Wer macht das Spiel?
Text: Myrta Köhler
CAD-CAM, BIM, 3D-Scanner – längst ist der digital turn im Architekturbüro angekommen. Was bedeutet das für das Berufsbild des Architekten? Mario Carpo, Professor für Geschichte und Theorie der Architektur an der Yale University, der École d’Architecture de Paris-La Villette und am Georgia Institute of Technology, blickt in seiner faszinierenden Analyse nicht nur nach vorne, sondern auch zurück. Sein nun auf deutsch erschienenes Buch Alphabet und Algorithmus. Wie das Digitale die Architektur herausfordert bettet die digitale Revolution in einen historischen Kontext ein – und konstatiert dabei strukturelle Ähnlichkeit mit Arbeitsweisen des Mittelalters.
Der albertianische Autor
Drei Zeitalter dienen als chronologisches Gerüst der Ausführungen: das der manuellen, das der mechanischen, und das der digitalen Produktion. Mit Bezug auf die jeweiligen Notations- und Fertigungsmethoden untersucht Carpo ausgehend von der albertianischen Wende das Bild des Architekten in seiner Funktion als Autor.
Vor dem 15. Jahrhundert war Bauen ein anonymer, kollektiver Prozess. Alberti plädiert für eine Autorenschaft im Sinne des Entwerfens – für die Anerkennung „geistigen Eigentums“ avant la lettre. Der Architekt wird zum „Autor“ eines Entwurfs, der von anderen ausgeführt wird. Dabei stellte sich die Frage nach der angemessenen Art der Notation. Reproduktionen von Zeichnungen sind unzuverlässig, Beschreibungen erfolgen meist verbal oder durch Zahlenangaben: Ein legendäres Beispiel ist Albertis Descriptio urbis romae, eine digitale Karte Roms, bei welcher der Entwurf als Matrix fungiert.
Alberti verpasste nur knapp die Revolution des Buchdrucks, der, ebenso wie später das industrielle Zeitalter, die Produktion notational identischer Kopien ermöglichte. Es ließ sich allerdings nur fabrizieren, was zuvor notiert worden war: Entwurf und Umsetzung waren also voneinander getrennt. Die digitalen Methoden könnten das Ende dieses „notationalen Flaschenhalses“ bedeuten. Heute ist jeder Entwurf von Anfang an informationsbasiert und kann somit auch sofort umgesetzt werden. Die neuen Werkzeuge, so Carpo, sind Hammer und Meißel dabei ähnlicher als der Entwurfszeichnung. Traditionelle Notationsformen wie Grundriss, Ansicht und Schnitt hätten demnach ausgedient – ebenso wie Albertis Konzept der Autorenschaft.
Digitaler Prometheus
Im jüngsten Fin de Siècle, das vom 9. November 1989 bis 11. September 2001 dauerte, verschmolzen Computerrevolution und Euphorie der Finanzmärkte. Fukuyama spricht in Anlehnung an Nietzsche von einem Universum der „Männer ohne Brust“: Der Mangel an Krieg wurde mit Heldentum im finanziellen Sektor kompensiert. In der Architektur verbanden sich technologische Möglichkeiten mit dem Wunsch nach fließenden Formen zu einer Theorie der mathematischen Kontinuität – das Guggenheim Bilbao ist emblematisch für die neue Art des Bauens. Doch Finanzblase und architektonischer Blob basieren auf den gleichen Werkzeugen. Auch Architektur war immer „von aufgeblasenen Egos und Größenwahn geprägt“, so Carpo – durch die „digitale Übermenschlichkeit“ wurde das System nur erweitert.
Die CAD-CAM Verfahren der 1990er Jahre basierten meist auf proprietären Netzwerkumgebungen. Heutige Technologien ermöglichen wieder kollektives und anonymes Bauen; hinsichtlich der Open-Source-Systeme verweisen Medienforscher auf Ähnlichkeiten mit einem Basar oder der gotischen Kathedrale. Derartige Systeme untergraben aber das von Alberti etablierte Bild des Autors. Vor dem Hintergrund von Web 2.0 und dem neuen partizipativen Ansatz stellt sich die Frage: Wer ist denn nun der Autor wovon?
Building on Demand
Carpo skizziert einen architektonischen Scheideweg anhand der Gegenüberstellung von Objektil und Objekt. Das Objektil als mathematischer Algorithmus enthält eine unendliche Anzahl von Objekten – Carpo verweist zur Verdeutlichung auf ein Computerspiel, dessen Regeln zwar von einem Designer festgelegt wurden, dessen Verlauf aber von jedem Spieler individuell gestaltet wird. Die beiden Begriffe definieren also die Grundprinzipien nicht-standardisierter, individualisierter Massenproduktion.
Nicht-standardisierte Verfahren werden durch Algorithmisierung von Technologien wie CAD oder BIM ermöglicht. Dabei können, ebenso wie ursprünglich bei der handwerklichen Bearbeitung, individuelle Gegebenheiten berücksichtigt werden. Durch genaue Berechnung der Lastverteilung und dreidimensionale geometrische Notation lässt sich beim Fertigungsprozess überflüssiger Materialverbrauch vermeiden. In einer Zeit der Ressourcenverknappung könnte Bauen im Sinne einer On-demand-Produktion somit auch wieder soziale Verantwortung bedeuten.
Carpo stellt in seiner lesenswerten Publikation die interessante These auf, dass die digitalen Revolutionäre von heute die eigentlichen Konservativen seien. Auf fachlich fundierte Weise schildert er dabei die Veränderung des Konzepts architektonischer Autorenschaft über mehrere Epochen, immer unter Bezugnahme auf die jeweiligen Notationsmethoden. Mit Alberti hat der Autor von identischen mechanischen Kopien den generischen Autor abgelöst, dessen Erzeugnisse auf dem Prinzip der Ähnlichkeit beruhen. Dieses albertianische Paradigma wird mit dem digital turn umgekehrt. Carpo fordert eine „zweite, digitale Postmoderne“ und stellt die Architekten vor die Wahl: Wollen sie sekundäre Autoren im Sinne von Kunden und Mitspielern sein – oder als generische Autoren das Spiel entwerfen?
Mario Carpo
Alphabet und Algorithmus. Wie das Digitale die Architektur herausfordert
Aus dem Englischen übertragen von Jan Bovelet und Jörg H. Gleiter, herausgegeben von Jörg H. Gleiter
transcript, Bielefeld 2012
210 S., kart., 22,80 €