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[ Zeitgenossenschaft ]

„Wir brauchen mehr Toleranz“

Für den Architekturtheoretiker Ullrich Schwarz drücken Zaha Hadid und das Berliner Schloss gleichermaßen unsere Zeit aus. Eine komplexe Gesellschaft verlangt unterschiedlichste Bauformen.

Interview: Roland Stimpel

Momentan gehen Begriffe um wie digitale Moderne, globale Moderne oder virtuelle Moderne. Was halten Sie von solchen Ansätzen, Zeittrends mit zeitgenössischer Architektur widerzuspiegeln?

Das zu versuchen wäre sehr naiv. Wer es anstrebt, unterschätzt die Komplexität und Widersprüchlichkeit der gesellschaftlichen und kulturellen Situation. Es gibt ja nie nur einen einzigen Zeittrend, also kann man das Zeitgenössische oder Zeitgemäße nicht auf ein bestimmtes Phänomen oder eine Ausdrucksform reduzieren.

Sollte Architektur die Phänomene ihrer Entstehungszeit zu ignorieren versuchen, weil die Aufgaben so schon kompliziert genug sind?

Sie sollte jedenfalls keinen entsprechenden formalen Ausdruck suchen, der versucht, den Zeitgeist abzubilden. Das geht methodisch nicht; es führt zur reinen Beliebigkeit und zu einer Trendarchitektur mit einer ganz kurzen Halbwertzeit. Man nehme nur die angeblich zeitgerechte Architektur für die nomadische Lebensweise. Für die sind dann Häuser erfunden worden, die aussahen wie Campingzelte – als wenn die meisten Menschen alle paar Tage den Wohnort wechseln würden. Das ist ja gar nicht der Fall, aber darauf kommt es der Trendarchitektur auch nicht an. Wichtig ist nur ein cooler Marketingsound.

Gibt es denn für Sie eine zeitgemäße Architektur?

Nicht nur eine. Wir haben heute einen extremen Pluralismus mit allen Stilausprägungen, die man sich nur vorstellen kann. Technisch wie ästhetisch ist alles machbar, solange es jemand bezahlen will. Zaha Hadid kann unsere Zeit ausdrücken, aber auch das rekonstruierte Berliner Schloss. Beide verkörpern natürlich etwas sehr Unterschiedliches, aber beide wurzeln in unserer heutigen Situation, und das eine zeigt nicht nur das Gestern und das andere nur das Heute oder gar das Morgen. Da können wir nicht einfach sagen: Dieses oder jenes ist näher an der Jetztzeit dran, ist zukunftsweisender und soll der dominante Ausdruck der Zeit sein.

Stattdessen brauchen wir mehr Gelassenheit und Toleranz für Vielfalt und Differenz. Diese werden noch größer, weil Stilismen heute vom Ausdruck gesellschaftlicher Situationen getrennt sind. Hippe junge Berliner lieben den Stuck der Kaiserzeit. Die eindeutige gesellschaftliche Konnotierung von allen möglichen Phänomenen lässt drastisch nach. Die einfache Unterteilung in Fortschritts- und Rückschrittszonen ist auf der stilistischen Ebene unmöglich geworden.

Sehen Sie noch eine Avantgarde?

Der Zeitpfeil, der in die Zukunft zeigt und den wir als Fortschritt bezeichnen, gab früher in der Theorie ein gutes Beurteilungskriterium ab. Das Neuere, Modernere war immer das potenziell Bessere. Wir sind aber heute von diesem eindimensionalen Verständnis weit abgerückt. Wir wissen, dass die Moderne uns viele Verbesserungen im Leben beschert hat und das auch weiter tun wird, dass sie aber gleichzeitig und systemnotwendig viele Probleme erzeugt hat und auch noch erzeugen wird. Diese Ambivalenz ist uns heute viel deutlicher als vor 40 oder 50 Jahren.

Hat diese Ambivalenz die Sehnsucht nach Gestrigem erzeugt?

