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[ Mobilität ]

Bringt Corona die Verkehrswende? Beispiele und Hindernisse

Freiraum und Bewegung an der frischen Luft sind wichtiger denn je. Die Bilder von vollen Parks und leeren Straßen haben 2020 noch mal vor Augen geführt, wie ungleich der öffentliche Raum immer noch verteilt ist – zugunsten der Autos, nicht der Bürger. Doch Corona allein schafft die Verkehrswende nicht

Kinder spielen auf Spielstraße
Mittwochs mal andersrum: Temporäre Spielstraßen (hier in Berlin-Kreuzberg) erhöhen das Angebot für Familien enorm.

Dieser Beitrag ist unter dem Titel „Pop-up, Pop-down?“ im Deutschen Architektenblatt 01.2021 erschienen.

Von Friederike Meyer

Es war ein Sonntagmorgen im April 2020, als ein Mann mit gelber Weste in Berlin-Mitte ein Sperrschild auf die Straße schob: „Spielstraße 13–19 Uhr“. Es war die Zeit des ersten Lockdowns, die Parks waren übervoll, alle sehnten sich nach Bewegung an frischer Luft. Wenig später rollten Dreiräder übers Straßenpflaster, malten Kinder Kreideblumen, spielten Fangen um die parkenden Autos. In diesem Moment wurde mir klar: Die Pandemie, die so vieles im Alltag verändert hat, lässt auch den öffentlichen Raum in anderem Licht erscheinen.

Ungerechte Aufteilung der Straßen

Alte Fragen wirkten plötzlich aktueller denn je. Warum dürfen all die Autos einfach auf der Straße parken, während sich alle anderen Fahrzeuge, die Fahrräder, Roller und Scooter, gemeinsam mit den Fußgängern auf dem Bürgersteig drängen? Warum gibt es so wenig sichere Radwege, sodass ich mit meinem Kind auf den Fußweg ausweichen muss, um zur Schule zu radeln? Und warum muss eine Bekannte, die an der großen Straße wohnt, den Feinstaub meines Nachbarn ertragen, der lieber mit dem Auto zur Arbeit fährt, weil ihm die U-Bahn zu dreckig ist?

Derzeit ist viel zu lesen über Menschen, die in der Krise mehr Rad fahren, über Restaurants, die im Sommer auf umgewidmeten Parkplätzen vor ihrer Tür Gäste bewirteten, über Pflanzenkübel, die Pop-up-Fußgängerzonen markieren. Die Bilder und euphorischen Texte vermitteln mitunter den Eindruck, jetzt sei sie endlich da, die Verkehrswende. Doch die Corona-Situation katalysiert lediglich einen längst überfälligen Prozess: die Debatte um die Neuverteilung des öffentlichen Raums in den Städten.

Autofreie Superblocks in Barcelona
In großem Maßstab: 2030 will Barcelona im Zentrum fast autofrei sein.

Reichere Haushalte besitzen mehr Autos

Es braucht nur wenige Zahlen, um die Schieflage zu verdeutlichen. Laut Kraftfahrtbundesamt stieg die Zahl der zugelassenen Pkw zwischen 2010 und 2019 in Deutschland um zwölf Prozent von durchschnittlich 509 auf 569 Pkw pro 1.000 Einwohner. Die Pkws werden immer größer, ohne dass darauf besondere Steuern erhoben werden. In Bezug auf die Haushaltseinkommen ist Autofahren ungleich verteilt. Während 53 Prozent der Haushalte mit sehr niedrigem Einkommen keinen Pkw besitzen, sind es bei hohem Einkommen lediglich acht Prozent, heißt es in einem Positionspapier des Umweltbundesamtes vom August 2020.

Andersherum sind Menschen mit niedrigen Einkommen, die oft an viel befahrenen Straßen wohnen (müssen), ebenso wie Kinder oder ältere Menschen stark mit Emissionen belastet, die sie selbst gar nicht verursachen. Hinzu kommt: Es sind die Besserverdienenden, die von umweltschädlichen Subventionen im Verkehr, wie etwa dem Dienstwagenprivileg, profi­tieren. Teilte man den Straßenraum anteilig unter den Stadtbewohnerinnen und -bewohnern auf, wäre schnell klar, dass Fußgänger zu wenig Raum und Pkws überproportional viel beanspruchen.

