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Rainer Müller Wege zur neuen Stadt Ein Reiseführer zu den Elbinseln und den Projekten der IBA Hamburg Klartext-Verlag, 9 Euro, 240 Seiten

[ Bauausstellungen ]

Reif ist die Insel

Zersiedelt wie kein anderer Stadtteil in Deutschland, belastet, überflutet - die bizarre Elbinsel Hamburg-Wilhelmsburg war lange Zeit abgeschrieben. Doch Bewohner und Impulse wie die IBA bringen neue Hoffnung

Text: Nils Hille

Mischgebiet: Wilhelmsburg ist Wohnquartier, Grünland, Verkehrsknotenpunkt, Hafen, Industrie- und Bunker-Standort (hinten rechts). All das in Einklang zu bringen, ist mehr als genug Arbeit für eine IBA. Foto: IBA Hamburg GmbH

Freiwillig ist hier damals niemand hingezogen. Auch Familie Dreshaj aus dem Kosovo nicht. Als Mutter Ljiljana und Vater Qazim 1993 mit ihren beiden Töchtern Sofija und Suzana nach Wilhelmsburg umsiedelten, hatte das rein praktische Gründe: Die Mieten waren für Hamburg sehr günstig, denn der Ruf des Stadtteils war schlecht. Das hat auch mit dem verwirrenden Bild zu tun, das Wilhelmsburg noch heute abgibt. Wer sich mittendrin einmal im Kreis dreht, sieht Hochhaussiedlungen, Pflanzenzucht-Betriebe, Einfamilienhäuser mit Reetdächern, ein Naturschutzgebiet, Neubauten, Industrie, Schnellstraßen und Hafenkräne. Hamburgs Bürgermeister Olaf Scholz spricht von einem „metropolitanen Patchwork“. Dessen Bild sei so schillernd, dass bei vielen nichts Charakteristisches hängen bleibe, berichtet IBA-Geschäftsführer Uli Hellweg: „Jeder Weg vom Zentrum nach Süden führt hier durch. Aber viele merken gar nicht, dass sie durch Wilhelmsburg fahren.“

Wilhelmsburg ist die Extremform dessen, was der Stadtplaner Tom Sieverts als „Zwischenstadt“ bezeichnet – kein Drinnen und kein Draußen, alles da: vom Altbauviertel über die Logistik-Wüste bis zum Naturschutzgebiet, aber das meiste in schroffem Kontrast zu seinen jeweiligen Nachbarn. Wilhelmsburg ist nach Manhattan die zweitgrößte bewohnte Flussinsel der Welt und mit 35 Quadratkilometern der größte Stadtteil Hamburgs. Aber wegen der Zerstückelung, der Industrie- und Hafengebiete und des Grüns leben hier nur rund 50.000 Menschen.

Flutkatastrophe: Als 1962 bei einer Sturmflut die Deiche brachen, starben in Wilhelmsburg rund 300 Menschen. Foto: Gerhard Pietsch
Elbinsel: Wilhelmsburg ist Europas größte Flussinsel – von Straßen, Bahntrassen und Kanälen zerschnitten und lange Ablade-Ort für alles, was Hamburger anderswo nicht haben wollten. Karte: Google Maps

Wilhelmsburg muss mit starken Dämmen vor Hochwasser geschützt werden. Die Sturmflut von 1962 ist eine nicht nur in Hamburg unvergessene Katastrophe. Sie überflutete die Insel – 300 Menschen kamen ums Leben, 12.000 wurden obdachlos. Danach wurde lange diskutiert, ob die Insel überhaupt noch Siedlungsgebiet sein sollte. Wilhelmsburg blieb es, aber mit neuen Belastungen durch Raffinerien und eine Kupferhütte, die Giftmüll-Deponie Georgswerder, Schnellstraßen und die aus heutiger Sicht misslungene Trabantenstadt Kirchdorf-Süd. Einzig nennenswerte Verbesserung war der Bau der S-Bahn.