Die Rückkehr zu Architekturformen der Vergangenheit ist ein Teil der heutigen Vielfalt und nicht per se rückschrittlich. Ich halte diese für absolut legitim, sie sind eine von vielen Wahlmöglichkeiten, man darf sie nur nicht zu ernst nehmen. Die sogenannten modernen allerdings auch nicht. Wenn es nicht mehr die eine einzige, zeitgemäße Form gibt, sind alte Formen auch nicht prinzipiell schon unzeitgemäß.

Sogar Rem Koolhaas wohnt privat in einem alten Haus und ist deswegen nicht zu einem Reaktionär geworden. Problematisch wird es aber bei der Behauptung, mithilfe bestimmter architektonischer Formen könne man zu neuen festen Regeln, Konventionen und Sicherheiten kommen – beim Bauen oder gar in der ganzen Gesellschaft. Die Lebenslüge vieler Traditionalisten besteht darin, sich dieser Einsicht zu verweigern.

Halten Sie Rekonstruktionen für zeitgemäß?

Selbst wenn man annehmen würde, bei Rekonstruktionen könnte alles haarklein wiederhergestellt werden, entstehen doch Gebäude von heute – wenn Sie so wollen, mit einer zeitgenössischen, zeitgemäßen Nutzung. Auch das Berliner Schloss wird in allen Aspekten ein Gebäude des 21. Jahrhunderts. Anders wäre es, wenn ein Gebäude nicht für heutige Zwecke, sondern komplett als Museum für die Darstellung früherer Lebensformen genutzt würde. Dann müsste man aber auch die Innenräume komplett wiederherstellen. Hierfür gibt es jedoch nicht die geringsten Finanzierungschancen; es gäbe bei einem Projekt wie dem Schloss dafür auch keine Bundestagsmehrheit. Insofern bleibt die Sehnsucht nach dem Gestern auch architektonisch an der Oberfläche. Es genügt der Schein, die Anmutungsqualität.

Wie sehen Sie das Projekt aus Hamburger Distanz?

Ich bin wirklich kein Anhänger des Wiederaufbaus – aber ich bin auch kein dezidierter Gegner. Wir erleben ja nicht mit der Wiedereröffnung des Schlosses die Wiedergeburt des Preußentums oder vordemokratischer politischer Strukturen. Solche Frontlinien existieren nur noch in der Einbildung mancher Leute. Es gibt ja nicht mehr die unzweideutige Verbindung bestimmter architektonischer Formen mit dem Gestrigen oder mit dem Morgen. Und man steht nicht mit modernen Formen per se auf einer politisch oder moralisch richtigen Seite.

Welche Rolle spielt für Sie die Authentizität oder Nichtauthentizität von Rekonstruktionen?

Was da entsteht, sind zeitgenössische Gebäude. Wir wissen um die Zerstörung und nehmen sie als Rekonstruktion wahr, mit einem sentimentalischen Blick – ich verwende diese Schillersche Kategorie. Allein die neue Nutzung wird jede Verwechslung mit dem historischen Original unmöglich machen. Um Authentizität mag es Kunsthistorikern und Denkmalpflegern gehen, den allermeisten Traditionalisten nicht. Auf die Details kommt es so genau nicht an. Ein authentischer Wiederaufbau des Berliner Schlosses wäre aus verschiedensten Gründen auch gar nicht möglich.

Gibt es für Sie gute und schlechte Rekonstruktionen?

Man kann jede Art von Stilistik besser und schlechter machen – ob nun Glas, Stahl, Flachdach oder historischer Stil. Deswegen empfehle ich, von dogmatischen Positionen wegzukommen und im Einzelfall hinzusehen. Zum Beispiel sehe ich das Braunschweiger Einkaufszentrum mit Schlossfassade mit äußerster Skepsis. Das ist eine Art von Selbstparodie.

Zwischen Rekonstruktionsbefürwortern und -gegnern geht es oft hart zu – gerade auch jetzt wieder.

