort „landschap“ – geschaffenes Land – international Karriere gemacht: Sowohl die deutsche „Landschaft“ als auch das englische Wort „landscape“ gehen darauf zurück.

Der Rotterdamer Strandpavillon von Monadnock (oben) und die Villa in Almere von Next (unten) erhielten die NAi-Preise 2008.

Dadurch spielt Architektur nicht nur eine ungewöhnlich starke Rolle im gesellschaftlichen Bewusstsein, sie ist auch weitaus weniger skulptural als anderswo. Zwar können auch die Niederländer mit einer ganzen Reihe von architektonischen Ikonen aufwarten – man denke an die Hochschule für Schifffahrt und Transport von Neutelings Riedijk am Rotterdamer Maasufer oder an den Pavillon aus gestapelten Landschaften von MVRDV für die Expo in Hannover. „Aber diese Tendenz ist bei uns weitaus schwächer als etwa in Deutschland“, erklärt Bouman. Er prophezeit auch für andere Länder eine „Vergesellschaftung der Architektur“ nach dem Vorbild der Niederlande. Auslöser sind die großen globalen Probleme wie Immigration, Vergreisung, Klimawandel oder Nachhaltigkeit: „Das führt zu neuen Formen und neuen Grundrissen. Viele junge Architekten gehen diese Herausforderungen an und suchen nach Lösungen.“

Und natürlich hat sich das NAi wiederholt mit dem Spannungsfeld zwischen Traditionalisten und Modernisten auseinandergesetzt. Nachdem letztere jahrzehntelang freies Spiel hatten, kommen nun Traditionalisten wie Rob Krier oder Sjoerd Soeters zum Zuge: „Natürlich geben wir auch ihnen ein Podium“, betont Bouman. „Bei uns finden alle Stimmen Gehör.“ Denn das NAi selbst bezieht niemals Stellung. Stattdessen wird versucht, sämtliche Gesichtspunkte zu berücksichtigen – bis auf die rein ästhetischen: „Die versuchen wir möglichst zu vermeiden, denn das reduziert Architektur auf ein Hobby und die Diskussion auf Pro und Kontra.

Damit ist niemandem gedient.“ Das sei zwar nicht immer leicht, „aber andererseits werden diese Spannungsfelder oft auch künstlich inszeniert“. Sjoerd Soeters etwa werde es nicht müde, bei Lesungen im NAi zu betonen, wie sehr ihm Kollegen die Arbeit und damit das Leben jahrzehntelang schwer gemacht hätten, aber wie sehr das Volk ihn liebe: „Das ist ein rhetorischer Trick.“

Noch viel schwerer seien andere Aufgaben – etwa die, das kulturelle Erbe in Ehren zu halten: „Wir besitzen das größte nationale Archiv weltweit, und das soll auch so bleiben.“ Doch inzwischen hat der Kunsthandel die Archive der Architekten entdeckt und wittert lukratives Geschäft: „Architekturmodelle werden immer mehr als Kunstwerke gesehen und dementsprechend teuer gehandelt“, weiß Bouman. Da kann das NAi nicht mithalten und muss deshalb verstärkt Überzeugungsarbeit leisten. „Immerhin haben wir drei Vorteile“, betont Bouman. „Bei uns bliebt ein Archiv komplett, es wird gut bewahrt und bleibt drittens späteren Generationen zugänglich.“

Ausblick und Rückblick: Bauen und Landschaft in Südlimburg zwischen 1750 und 2050 waren Thema der NAi-Schau „From Cuypers to Coenen“.

Ebenfalls nicht leicht ist der Spagat, einerseits dem wissenschaftlichen Anspruch gerecht zu werden, andererseits offen und attraktiv genug zu bleiben, um ein großes Publikum über die Schwelle zu locken. Allein das Wort „Ins­titut“ habe ja auf viele eine abschreckende Wirkung. „Dennoch kommen jedes Jahr 100 000 Menschen, darunter 35 000 Kinder!“ Damit es noch mehr werden, geht das NAi verstärkt Koalitionen ein, etwa mit dem Museum Boijmans van Beuningen oder dem Rotterdamer Philharmonischen Orchester. Auch wird verstärkt versucht, die Besucher aktiv einzubeziehen, etwa durch spezielle Workshops für Kinder oder Manifestationen wie „Maak ons Land!“ – „Mach unser Land!“: Bürger konnten Ideen und Verbesserungsvorschläge zur Neugestaltung ihrer Umgebung einreichen. „Wir sehen uns auch als Ideenmaschine!“, betont Bouman.

So ist vielen Niederländern inklusive der Regierung bewusst geworden, dass an der Verwahrlosung der Autobahngebiete etwas getan werden muss. Auch hat das NAi das sogenannte „Wilde Wohnen“ stimuliert: Private Bauherren gab es in den Niederlanden kaum; als Traum vom Eigenheim akzeptierte der Durchschnittsbürger bislang das, was ihm von Projektentwicklern in Neubauvierteln fix und fertig vorgesetzt wurde. Besonders stolz ist Bouman darauf, dass die Regierung die Bedeutung der Architektur für ihr Land ­inzwischen auch im Ausland ganz selbstbewusst erläutert: „Dass unser Kronprinz in Abu Dhabi oder Brasilien über ­Architektur zu reden beginnt, ist zu einem großen Teil unser Verdienst!“

Auch das NAi selbst genießt im Ausland inzwischen große Bekanntheit, da es weltweit Debatten organisiert. Direktor Bouman jettet für Lesungen durch die ganze Welt. Einem Thema will er sich dabei in der nächsten Zeit ganz besonders intensiv widmen – mit dem Ziel, die Politiker Europas wach zu rütteln: den EU-Regeln für Architekturwettbewerbe. „Junge Talente kommen dadurch weniger zum Zuge“, klagt er. In den Niederlanden sei das anders: „Im Ausland sitzen junge Architekten lange im Wartezimmer, erst mit dem Alter kommen Macht und schöne Aufträge. Bei uns hingegen reicht eine gute und originelle Idee.“

Damit jedoch ist es nicht mehr getan: Die EU setzt auf Sicherheit und damit auf Konformität: Wer bei Wettbewerben mitmachen will, muss Erfahrung und sich spezialisiert haben, etwa auf den Bau von Schulen oder Krankenhäusern. Für die Architektur sei das tödlich: „Kreativität ist ein Gut, das ein Institut wie das NAi verteidigen muss!“ Immerhin werde dadurch ein weiteres Element bedroht, das die Stärke der niederländischen Architektur ausmache: das Spielerische. „Eine gewisse Form von Anarchismus ist bei uns die Basis für so manche Karriere.“

Kerstin Schweighöfer ist Journalistin in Den Haag.

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