Autofreie Superblocks in Barcelona
Geübt wird in Barcelona in „Superblocks“: Hier geben die Sperrung für den Durchgangsverkehr und ein Tempolimit von 10 km/h Fußgängern Vorrang.

Schlaraffenland für Autofahrer

Doch die Politik fördert das Schlaraffenland für Autofahrer auch in Zeiten der Pandemie weiter. Nicht nur, dass Bußgelder für Verkehrssünden im internationalen Vergleich noch immer erschreckend niedrig sind. Im Herbst 2020 hat der Bundestag erneut einen Antrag der Grünen für ein generelles Tempolimit von 30 km/h in Innenstädten abgelehnt. Und das, obwohl langsameres Fahren die Emissionen senkt und obwohl allein 2019 3.059 Menschen im Straßenverkehr starben.

Autos dürfen nicht nur ziemlich schnell fahren, sie dürfen auch fast umsonst parken. Und zwar auf öffentlichen Straßen. Den eigenen Pkw vor der Haustür abzustellen zu können, kostet in Berlin 10,20 Euro pro Jahr. In München und Stuttgart sind es 30 Euro, in Hamburg 25 Euro. Möglich macht dies die Gebührenordnung für Maßnahmen im Straßenverkehr (GebOSt), die eine Obergrenze von 30,70 Euro für Anwohnerparkausweise festlegt. Nach jahrelangem Protest aus den Kommunen hat der Bundestag im Mai 2020 endlich einen Gesetzentwurf verabschiedet, der die Länder und Kommunen ermächtigt, in Vierteln mit Parkplatzmangel den Preis für ­Anwohnerparkausweise selbst festzusetzen. Andreas Knie, Mobilitätsforscher am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung, schätzt, dass ein öffentlicher Stellplatz 5.000 bis 7.000 Euro pro Jahr kostet. Pro Pkw ­wären das rund 16 Euro am Tag.

Förderung von E-Mobilität und Fahrradverkehr

Die Auswirkungen der Corona-Maßnahmen und die Menschen allein werden den Anteil des Radverkehrs nicht nachhaltig steigern. Für die gerechte Verteilung des Straßenraums braucht es zuerst ein Umdenken bei der Flächennutzung des Straßenraums und dann auch Investitionen. Doch hier setzt die Bundespolitik keine eindeutigen Signale. Im November 2020 sagte der Bund angesichts der Pandemie erneut Unterstützung für die Autobranche zu. Drei Milliarden Euro sollen in eine Abwrackprämie für Lkws, Kaufprämien für E-Autos und einen Zukunftsfonds Automobilindustrie fließen.

Für den Ausbau der Rad­infrastruktur inklusive Förderung von Lastenfahrrädern und Fahrradparkhäusern an Bahnhöfen hingegen sind im Bundeshaushalt bis 2023 rund 1,46 Milliarden Euro vorgesehen – immerhin eine deutliche Steigerung gegenüber früher. Doch angesichts der Ergebnisse einer Studie, die Johannes Schlaich, Professor für Mobilität und Verkehr der Beuth Hochschule für Technik Berlin, für Greenpeace erarbeitet hat, ist das vergleichsweise wenig. Laut Schlaichs Rechnung würde eine sichere Radverkehrsinfrastruktur in den 30 größten deutschen Städten bei 2.747 zusätzlich benötigten Streckenkilometern rund 2,75 Milliarden Euro kosten.

3,2 km Autobahn statt 447 km Radwege

Noch ein Vergleich, der die Prioritäten verdeutlicht: Für Berlin ergäben sich laut Greenpeace-Studie bei 447 Kilometern Streckenbedarf Kosten in Höhe von 447 Millionen Euro, das sind 122 Euro pro Einwohner. Für die im Bau befindliche Verlängerung der Berliner Stadt­autobahn A 100 um 3,2 Kilometer werden aktuell 613 Millionen Euro veranschlagt, also 170 Euro pro Einwohner. Und das, obwohl fast 60 Prozent der Berliner Haushalte keinen Pkw besitzen.

Mariahilfer Straße in Wien
Die Mariahilfer Straße in Wien ist nach heftigen Diskussionen seit fünf Jahren ein erfolgreicher „Shared Space“. Auch hier haben Fußgänger Vorrang.