Ich plädiere für einen gelasseneren Umgang miteinander. Angebliche Frontlinien sind in Wirklichkeit künstlich und führen uns nicht weiter, weil sie nur mit der Form argumentieren. Der Grundirrtum auf beiden Seiten besteht in der Annahme, dass bereits die Form einen Inhalt produziere.

Vor allem Verfechter traditioneller Architektur verlangen strengere Konventionen. Was halten Sie davon?

Ich halte Konventionen darüber, wie zu bauen sei, weder für realisierbar noch für wünschenswert. Wir sind heute bereit, mit Paradoxien, Widersprüchlichem und Ungleichzeitigkeiten zu leben und goutieren das sogar. Gerade Jüngere sind hier weniger belastet und können Dinge in einer Art kombinieren, bei der es 60- oder 70-Jährige schütteln würde.

Differenzen anerkennen: BMW-Werk von Zaha Hadid in Leipzig (oben), Entwurf von Patzschke & Patzschke für den Leipziger Platz in Berlin.

Plädieren Sie für schrankenlose Gestaltungsfreiheit, also auch Beliebigkeit?

Nein. Die Grenzen setzt der jeweilige Ort. Das darf nun aber nicht nur im Sinne eines formalen Kontextualismus verstanden werden. Der Ort ist vor allem auch ein soziales Phänomen. Es müssten projektbezogen immer spezifische Öffentlichkeiten hergestellt werden. Die Diskussion über Grenzen muss immer wieder neu vor Ort offen ausgetragen werden – und zwar jenseits aller Dogmatik.

Also Bau-Basisdemokratie?

Ich denke, man kann hier keine Volksbefragung durchführen. Der reine Populismus hilft nicht weiter. Ebenso wenig das Gegenteil – eine Geschmacksdiktatur von Einzelnen oder elitären Zirkeln. Architekten dürfen nicht die paternalistische Rolle einnehmen und mit dem Argument operieren, die Bürger seien nicht gebildet genug und verstünden nichts vom Thema. Eine solche Haltung führt zu nichts anderem als einer Vergrößerung der ohnehin schon bestehenden Verständigungsprobleme.

Wo sehen Sie die ideale Mitte zwischen Basisdemokratie und Elitediskussion?

Das hängt vom Einzelfall ab. Immer aber müssen Kommunen und Bauherren den Mut haben, überhaupt solche Diskussionen zu führen. Sie können nicht auf dem Marktplatz stattfinden, aber sie müssen öffentlich zugänglich und immer auch fachlich substanziell sein. Es geht ja; es gibt dafür Beispiele genug. Ich würde auch die Aufgabe der Stiftung Baukultur darin sehen, solche Prozesse zu fördern und anzuschieben. Wir brauchen keine Institutionalisierung des Architekturgewissens, sondern wir brauchen ernst gemeinte Formen der Beteiligung und der Kommunikation.

Wer soll am Ende entscheiden?

Wer dazu demokratisch legitimiert ist. Ich vertraue dabei immer noch der Kraft des besseren Arguments. Aber damit dieses dann auch akzeptiert wird, muss man die entscheidenden Diskussionspartner mit ihren gegensätzlichen Positionen zu bestimmten Projekten an einem Tisch zusammenbringen.

Altstadtverein und Avantgarde an einen Tisch – und dann herrscht Harmonie?

Ganz harmonisch laufen die wenigsten Diskussionen über wirklich relevante Fragen in unserer Gesellschaft ab. Streit wird sich nicht immer vermeiden lassen. Man wird bestimmte Gegensätze auch durch Diskussion nicht auflösen können. Das darf niemanden abschrecken. Die Fortführung der Debatte bei gleichzeitiger Anerkennung der Differenzen gehört nun einmal zum demokratischen Handwerk.

Prof. Dr. Ullrich Schwarz lehrt Architekturtheorie an der HafenCity Universität in Hamburg, ist Geschäftsführer der Hamburgischen Architektenkammer und war Vorsitzender des Fördervereins Bundesstiftung Baukultur.

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