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Die neue Emscher: Ein Fluss zwischen Industrie und Natur

Nicht erst seit 2018 die letzte Zeche schloss, bemühen sich die öffentlichen Hände um die Reparatur der Bergbaufolgeschäden. Ein opulenter Sammelband zeigt die Sanierung einer Landschaft, die trotz viel neuem Grün immer künstlich bleiben wird

von Christoph Gunßer

Karl Ganser, der unlängst verstorbene ehemalige Geschäftsführer der IBA Emscher Park, war überzeugt, Landschaft könne „nur vor dem beliebigen Zugriff wirtschaftlicher Interessen bewahrt werden, wenn sie durch Gestaltung tabuisiert wird“. Gut dreißig Jahre nachdem mit der IBA der – damals noch punktuelle – Umbau der bereits vielfach kaputtgewirtschafteten Emscherzone begonnen wurde, ist mit dem über fünf Milliarden teuren Bau neuer unterirdischer Kanäle und Klärwerke auch deren wasserbautechnische Sanierung abgeschlossen, und die weitere Gestaltung gewinnt Kontur.

Vernetzung und eine neue Hinwendung zum Wasser

Über renaturierte und künstlerisch gestaltete Teilbereiche der nun abwasserfreien Gewässer hinaus wächst damit etwas, das der geschundenen, von den Claims der Montan-Interessen zerstückelten Region bislang abging: Vernetzung, Integration und auf diese Weise ein Stück weit Heilung – durch Landschaft. Die „regionale Stadtlandschaft“ oder auch die „Stadt als Park“ nimmt Formen an und wird sich zur IGA 2027 mit weiteren „Zukunftsgärten“ präsentieren.

Das beliebte Entwicklungs-Vehikel der Festivalisierung funktioniert offenbar auch hier und lenkt eine neuerliche Verwertung zumindest in kontrollierbare Bahnen: Große Stadtentwicklungsprojekte wie der fast schon mondäne Phoenix-See im Dortmunder Süden (auf dem Areal eines einst über der Emscher errichteten Stahlwerkes) sind abgeschlossen, weitere wie die „Freiheit Emscher“ zwischen Essen und Bottrop sind in Planung. Sie stehen für eine in der Region völlig neue Hinwendung zum Wasser. Aus dem Hinterhof des Reviers soll ein „neuer Vorgarten“ werden.

Es stank zum Himmel

Das war in den achtziger Jahren noch undenkbar. Seit das kleine Flüsschen Mitte des 19. Jahrhunderts zum Abwasserkanal wurde, weil Bergsenkungen zum Beispiel eine unterirdische Entsorgung des Grubenwassers unmöglich machten und sich auch die Bevölkerung in nur 50 Jahren versechzehnfacht hatte, stank die Emscher zum Himmel. Überflutungen führten 1901 und 1902 zu schweren Typhus-Epidemien in den angrenzenden Siedlungen. Preußische Ingenieure setzten darum auf die weitere Regulierung: Deiche und Zäune sperrten die toxische cloaca maxima aus, die erst an der Mündung später ein Klärwerk durchlief, um „Vater Rhein“ (den lange Zeit schmutzigsten Fluss Westeuropas) zu entlasten.

Langer Widerstand der Montankonzerne

Die zum Zwecke der Regulierung des „Schmutzwasserlaufs“ gegründete Emschergenossenschaft blieb dem hygienischen Geist noch sehr lange treu. Noch Mitte der Achtziger, als „grüne“ Ideen zur Renaturierung aufkamen, verweigerte man sich im Schulterschluss mit den Montankonzernen einem Umbau des technisch bewährten Systems. Verschärfte Abwasservorschriften und Zuschüsse von Land und EU gaben schließlich den Ausschlag, Anfang der Neunziger die „Abwasserfreiheit“ der Emscher anzugehen.

Grün-blaue Infrastruktur

83 Kilometer bis zu vierzig Meter tief verlegte Rohre, deren Querschnitt Platz für einen Kleinwagen böte, sowie drei neue Klärwerke entsorgen heute die Abwasserfracht, und über einhundert Pumpwerke bewahren die Region mit einem Riesenaufwand davor zu versumpfen – bekanntlich eine „Ewigkeitsaufgabe“, denn vierzig Prozent des Emscher-Einzugsgebietes haben sich durch den Bergbau um bis zu zehn Meter gesenkt.