Vorbilder nicht mehr nur Niederlande und Dänemark

Der Blick ins Ausland zeigt, dass Verkehrspolitik auch anders gehen kann. Kopenhagen, Amsterdam, Utrecht und Oslo zum Beispiel haben es durch konsequentes kommunales Steuern ganz oben auf die Liste des „Copenhagenize Index“ der fahrradfreundlichsten Städte der Welt geschafft. Andere Länder und Städte haben die Pandemie zum Anlass genommen, weitreichende Beschlüsse zu fassen und mehr Flächengerechtigkeit zu schaffen. Im November 2020 zum Beispiel hat Großbritannien seine Ziele um fünf Jahre vorgezogen und den Verkauf neuer Benzin- und Diesel­autos ab dem Jahr 2030 verboten. Im Mai 2020 hat Brüssel sein Zentrum zur verkehrsberuhigten Zone erklärt, in der ein 20-Stundenkilometer-Tempolimit gilt und Fußgänger und Radfahrer Vorrang haben. Die Pariser Bürgermeisterin Anne Hidalgo lässt das Programm „Vélorution“, das unter anderem 650 Kilometer Radweg umfasst, nun beschleunigt umsetzen.

Die Stadt Barcelona geht die autobefreite Innenstadt jetzt im ganz großen Maßstab an: Bürgermeisterin Ada Colau verkündete im November 2020 die fast vollständige Befreiung der Innenstadt vom Autoverkehr in den kommenden zehn Jahren. 38 Millionen Euro habe die Stadt bereitgestellt, um ab 2022 Straßen und Plätze im Stadtteil „Eixample“ umzubauen. 21 Straßen seien dann nur noch für Anwohner und Dienstleister zu befahren, Radfahrer und Fußgänger hätten Vorrang. 33,4 Hektar Fußgängerfläche sollen neu entstehen, an den Kreuzungen Plätze mit Bäumen. Niemand solle künftig weiter als 200 Meter zur nächsten kleinen Grünfläche laufen müssen. Es sind nicht die ersten Nachrichten dieser Art aus der katalanischen Hauptstadt. Seit 2016 richtet man im Stadterweiterungsgebiet aus dem 19. Jahrhundert sogenannte Superblocks ein, definiert einzelne Bereiche im strengen Blockraster der Stadt, sperrt sie für den Durchgangsverkehr, verengt die Fahrspuren, begrenzt die Geschwindigkeit auf 10 km/h und gibt Fußgängern den Vorrang. Sechs dieser Superblöcke sind inzwischen etabliert, elf weitere in Planung.

Typisch deutsch: Widerstand der Autofahrer

In Deutschland hingegen provozieren selbst kleine Veränderungen im städtischen Verkehrsraum großen Widerstand und Protest. Um die Berliner Pop-up-Radwege vom Mai 2020 gibt es inzwischen juristischen Streit, gegen den bis 2021 temporär für Autos gesperrten Abschnitt der Friedrichstraße laufen die Händler Sturm. Solcherlei Auseinandersetzungen hat Wien lange hinter sich. Vor zehn Jahren kämpfte die ehemalige grüne Verkehrsstadträtin Maria Vassilakou für eine ­Begegnungszone auf der Mariahilfer Straße, in der Fußgänger Vorrang vor Fahrzeugen ­haben, und argumentierte gegen die Widerstände der Händler. Als die Umgestaltung im Sommer 2020 fünfjähriges Jubiläum feierte, war vom damals prophezeiten Untergang der Einkaufsmeile nichts mehr zu hören. Im Gegenteil: Angesichts des schwindenden Einzelhandels dürften diese Art Straßen krisenfester als andere sein, weil sie für alle Verkehrsteilnehmer ein angenehmes Einkaufserlebnis ermöglichen.

Autofreie Friedrichstraße in Berlin
Seit August 2020 sind 500 Meter der Berliner Friedrichstraße autofrei. Der fünfmonatige Verkehrsversuch soll die Attraktivität der Straße erhöhen.

Schnittstellen gestalten

Weniger Autos in der Stadt sind ein wichtiger Ansatz, das Leben gesünder und gerechter für alle zu machen. Die radikale Befreiung der Innenstädte vom Pkw-Verkehr muss aber auch die Folgen mitdenken. Die Probleme dürfen nicht einfach nur an die Innenstadtgrenze verschoben werden. Wer vor den Toren der Stadt oder in ihren Außenbezirken wohnt, ist meist auf das Auto angewiesen. Dort wächst derzeit so manches Neubaugebiet. Einen ÖPNV-Anschluss haben längst nicht alle. Dabei müsste das Ausweisen neuer Baugebiete an die Bedingung eben jenes Anschlusses geknüpft sein. Und es müssen attraktive Parkmöglichkeiten geschaffen werden. Solche, die mehr sind als Abstellregale für Blechkarossen.

