Von Christoph Gunßer
Wer heute die Autobahn A4 an der Abfahrt Weimar verlässt, sieht linkerhand sogleich den seltsam spitzen Turm der Dorfkirche von Gelmeroda aufragen. Lyonel Feininger (1871–1956) entdeckte sie (vor dem Bau der Autobahn) auf seinen ausgiebigen Radtouren durch die thüringische Landschaft. Noch ehe er 1919 ans Weimarer Bauhaus berufen wurde, begann er das Motiv abzubilden: Zwischen 1906 und 1955 hat er es vierzigmal gezeichnet und zehnmal in großen Gemälden verarbeitet; außerdem gibt es Holzschnitte davon.
Durchlichtete Visionen zwischen Mittelalter und Moderne
Das bescheidene Kirchlein und die großartigen Kompositionen, die Lyonel Feininger mit der Zeit daraus gemacht hat (aus der Gemälde-Serie sind fünf bedeutende in der Kunsthalle Schirn zu sehen), bringt nur zusammen, wer den expressionistischen Zeitgeist mit Feiningers romantischer Veranlagung kombiniert – Kunsthistoriker ziehen tatsächlich eine Linie von Feininger zu Caspar David Friedrich.
Dass in den 1910er-Jahren Architekten wie Bruno Taut und Hans Poelzig den Kristall verherrlichten und Bauhaus-Gründer Walter Gropius von der Kathedrale der neuen Zeit sprach, macht Lyonel Feiningers Visionen verständlicher. Als Titelbild des ersten Bauhaus-Programms schuf Feininger 1919 den noch stark expressionistisch geprägten Holzschnitt „Kathedrale“ (siehe Bildstrecke).
Malerei mit Parallelen zur Musik
Lyonel Feininger selbst sah in seiner Malweise Parallelen zur Musik und sprach von der „Synthese der Fuge“, die in den facettierten, sich überlagernden Kompositionen zum Ausdruck komme. Und natürlich lernte Feininger während seiner Paris-Aufenthalte 1907 und 1911 den französischen Maler Robert Delaunay mit dessen orphischem Kubismus kennen, wenngleich er zeitlebens den Einfluss des Kubismus auf sein Oeuvre abstritt.
Lyonel Feininger in Museen und Wohnzimmern
Ihm fehlte darin die „Vergeistigung“, wie umgekehrt Feiningers Kunst bis heute in Frankreich und den USA bei weitem nicht so stark rezipiert wird wie hierzulande. In den 1920er-Jahren, damals war er in seinen Fünfzigern, hingen Feiningers Werke indes bereits in zahlreichen deutschen Museen.
Bis heute gilt seine Art zu malen ja als „wohnzimmertauglich“, was auch an der rein handwerklich reizvollen Schab- und Spachteltechnik sowie der subtilen, lichtvollen Farbabstufung liegt, die frei ist von jeder modernen Dogmatik, auch und gerade des Bauhauses mit seinen Primärfarben.
Als das Bauhaus nach Dessau umzog, ließ Lyonel Feininger sich denn auch von der lästigen Lehre freistellen und bewohnte nur noch eines der neuen Meisterhäuser, wo er in eigener Sache kreativ war (er komponierte sogar mehrere Fugen). Aus dieser Zeit stammen – erst kürzlich entdeckte – Fotografien des nächtlichen Bauhaus-Gebäudes. Tatsächlich öffnete Feininger sich nur zögernd der neuen Technik.

Von Old Germany zurück nach New York
Lyonel Feiningers Faible für alte Ortsbilder – er verewigte zahlreiche weitere Dörfer, aber auch das noch „heile“ Halle an der Saale, wo er von 1929 bis 1931 eine Art artist in residence war – rührte aber sicher auch von seiner amerikanischen Prägung her: Er wuchs in Manhattan als Sohn eines deutschen Musikerpaares auf. Mit sechzehn Jahren sollte er in Deutschland sein Violin-Studium fortsetzen, blieb jedoch durch Zufall bei der bildenden Kunst hängen. Die amerikanische Staatsbürgerschaft aber behielt er.
Erst 1937, als die Feiningers in Deutschland zunehmend Anfeindungen ausgesetzt waren, emigrierte Lyonel mit seiner zweiten Frau Julia Berg – einer jüdischen Künstlerin – und den drei Söhnen in die USA, Bald darauf sollten seine Werke in Deutschland aus den Museen entfernt und als „Entartete Kunst“ polemisch präsentiert werden.
Die Rückkehr in die Stadt seiner Jugend fiel zunächst schwer. Immer wieder verarbeitete er deshalb frühere Skizzen, ehe ihm Anfang der 1950er-Jahre endlich mehr Anerkennung zuteilwurde. So entdeckte er die Häuserschluchten Manhattans als Motiv, sowohl in der Malerei als auch fotografisch.

Karrikaturen, Spielzeug und Dias
Die Ausstellung in Frankfurt, hierzulande die erste Feininger-Retrospektive seit 25 Jahren, zeigt 160 Arbeiten, darunter viele „architektonische“ Hauptwerke, deren Genese aus Skizzen gut nachvollziehbar ist. Daneben gibt es lustige, aber arg zeitgebundene Karikaturen aus frühen Jahren, einige der wundervollen, nebulös-geheimnisvollen Seestücke, die Feininger in seinen vielen Urlauben an der Ostsee schuf, für seine Söhne geschnitztes Holzspielzeug sowie eine kleine Schau später Dias aus New York.
Wie die „neue Altstadt“ vor der Tür der (nach bald vierzig Jahren Nutzung baulich ziemlich maroden) Schirn bezeugt, teilt man in Frankfurt Lyonel Feiningers Faible für spitze Giebel und krumme Gassen – nur, dass der Künstler sie im Vorkriegsdeutschland im Original und nicht als skurriles neuzeitliches Pastiche bewundern konnte.
Die Ausstellung „Lyonel Feininger“ ist bis 18. Februar 2024 in der Kunsthalle Schirn in Frankfurt am Main zu sehen.
Zur Ausstellung ist der umfangreiche Katalog „Lyonel Feininger“ im Hirmer Verlag erschienen. Er kostet in der Kunsthalle 39 Euro, im Buchhandel 49,90 Euro.