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Foto: Raimond Spekking / CC-BY-SA-3.0 (via Wikimedia Commons)

Platztod: Wer mit dem Auto grüne Welle hat, schafft Kölns Alstadt in 90 Sekunden. Die Fläche im Zentrum des Neumarkts heißt "Mittelinsel". Foto: Raimond Spekking / CC-BY-SA-3.0 (via Wikimedia Commons)

[ Schwerpunkt: City und Vorstadt ]

Lob der Hauptstraße

Einst waren sie die Lebensadern der Stadt, heute sind viele Hauptstraßen zu Autopisten degeneriert. Doch sie bieten größte Potenziale für mehr Urbanität.

Text: Harald Bodenschatz

Lebendige Hauptstraßen sind Aushängeschilder der Städte. An ihnen liegen die bedeutendsten Gebäude und Einrichtungen, sie stiften Identität, hier ballt sich der Stolz der umliegenden Stadtteile. In großen Städten bilden sie außerhalb der Zentren oft die wichtigsten Gliederungs- und Orientierungsräume. Doch meist sind die Hauptstraßen längst nicht mehr das, was sie einmal waren: pulsierende Kraftlinien der Stadt. Sie haben heute einen schlechten Ruf: Hier herrscht meist das Automobil und damit Stress, Lärm und Feinstaub. Erstklassige Adressen sind zu drittklassigen geworden. Wer lebt denn noch gerne in den Prachtwohnungen der Hauptstraßen? Wer geht dort begeistert einkaufen? Wer flaniert voller Freude neben den vielen Autos?

Die große Zeit der Hauptstraßen ist vorbei, ihre Gegenwart ist grau, aber sie haben eine Zukunft: Nicht nur andere Autos und mehr Fahrräder werden unsere Hauptstraßen gründlich verändern, sondern auch die Richtlinien der Europäischen Union zu Feinstaub und Lärm. Dazu kommt, dass die Bauten der autogerechten Stadt in die Reparaturjahre gekommen sind. Für diese Reparaturen gibt es auch Geld, oft mehr als für die Stadtentwicklung. Wir müssen all diese Chancen nutzen.

Aufstieg und Fall

Hauptstraßen gibt es in der europäischen Stadt seit der Antike. Rom, die Mutter aller Großstädte, wird noch heute durch 2.000 Jahre alte Straßen wie die Via Aurelia, die Via Flaminia oder die Via Salaria gegliedert. Während der Industrialisierung veränderten viele Hauptstraßen Europas ihr Gesicht, und neue entstanden – oft an den früheren, jetzt urbanisierten Landstraßen. Rathäuser, Geschäfte, Gastwirtschaften, Kultureinrichtungen, Kaufhäuser und Banken prägten ihr Bild. Hier entfaltete sich der moderne Massenverkehr – Pferde-Omnibusse, Straßenbahnen und Droschken. Diese Straßen wurden zur prächtigen Bühne des neuen Bürgertums, dort wurde gewohnt, gearbeitet, eingekauft,
gespeist und flaniert. Paris mit seinen neuen Boulevards war das viel bewunderte Vorbild.

Die Bolkerstraße in der Düsseldorfer Altstadt
Straßenleben: Vielerorts gibt es noch mehr Potenzial für urbandes Leben als auf der Bolkerstraße in Düsseldorf. Bisher wird es meist von Autoverkehr unterdrückt. Foto: Düsseldorf Marketing und Tourismus GmbH

Nach dem Zweiten Weltkrieg verloren die Hauptstraßen ihre Attraktivität. In den kleinen Städten und Gemeinden wurden sie dem Durchgangsverkehr geopfert. In den großen Städten wurden sie zu Autopisten. Straßenbahnen wurden eingestellt, Grünanlagen mussten Parkplätzen weichen, das Leben entlang der Straßen wurde immer unattraktiver. In jüngster Zeit haben auch noch Großbauten der Post und Kaufhäuser ihre Funktion verloren. Zwar wurden in den Kernen von Städten und Stadtteilen viele dieser Straßen zu Fußgängerzonen umgebaut. Aber das machte sie zu monofunktionalen Konsumstraßen und degradierte andere zu Zubringern. In der Außenstadt mutierten Hauptstraßen oft zu Verkehrshöllen. Das Wort „Ausfallstraße“ sagt alles über die Wertschätzung von Radialen.