Bürgermeister Scholz spricht heute von „unserem buntesten Stadtteil“. Das meint er baulich und sozial. Wilhelmsburg war und ist ein Stadtteil der Nischen, die auch die Dreshajs aus dem Kosovo genutzt haben. Für die Eltern fand sich eine neue berufliche Chance in einer Diskothek, die sie betreiben konnten. Doch die Probleme des Viertels wurden schnell deutlich. Und vier Fünftel der Kinder sprachen schlechter Deutsch als ihre, um deren Bildung sie sich frühzeitig bemüht hatten. Die Lehrer waren überfordert, die jungen Dreshajs stark unterfordert. Auch bei den Eltern kam schnell Frust auf, wie sich Mutter Ljiljana erinnert: „Die Diskothek immer nur auf- und zuzuschließen machte uns keine Freude. Wir wollten in unseren Räumen mehr mit den Menschen zu tun haben und uns auf die Arbeit freuen. Doch da fehlten die Kontaktpunkte, wie eigentlich überall in Wilhelmsburg.“


Sommergenuss: Der von Familie Dreshaj (kl. Foto, rechts) am ­Ernst-August-Kanal eingerichtete Biergarten ist ein Symbol für Selbsthilfe, für die Nischen-Potenziale Wilhelmsburgs und für den wachsenden Mut zu privaten Investitionen. Foto: Dreshajs

Familie Dreshaj  Foto: Dreshajs

Leuchtende Augen und ein breites Lächeln zeigen die Dreshajs heute, wenn sie über „ihr“ Wilhelmsburg erzählen. Mittlerweile fühlen sie sich in dem Stadtteil zu Hause und „wollen nie wieder weg“, wie sie sagen. Sie haben ihre Kontaktpunkte gefunden und auch selbst geschaffen. Wo am Ernst-August-Kanal früher wildes Gestrüpp wucherte, betreiben sie jetzt einen Biergarten, der sich im Sommer großer Beliebtheit erfreut. Nebenan im Fährhaus haben sie mit viel eigenem Geld ein gemütliches Weinbistro eröffnet – aus ihrer Sicht eine „sinnvolle Zukunftsinvestition“.

Das Engagement der Dreshajs ist eines von vielen Beispielen dafür, dass die Wilhelmsburger selbst immer mehr an ihren lange Zeit vergessenen Stadtteil glauben, der so zentral in der Hansestadt liegt, dass er sogar zum Bezirk Mitte gehört. Und dieses Selbstbewusstsein ist eines von vielen Anzeichen dafür, dass sich hier einiges verändert hat und auch noch verändern wird – nicht zuletzt durch die Internationale Bauausstellung (IBA) und die Internationale Gartenschau (IGS) in diesem Jahr. Schon vor rund zehn Jahren hatten engagierte Bürger ein Weißbuch geschrieben. Dieses und das politische Leitbild „Sprung über die Elbe“ im Jahr 2004 brachten neue Bewegung. IBA und IGS sollen mit ihren Projekten für den notwendigen neuen Aufschwung sorgen und Wilhelmsburg zukunftsfähig machen.

Früher platzierte Hamburg in dem Stadtteil alles, was es irgendwo loswerden, aber anderswo nicht haben wollte – vom Dioxin bis zum Billigwohnbau. Doch heute ist Wilhelmsburg als Entsorgungs-Insel zu schade. Hamburg wächst und hat den zentralen Leerraum entdeckt. Schon befürchten Bewohner und Sympathisanten den Verlust der Nischen und Freiräume. Aber da es noch viele Flächen gibt und Nutzungskonflikte anhalten, dürften sich Veredelung und Verteuerung in Grenzen halten.

Über die aktuelle Entwicklung freuen sich Wilhelmsburger wie die frühere Senatorin für Stadtentwicklung Herlind Gundelach: „Auch ohne die internationalen Schauen würde sich der Stadtteil sicher weiterentwickeln, aber das würde einige Jahrzehnte länger dauern. Und es gibt jetzt Handlungsbedarf.“

Vor fünf Jahren ist Gundelach nach Wilhelmsburg gezogen. Und wer ihr begegnet, vermutet den Wohnsitz der schicken, höflichen Dame eher im edlen Blankenese.Doch sie hat sich für den Neubau eines Niedrigenergiehauses auf der Elbinsel entschieden. Damit wohnt sie ganz in der Nähe der Wilhelmsburger Mühle von 1875. Ab und zu wird hier heute noch Korn gemahlen. Im Backhaus nebenan, das gerade – oder, wie Gundelach sagt, „nach sechs Jahren endlich“ ­– entsteht, können Kinder bald lernen, wie Brot gebacken wird. Seitdem das Backhaus zu den IBA-Projekten gehört, geht es voran. In der nahe gelegenen Schule „Tor zur Welt“, die bald fertiggestellt sein soll und sich vor allem aus verschiedenen schon bestehenden Schulen zusammensetzt, wächst der Nachwuchs heran. Und der kann hier, wo wenig Verkehr herrscht, noch auf der Straße spielen.