Parkhäuser doppelt nutzen

Auch hier kommen gute Vorbilder aus dem Ausland. Zum Beispiel aus Dänemark. Das 2017 eröffnete „Parkhaus Lüders“ im neuen Kopenhagener Stadtteil Nordhavn liegt als Quartiersgarage wenige 100 Meter von der Metrostation entfernt. Es stapelt nicht nur Pkw, die sonst viele Tausend Quadratmeter öffentlichen Raums einnehmen würden, sondern bietet darüber hinaus auf dem Dach Platz zum Spielen und Sporttreiben samt Aussicht auf Hafen und Meer. Im Stadtentwicklungsgebiet South Harbour in Aarhus geht man noch einen Schritt weiter. Dort wird das derzeit entstehende Parkhaus als „Mobility Hub“ verstanden. Mit einer attraktiven Struktur aus Holz, in die auch ein Fitnessstudio, eine Galerie und ein Café einziehen sollen, will man die Menschen ermutigen, ihren Weg ins Stadtzentrum zu Fuß, mit dem Fahrrad oder mit dem Roller fortzusetzen.

Einmal mehr zeigen diese Beispiele, dass oberirdische Quartiersgaragen keine Platzverschwendung für potenziellen Wohnungsbau sind, wie so manche Investoren argumentieren. Im Vergleich zur Tiefgarage bieten sie die Chance für ergänzende Nutzungen und nicht zuletzt für einen Umbau, sollte es eines Tages tatsächlich weniger Autos geben.

Multifunktionale Quartiersgaragen in Kopenhagen
Multifunktionale Quartiersgaragen mit guter Anbindung an den öffentlichen Nahverkehr (hier: „Parkhaus Lüders“ im neuen Kopenhagener Stadtteil Nordhavn, JAJA Architects) sind eine attraktive Möglichkeit für weniger Blech im ­öffentlichen Raum.

Vom Klimawandel zum Klima des Wandels

Auf dem Weg zu klima- und gesundheitsfreundlicher Mobilität braucht es eine gute Balance zwischen Strafen und Anreizen, gesetzliche Änderungen ebenso wie eine Veränderung im Denken. Dabei ist nicht nur die Politik gefragt, sondern jede und jeder Einzelne. Mit den Corona-Maßnahmen ist es gelungen, Routinen zu durchbrechen und Gewohnheiten zu überdenken, sie haben emotionale Bilder der viel beschworenen Solidarität produziert. Doch das reicht nicht aus. Wir brauchen politischen Gestaltungswillen ebenso wie gebaute und gut gestaltete Räume, die Spaß machen und Symbolkraft entfalten.

Und wir brauchen die Einsicht der Autofahrer, dass ihre vermeintliche Freiheit auf vier Rädern ein von Bequemlichkeit getriebenes Interesse ist, das mit den Interessen vieler anderer kollidiert: dem Interesse an sauberer Luft und an Freiräumen in der Stadt. Mehr Menschen statt Autos auf den Straßen dürfen keine temporäre Corona-Erscheinung bleiben, die man – Pop-up, Pop-down – am Ende der Pandemie wieder auf den Fußweg verweist. Gemeinwohl im Stadtverkehr ist keine Selbstverständlichkeit und auch kein Problem der anderen. Gemeinwohl bedingt Verzicht auf Privilegien und braucht Vorbilder, die zur kritischen Masse werden.

Eine Bildergalerie zur Mariahilfer Straße in Wien zeigen wir ebenfalls auf DABonline, sowie außerdem eine Fotostrekce zu verkehrsberuhigten Kreuzungen in Mailand.

Weitere Beiträge finden Sie in unserem Schwerpunkt Perspektiven.

1 Gedanke zu „Bringt Corona die Verkehrswende? Beispiele und Hindernisse

  1. Vielen Dank für diese Einschätzung und den optimistischen Ausblick. Auch wenn es noch einige Überzeugubgsarbeit bedeutet, hoffe ich auf eine ausgewogenere und mehr auf den menschlichen Maßstab bezogene Planung.
    In dem Artikel oder ergänzend wäre noch die Darstellung von weiteren, realisierten Beispielen aus Deutschland interessant, um den Stand der Dinge zu sehen und auch einen Ansporn zu geben.
    Alles Gute für 2021!

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