Chancen einer Renaissance

Doch in jüngerer Zeit gibt es mehr und mehr „Rückbau“ von Fahrbahnen und Parkplätzen – zugunsten von Fußgängern, Fahrradfahrern und Anwohnern. Vor allem in den Ortskernen kleiner Städte und Gemeinden finden sich zahlreiche Beispiele für eine Wiederbelebung. Auch in den Zentren der größeren Städte ist dieser Prozess bereits fortgeschritten. Ein großer Versuch startete in Bochum mit einem Gestaltungskonzept für die „Cityradialen“ (Dokumentation der Rahmenplanung 2004). Allerdings geschieht ein Rückbau meist nur dann, wenn neue Umgehungs- oder Entlastungsstraßen den Umbau erleichtern. Richtig hart wird es erst, wenn Autofahrern nichts Neues, Rascheres geboten wird. Dort wird es erst Bewegung geben, wenn mit der Förderung einer neuen, nachhaltigeren Mobilität Ernst gemacht wird. Die drei folgenden Beispiele liegen zwischen der alten „Entlastung“ durch zusätzliche Straßen und der radikalen Verminderung von Autoverkehrsfläche ohne Ersatz an anderer Stelle: Es sind Versuche, Kompromisse zwischen dem Wunsch nach mehr Stadt und dem fortbestehenden Druck des Autoverkehrs zu finden.

Wendelstein ist ein Kleinzentrum bei Nürnberg mit knapp

16.000 Einwohnern. In der Kaiserzeit wurde die Hauptstraße des Altortes prachtvoll ausgebaut, erhielt ein neues Rathaus und einen „Schönen Brunnen“. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde sie an den lawinenartig zunehmenden Durchgangsverkehr angepasst. Die beiden Eingangsbereiche in den Altort wurden weit aufgerissen. Gegen die Zerstörung ihres Lebensraums protestierten schließlich viele Bürger. Mit der Aufnahme in das Städtebauförderungsprogramm 1985 startete der Markt Wendelstein ein behutsames Stadterneuerungsprojekt. Auftakt und Schlüsselvorhaben war die Umgestaltung des belasteten Hauptstraßenzuges. Für den fließenden und ruhenden Verkehr gab es neue Regeln; die beiden aufgerissenen Eingangsbereiche wurden neu gestaltet und der gesamte Hauptstraßenzug erhielt ein neues, fußgängerfreundlicheres Profil. Heute ist die Hauptstraße attraktiv für Geschäfte und Gastronomie, und weitaus weniger Autos durchfahren sie. Allerdings wurde sie durch eine Staatsstraße entlastet. Die erneuerte Hauptstraße bietet auch dem jetzt Alten Rathaus und dem „Schönen Brunnen“ wieder eine würdige Bühne. Sie ist nunmehr wieder die Mitte und der Stolz Wendelsteins.

Bottrop: Parkplätze statt Bäumen

Die kleine Großstadt Bottrop im Ruhrgebiet ringt heute um eine postindustrielle Zukunft. Dazu gehört eine attraktivere Stadt, vor allem in ihren Hauptstraßen und Plätzen. Die Osterfelder Straße verbindet das Zentrum mit einer Autobahn. In der Allee sollen jetzt außerhalb des Zentrums breitere Gehwege, separate Radspuren in beide Richtungen, aber 43 zusätzliche Parkplätze für Anwohner geschaffen werden – doch Letzteres zulasten von 56 großen alten Alleebäumen. In einer Umfrage hatten sich Anwohner zuvor beides gewünscht – sowohl Bäume als auch Parkplätze. Möglich ist aber offenbar nur eines. Gegen das Fällen der Bäume wurden später 1.750 Unterschriften gesammelt. Doch nach lebhaften Auseinandersetzungen stimmte eine Mehrheit im zuständigen Ausschuss schließlich für die Stellplätze und gegen die Bäume.

Berlin: Center und Stadtraum

Die Schloßstraße im Südwesten von Berlin ist Teil des einstigen Königswegs nach Potsdam und der späteren Reichs- und Bundesstraße 1. Während der Spaltung der Stadt bildete sie sich als verkehrsreiche und monotone Einkaufsmeile hoher Kaufkraft heraus. Außerdem entstanden dort städtebauliche Marksteine der Nachkriegsmoderne: das Hochhaus Steglitzer Kreisel, die Restaurant-Skulptur „Bierpinsel“ und drei Plätze, die allesamt nicht als Stadtplätze funktionierten. In geringem Abstand entstand in den 1960er- Jahren eine parallele Stadtautobahn, doch auf der Schloßstraße änderte sich nichts – im Zuge des U-Bahn-Baus wurde sie sogar noch mehr auf Autogerechtigkeit getrimmt. Fußgänger drängelten sich auf schmalen Pfaden entlang der Schaufenster. In den letzten Jahren wurden hier vier Einkaufszentren neu- oder ausgebaut, die die Passanten aus dem unattraktiven Stadtraum nach drinnen saugten. Doch nach jahrzehntelangem Ringen erhielt die Straße jetzt endlich ein neues Profil. Es wurde – und das ist gut so – keine Fußgängerzone geschaffen, aber den Gehenden bedeutend mehr Raum gegeben. Auch die Fahrradfahrer erhielten eine Spur; dem Autoverkehr ist in jeder Richtung eine verblieben. Auch wenn es Kinderkrankheiten gibt, vor allem mangelnden Respekt gegenüber den Fahrradspuren und weiterhin viel Durchgangsverkehr, ist die Veränderung spürbar und die Straße angenehmer geworden. Für die zahlreichen Berliner Radialstraßen hat eine Gruppe von Fachleuten (einschließlich des Autors) das Konzept „Radikal Radial!“ zur Diskussion gestellt, das aus stadtentwicklungspolitischen Gründen die Reurbanisierung dieser Straßen fordert. Das Konzept soll dreierlei Impulse schaffen: Es stärkt neben den Hauptstraßen selbst auch die Viertel dahinter, es verbindet Innen- und Außenstadt und festigt so die gesamte Großstadt und ihre Region.

