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Tod eines Bauleiters

Täglich neue Widrigkeiten, enge Termine, aggressive Nachbarn und empfindliche Bauherren – eine alltägliche Situation bei vielen Projekten. Doch beim Architekten H. führte der Problemdruck zur Katastrophe. War sie vermeidbar?

Roland Stimpel

Aus einem Brief an die Redaktion:

Im Januar dieses Jahres habe ich meinen Mann, der als Architekt im Angestelltenverhältnis gearbeitet hat, verloren. Er hat sich das Leben genommen, da er mit der immensen Verantwortung, die auf ihm als Projekt- und Bauleiter einer großen und schwierigen Baustelle gelastet hat, nicht mehr fertig geworden ist.
Ich frage mich, ob man den Architekten eigentlich immer noch mehr Verantwortung aufbürden kann und darf. Die Grenze der Belastbarkeit, zumindest bei sensiblen und zuverlässigen Menschen, scheint mir erreicht zu sein. Vielleicht wäre es an der Zeit, sich einmal Gedanken zu machen, wie man Architekten vor zu großer Verantwortung und Belastung schützen könnte.
M. G.-H.

H.s letzte Baustelle lag an einem kleinen Platz in der heimatlichen Altstadt: Bürgerpalais, ein Denkmal, ein Museum. Nebenan, noch halb unter Baugerüsten versteckt, der Eingang zu einem Allerwelts-Filialladen. Wer dessen 2 000 Quadratmeter große Warenwelt durchschreitet, kommt auf der anderen Seite des Blocks an einer aufgefrischten Nachkriegsfassade hinaus. Alles entstaubt und ein bisschen fein hier, doch vor dem scheinbar fertiggestellten Haus ein Betonmischer ganz links und ein Schuttcontainer ganz rechts, die wirken wie vor Längerem vergessen.

Sie sind hier die letzte Erinnerung an ein Bauprojekt mit all seinen Konfliktherden, Unvereinbarkeiten und Reibungsflächen, das der Architekt H. äußerlich souverän bewältigte – bis zum eigenen Zusammenbruch. H., seit mehr als 20 Jahren im Beruf, war Bauleiter mit rationaler Leidenschaft: Ärgerliche Handwerker beschwichtigte er durch seine ausgleichende Art.

An technischen Herausforderungen wuchs seine technische Pfiffigkeit. Drohten sich Polier, Nachbar und Baubeamter unterm Kran zu zerstreiten, wusste er den für alle akzeptablen Kompromiss. Das Beherrschen von Menschen interessierte ihn nicht; das Beherrschen eines Prozesses war sein Stolz und Genuss – und Selbstbeherrschung eine Selbstverständlichkeit. Seinem Ex-Chef, dem Architekten K., fällt zu ihm immer wieder das Prädikat „souverän“ ein. „Strukturen schaffen, das konnte er.“

Aber auch so einer wurde 2003 in der großen Baukrise arbeitslos. Eine Mitsängerin im Chor empfahl ihm daraufhin ein Büro, das immer noch zu tun hatte. Dessen Chef K. war ein ganz anderer Typ Architekt als H.: Entwerfer mit einem Kopf voller Bilder, eloquenter Erklärer und Verkäufer seiner Projekte und mutiger Anschieber, der sicher war, dass sich die zunächst ungeklärten Detailprobleme später irgendwie lösen würden. Aber keiner, der seine Leute damit zynisch allein lässt: „Mit einem Problem konnte man immer zu ihm kommen“, wusste bald auch H.s Frau.

Der neue Chef

hatte auch in der Krisenzeit drei Büros mit 20 Architekten. Als H. zu ihm kam, hatte er zwar nicht sofort Verwendung für ihn, stellte ihn aber am nächsten Tag ein. Und trotz allem, was später geschah, sagt seine Witwe heute: „Ich bin Herrn K. ewig dankbar, dass er ihn damals eingestellt hat.“ Der erinnert sich: „Er hat im Büro sehr bescheiden begonnen. Durch seine Kompetenz sind seine Aufgaben rasch komplexer geworden.“ Bald bekam er die Gesamtleitung über ein Multimillionenprojekt im Herzen einer anderen Stadt.