So nah und doch so fern

Inseltour: Die frühere Senatorin Herlind Gundelach bietet Radtouren durch Wilhelmsburg an – hier begleitet von IBA-Geschäftsführer Uli Hellwig (links). Foto: Kai Dietrich/IBA Hamburg GmbH

Das alles ist die dörfliche Facette von Wilhelmsburg. Der Stadtteil in der Außenwahrnehmung war lange Zeit extrem unbeliebt. Doch die vielen neuen Projekte haben schon in den vergangenen Monaten immer mehr Hamburger nach Wilhelmsburg reisen lassen. Gundelach bietet hier regelmäßig Radtouren an, die schon mal fünf Stunden dauern können, um die gesamte Vielfalt abzubilden. Sie erzählt kopfschüttelnd und mit einem Lachen: „Viele Hamburger von nördlich der Elbe dachten, sie bräuchten für die Anreise anderthalb Stunden. Dabei sind es mit der S-Bahn aus dem Zentrum nur drei Stationen und gerade mal acht Minuten“. Seitdem die Behörde für Stadtentwicklung und Umwelt hier das Wohnen von Studenten fördert, hat sich zumindest bei den Jüngeren der Blick auf Wilhelmsburg zum Positiven verändert. Gerade wegen der Nähe zur Innenstadt seien viele von ihnen auch nach ihrem Hochschulabschluss hier wohnen geblieben und lebten jetzt mit Partner und Kind im Viertel, wie Gundelach erzählt und die Dreshajs-Töchter von ihren Kommilitonen berichten. Auch sie selbst bleiben hier. Trotz guter Studiensabschlüsse und Auslandsaufenthalten wollen sie sich jetzt verstärkt um die Gastronomie der Eltern kümmern. „Hier werde ich morgens fröhlich vom Bäcker begrüßt, wenn ich Brötchen hole, und abends habe ich weniger Angst, allein durch die Straßen zu laufen als am Hauptbahnhof, auch wenn hier nicht alles so stark beleuchtet und überwacht ist“, sagt Sofija Dreshaj. Durch die neue, gut ausgebildete Generation könnte sich Wilhelmsburg positiv entwickeln. Doch der hohe Anteil von Kindern mit Migrationshintergrund und zu große Klassen schrecken viele von draußen noch ab. Gundelach bittet um Geduld: „Geben Sie Wilhelmsburg mal noch zehn Jahre. Ein Stadtteil, den alle als ‚in‘ bezeichnen, wird er sicher nie werden. Aber das Dorf in der Stadt, wie ich Wilhelmsburg gerne bezeichne, wird sich sehr positiv verändern.“

Rainer Müller Wege zur neuen Stadt Ein Reiseführer zu den Elbinseln und den Projekten der IBA Hamburg Klartext-Verlag, 9 Euro, 240 Seiten. Cover: Klartext-Verlag

Das glaubt auch der ehemalige Pastor Hildebrand Henatsch. Er lebt seit 35 Jahren hier und hat sich seitdem für „ein besseres Verständnis und Miteinander von Deutschen und Ausländern eingesetzt“, wie er sagt. Für die damals zahlreichen Arbeitslosen entwickelte er zunächst kleine Freizeitangebote. Mittlerweile sind daraus große Projekte entstanden, die neue Jobs vermitteln. Wenn Henatsch von Wilhelmsburg erzählt, dann spricht er auch von einem „Ort der Gegensätze“. Um diesen zu erleben, empfiehlt er jedem Besucher Wilhelmsburgs „mal mit der 13 zu fahren“. Die Buslinie verbindet tagsüber im Fünfminutentakt die wichtigsten Punkte des Stadtteils. Die verschiedenen Facetten zeigen sich beim Blick nach draußen und anhand der Menschen im Inneren. Und von der Endhaltestelle, der S-Bahn-Station Veddel, sind es nur zwei Stationen zum Hauptbahnhof – das lernen die Hamburger gerade.

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