Olympische Urbanisierung

Die Zukunft der Hauptstraßen ist ein internationales Thema. Von Paris über Madrid bis Los Angeles wird an ihrer Reurbanisierung gearbeitet. Besonders beachtenswert ist London. Dort hat Bürgermeister Boris Johnson die Initiative ergriffen, die High Streets (so heißen die Hauptstraßen in England) aufzuwerten. Ein Modellprojekt ist die sogenannte High Street 2012. Sie vernetzt die Londoner City mit den olympischen Wettkampfstätten. Um sie als facettenreichen Querschnitt durch den Londoner Osten zu inszenieren, wurden die Aufenthaltsqualität für Fußgänger erhöht und Besonderheiten der Stadtteile entlang der Straße hervorgehoben: Der Straßenraum erhielt ein neues Profil und wurde durch Grünanlagen aufgewertet, historische Gebäude wurden erneuert, Straßenmärkte attraktiver gestaltet. Lokale Initiativen erhielten Unterstützung, sodass die kulturelle Vielfalt der angrenzenden Gebiete jetzt stärker sichtbar ist. London will auch nach den  Olympischen Spielen die knapper werdenden Mittel für öffentliche Räume und neue öffentliche Gebäude an den Hauptstraßen konzentrieren.

Ungehobene Schätze

Die Wiederbelebung der Hauptstraßen dient dem großen Ziel der nachhaltigen „Stadt der kurzen Wege“. Die Hauptstraßen mit ihren markanten Gebäuden bieten zudem

Foto: Raimond Spekking / CC-BY-SA-3.0 (via Wikimedia Commons)
Platztod: Wer mit dem Auto grüne Welle hat, schafft Kölns Alstadt in 90 Sekunden. Die Fläche im Zentrum des Neumarkts heißt „Mittelinsel“. Foto: Raimond Spekking / CC-BY-SA-3.0 (via Wikimedia Commons)

bedeutende Identifikationspunkte innerhalb der Stadtregion. Und sie sind eine künftige Adresse für den wachsenden Stadttourismus. Was gerne übersehen wird: Auch an den Hauptstraßen wird immer noch vor allem gewohnt, wenngleich oft stark belastet durch Lärm und Abgase. Das Wohn- und Geschäftshaus war ihr dominanter Bautyp – ein ausgesprochen urbaner Typ, der heute wieder neu interpretiert werden muss. Das Thema ist aber in der Fachwelt noch nicht richtig angekommen, erst recht nicht in der Politik. Die Umgestaltung der öffentlichen Räume im Zeichen einer neuen Mobilität bewegt Landschaftsarchitekten, aber bisher nur wenige Architekten. Doch entlang der Hauptstraßen verbirgt sich ein großes Bauprogramm: Nutzungswandel und Modernisierung vieler Gebäude, der Neubau von Wohn- und Geschäftshäusern und öffentlichen Einrichtungen. Bibliotheken, Volkshochschulen und Familienzentren sollten wieder an den Hauptstraßen konzentriert werden, denn diese sind hervorragend erschlossen und werden intensiv genutzt. Die Wiederbelebung der Hauptstraßen sollte auch in das Städtebauförderungsprogramm eingebunden werden. Vor allem aber müssen die öffentlichen Mittel für die Reparatur der Verkehrsinfrastruktur flexibler genutzt werden können. Die großen Straßen haben größte ungehobenen Potenziale für mehr Urbanität. Und nicht zuletzt sind stärker belebte, begrünte, begangene und anders befahrene Hauptverkehrswege auch ein besonders wirksamer Beitrag zur Energiewende.

Prof. Dr. Harald Bodenschatz ist Architektursoziologe, Stadtplaner und Publizist in Berlin.

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