„Da habe ich seine Souveränität in Extremsituationen bewundert. Er fing vieles auf, egal ob fachlich oder emotional, egal ob vom Projektsteuerer oder Oberbürgermeister.“ Selbst als dann einige Zeit später der Bauherr das Architekturbüro hinauswarf, bewahrte H. seine Ruhe. Jeder andere wäre in dem Moment durchgedreht. „Er hat alles ganz korrekt abgewickelt und die Projektleitung pflichtbewusst abgeschlossen.“

Wieso überstand H. das Projekt damals so gut? Sein früherer Chef erklärt das so: „Er hatte durch das schlechte Benehmen anderer Ventile, durch die er kontrolliert Dampf ablassen konnte. Entweder direkt im Kontakt mit ihnen oder zumindest hinterher, wenn er seine verständliche Abneigung ausleben konnte.“ Später in der heimischen Altstadt fehlten diese Ventile – ein am Ende tödlicher Druck baute sich auf.

Kern dieses Altstadtprojekts war ein früheres, jetzt leer stehendes Kaufhaus, das sich quer durch den Block zog – von der jahrhundertealten Fassade vorn bis zur jahrzehntealten hinten. Der Entwurf von H.s. Chef bewahrte die Markt- und Museumsseite in den Formen der Altstadt; an der Einkaufsstraße frischte er die Nachkriegsmoderne auf. Im Innenhof schuf er eine intime moderne Wohnwelt. Und nicht zuletzt viel Ladenraum, unentbehrlich für Mietertrag und Projektfinanzierung.

Dieser Raum musste am schnellsten entstehen. Das Büro hatte den Auftrag nicht nur für den stimmigen Entwurf, sondern auch für den ehrgeizigen Zeitplan bekommen: Im September lief die Ausführungsplanung an. Im Oktober begann der Bau, im Februar sollten die beiden Läden öffnen. Die vom großen Filialisten mitgebrachten Ladenbauer sahen sich die einstigen Kaufhausräume an und meinten: Vier Monate – kein Problem. Wobei sie aber nur ihre Erfahrungen mit Umbauten sahen und nicht die Konflikte, die in einem so komplizierten Umfeld drohten.

Auch H. fing besten Mutes an. Zum nächtlichen Aufstellen des Krans nahm er von der Chorprobe seine Frau mit und blieb draußen in der Kälte bis Mitternacht. Vergessen war da ein Warnzeichen, das zuvor geblinkt hatte: Er hatte für das Vorhaben einfach keinen Generalunternehmer gefunden. Alle seriösen Firmen waren vor dem Zeitplan zurückgeschreckt.

In der ersten Baubesprechung

deutete sich schon an, was in den nächsten Monaten kommen würde: Während die Ladenleute an den Ausbau gingen, tobten ringsum erstmal Abbruch und Entkernung. H.s Witwe erinnert sich: „Ich bin mit meinem Mann auf vielen Baustellen gewesen – aber keine sah so kompliziert aus und wirkte so chaotisch.“ Ihr Mann sackte immer tiefer in die Arbeit. Er lebte auf der Baustelle. Manchmal schien Murphys Gesetz zu gelten: Was immer schief gehen konnte, ging schief – ein übergroßer Trafo, ein falscher Leitungsplan der Stadt, eine für die Statik untaugliche Giebelwand und ein Stahlträger, der deshalb durch den schon halb ausgebauten Laden getrieben werden musste. Ringsum Straßen, die ohnehin eng waren, und dann auch noch ein Weihnachtsmarkt. Putz, der im Museum von der Wand fiel, ein Glastonnendach, über das kein Kranarm schwenken durfte, und Handwerker, die sich so bekriegten, dass eine Firma der anderen für ihr Terrain ein Hausverbot verpasste.

H. fand zwar stets einen Ausweg. Doch der Berg von Schwierigkeiten wuchs unablässig. Und um den Zeitplan zu retten, hätte er für jedes auftretende Problem die Lösungen sofort parat und sofort realisiert haben müssen. Alles andere brachte Verzug, und hinten häuften sich immer neue Sorgen an. Der Zeitplan schien längst Altpapier. Doch H.s Witwe weiß aus späteren Gesprächen mit vielen Kollegen: „Trotzdem haben alle verbissen weitergearbeitet und die Illusion erhalten, es sei noch zu schaffen.“

Vor allem H., für den die Berufsrolle längst ein wichtiger Teil der Persönlichkeit war. Überschrittene Bauzeit oder ein gepfuschtes Projekt sah er nicht als bedauernd hinzunehmende Äußerlichkeiten, sondern als Bedrohungen seiner Selbstachtung. Und seiner Achtung durch Dritte. „Ich möchte auch nach diesem Projekt aufrecht durch die Stadt gehen können“, beschwor er an einem der vielen Tiefpunkte sich selbst und seine schwindende Energie.