Auch wenn die grün-blaue Infrastruktur heute natürlich erscheint, handelt es sich also um „Industrie-Natur“, eine Folgelandschaft, die ihre Geschichte mancherorts dann doch nicht leugnet, ja wirkungsvoll inszeniert, etwa in den bewahrten Industrie-Dinosauriern. Darin ist die Emscherregion längst Vorbild für andere Rostregionen.

Mit der Schönheit kommt die Angst vor Verdrängung

Nicht leugnen lässt sich indes auch, dass der Strukturwandel längst nicht alle in der Region mitnimmt: 76 Prozent der Kinder und Jugendlichen in der Emscherzone leben noch immer in benachteiligten Quartieren (im gesamten Ruhrgebiet nur 59 Prozent). „Mit der Schönheit kommt die Angst“ überschrieb die Süddeutsche Zeitung einen Artikel über die „Emscher 3.0“: Angst vor der Verdrängung durch die schönen neuen Vorzeigequartiere. Die „Stadt im Park“ ist ein Leitbild für die Besserverdienenden, und Grün heilt längst nicht alle Probleme der Region.

Eine Bilanz nach dreißig Jahren Umbau einer Region

Die Emschergenossenschaft ist unter dem Druck vor allem ihrer kommunalen Mitglieder dem grünen Zeitgeist gefolgt und ist vom Blockierer zum Motor der Veränderung geworden. Sie vertritt auch den Standpunkt, dass der milliardenschwere Umbau der Infrastruktur (und damit auch die Vergesellschaftung der Bergbaufolgeschäden) letztlich im Kontext des heutigen Abwasserrechtes alternativlos war und auch wirtschaftlich ist.

Als vorläufige Bilanz des Umbaus hat die Genossenschaft dieses aufwändig gestaltete Buch in Auftrag gegeben. Es vereint Beiträge der beteiligten Fachleute und Kommunalpolitiker, aber auch ein paar Texte unabhängiger Autorinnen und Wissenschaftler. So lässt FAZ-Korrespondent Reiner Burger die 170 Jahre Um- und Rückbau kenntnisreich Revue passieren und legt etwa die Widerstände offen, die lange den Wandel blockierten.

Vom Emscher-Kongress im März 2022 gibt es lesenswerte Keynotes, vor allem vom Soziologen Heinz Bude, der vor der „trügerischen Idylle“ des Leitbildes Stadt im Park warnt. Tatsächlich gebe es in der traditionell so zerstückelten Region nach dem Wegfall der identitätsstiftenden Großbetriebe weiter ein „Bindungsproblem“. Die Menschen müssten sich in den neuen Architekturen auch wiederfinden. Hier gibt es sicher, gerade für die planende Zunft, noch viel zu tun.

Großzügig bebildert, gut gestaltete, lesenswerte Texte

In der Aufmachung wechseln Pläne und Grafiken mit vielen groß aufgezogenen Luftbildern, aber auch lebensnahen Fotos, besonders frappierend im Vergleich vorher/nachher. Beim Lesen etwas hinderlich sind die vertikal gestellten Erläuterungen und die grafischen Spielchen mit den gedehnten Überschriften. Der viele aber immer wieder akzentuierte Text ist auch stilistisch meist gut lesbar, teils selbstkritisch und, da wenig fachchinesische Verlautbarung, auch für ein breiteres Fachpublikum verständlich. Empfehlenswert und eine gute Vorbereitung auf einen Besuch in der doch immer noch unübersichtlichen Region.


Buchcover Die neue EmscherIm Ruhrmuseum in der Zeche Zollverein in Essen ist noch bis zum 16. April 2023 die Fotoausstellung „Die Emscher. Bildgeschichte eines Flusses“ zu sehen.

Uli Paetzel, Dieter Nellen, Stefan Siedentop, Emschergenossenschaft (Hg.)
Emscher 20/21+: Die neue Emscher kommt
Sozial-ökologischer Umbau einer regionalen Stadtlandschaft
Jovis, 2022
328 Seiten, 55 Euro

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