Hätte er nicht zu seinem Chef gehen und ihn bitten müssen, das Ganze zu entzerren? Das wäre H. wohl wie Kapitulation vorgekommen; er wollte nicht den ersten Schritt dazu tun. „Hätte er da den Mund aufgemacht, er wäre sich als Versager vorgekommen“, meint seine Witwe. Und sein Chef selbst blieb trotz allem Optimist. Als „Berg- und Talfahrt“ bezeichnete er das Projekt. Da ist jeder Absturz nur die Vorstufe für den kommenden Aufstieg. Bald nach Beginn war der geplante Eröffnungstermin um eine Woche verschoben worden; dabei blieb es. Die kleinere Ladenkette gab zwischendurch fröhlich bekannt, dass sie dagegen zwei Wochen früher starten wolle als geplant.

Der Druck auf H. wuchs

Auf paradoxe Weise verschärften ihn die Bauherren: kein cooler Immobilien- oder Handelskonzern, den ein Terminverzug bloß ein paar Renditepromille gekostet hätte. Auch kein Peitschen schwingender Privatkunde wie in der anderen Stadt. Sondern, so sagt es der Chef, „eine extrem liebe Bauherrschaft“. Es waren Stadtbürger, die ihr Privatvermögen investierten und riskierten – das Projekt hätte sie ruinieren können. Doch sie zeigten Verständnis für Probleme, lobten ein ums andere Mal den tüchtigen Bauleiter. Und das war in diesem Fall tragisch falsch, meint der Chef: „Er hat sich dadurch noch mehr in der Pflicht gefühlt. Der Druck wurde noch stärker, und er fand nichts, womit er ihn hätte senken können.“ Und er seufzt: „Hätte er nur einmal mit der Faust auf den Tisch gehauen – es hätte ihn retten können.“

Irgendwann kam ein zweiter Bauleiter dazu, doch H. blieb Ansprechpartner und Kümmerer für alle und alles. Da wurden Dachgauben, anders als geplant, nicht im Werk gefertigt, sondern mussten vor Ort handmontiert werden. Da fehlte ein Gutachter, der die Brandschutzabnahme hätte vorbereiten müssen. Da drohte der Januar-Orkan Kyrill, auch diese Baustelle zu verheeren. H. sicherte alles; der Sturm schadete nicht.

Äußerlich wirkte H.

bis zum Schluss angestrengt, aber beherrscht und konzentriert. „Ich hatte das Gefühl, dass er bis zum Schluss strukturiert gedacht hat“, sagt seine Frau. Nach dem Orkan fuhr er zum Chor, seine Frau chauffierte ihn vom Büro direkt dorthin. Doch am Montag kehrte der Alltag bedrohlich zurück. Beim Frühstück las er in der Zeitung vom Streit um die Querstrebe, die beim Orkan vom Berliner Bahnhof gestürzt war. Und draußen sah er den dichten Schneefall, der die Arbeit an den Gauben unmöglich machte und zu besiegeln schien, was H. als sein eigenes Scheitern sah. Er verließ das Zimmer. Minuten später war er tot.

Gab es andere Gründe für einen Selbstmord? Äußere kennt keiner; H. lebte privat solide und zufrieden. Und falls es innere gab, konnten sie nur zusammen mit dem ungeheuren Druck wirken, den H. empfand. Dabei hatte er alles im Griff gehabt, was er nur im Griff haben konnte. Noch am Abend zuvor hatte er Checklisten für die Handwerker geschrieben. „Er wirkte völlig konzentriert, extrem gespannt, aber kein bisschen fahrig“, erinnert sich sein früherer Chef. Doch als H. plötzlich glaubte, jetzt würde alles über ihm einstürzen, zerbrach er selbst.

Auf der Baustelle ging nach kurzer Schreckenspause das hektische Leben weiter. Doch in der nächsten Zeit fassten sich alle wie rohe Eier an. H.s Verantwortung wurde auf mehr Schultern verteilt. Bei Stockungen, Pannen und Verzögerungen hatte plötzlich jeder für den anderen Verständnis. Doch ein Freund H.s sieht keine nachhaltige Wirkung: „Nach einer Weile ist der Schock weg. Man setzt dann die Termine genauso kurz und geht wieder genauso blauäugig heran.“

Wozu das Projekt in der Altstadt am Ende auch noch auf makabre Weise Ermutigung bot: Drei Wochen nach H.s Tod war es zwar in vielen Details nicht so weit, wie es Monate zuvor so knapp und ehrgeizig geplant worden war. Doch der 2 000-Quadratmeter-Laden, der bauliche und wirtschaftliche Kern des Ganzen, eröffnete pünktlich.

Da es um den tragischen Verlauf geht und nicht um persönliche Details, sind Namen und Orte anonymisiert.

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